Im Prozess um die tödliche Attacke auf den Transmann Malte C. am Rande des Christopher Street Day (CSD) in Münster ist am Mittwochmittag ein Urteil gefallen. Das Landgericht in Münster verurteilte Nuradi A. zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Der 21-Jährige hatte die Tat gestanden.
Zudem ordnete das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wie es der Paragraf 64 des Strafgesetzbuchs vorsieht. Der junge Mann hat nicht nur ein offenbar massives Alkoholproblem, sondern löste seine krankhafte Anspannung auch regelmäßig mit Cannabis und der deutlich überdosierten Einnahme des Medikaments Pregabalin, das in Drogen-Kreisen als „Lyrica“ bekannt ist.
Mit dem Urteil und weiten Teilen der Begründung folgte die 21. Große Strafkammer dem Antrag der Staatsanwaltschaft.
Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge
Der Täter wurde angeklagt und letztlich verurteilt wegen Körperverletzung mit Todesfolge, nicht wegen Totschlags oder gar Mord. Schon die Staatsanwaltschaft hatte einen Tötungsvorsatz ausgeschlossen. „Er nahm schwere Verletzungen billigend in Kauf“, hatte Oberstaatsanwalt Dirk Ollech am Dienstag in seinem Plädoyer betont. „Dass er ihn töten könnte, hat der Angeklagte in dem Moment nicht geglaubt.“ Nuradi A. hat bis vor wenigen Jahren regelmäßig Boxen trainiert. Genau dort aber habe er die Erfahrung gemacht, dass die Gegner nach einem K.O. wieder aufstehen.
Ähnlich sah es das Gericht. „Es spricht nichts dafür, dass er den Tod billigend in Kauf genommen hat“, sagte die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Die Körperverletzung sei Vorsatz gewesen, die Todesfolge nach Ansicht des Gerichts fahrlässig.
Kommentar: Kein Mörder
„Er muss von Alkohol und Drogen wegkommen“
Das Urteil, insbesondere die Unterbringung in einer therapeutischen Klinik, hatte die Verteidigung schon im Vorfeld begrüßt. „Er muss von Alkohol und Drogen wegkommen“, hatte Anwalt Siegmund Benecken im Plädoyer am Dienstag formuliert. „Die Erfolgsaussichten sind gut“, attestierte Psychiaterin Martina Redeker am Dienstag in ihrem Gutachten über den Angeklagten.
„Er hat den Hang, Alkohol, Cannabis und Pregabalin im Übermaß zu sich zu nehmen", so die Vorsitzende Richterin – und das, obwohl ihm die negativen Konsequenzen klar seien.
Die Frage nach dem Motiv
Wichtig war auch die Frage nach dem Motiv für die Tat. War es wirklich ein queer-feindlicher Angriff, wie direkt nach der Tat allgemein gemutmaßt wurde? Daran kamen den Prozessbeteiligten an den sechs Verhandlungstagen deutliche Zweifel. „Wir gehen nicht davon aus, dass es das Motiv war, dass Malte C. ein Transmann war“, führte die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung aus. Vielmehr sei es der Einfluss von Alkohol und Drogen gewesen, der Nuradi A. wie schon so oft zuvor aggressiv gemacht habe.
„Wir glauben ihm seine homosexuelle Neigung“
Ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch den Prozess zog, war die nach der möglichen Homosexualität des Täters. Zunächst gegenüber der Gutachterin, später auch eher einsilbig im Gerichtssaal hatte Nuradi A. erklärt, selbst schwul zu sein. Eine Frage übrigens, die in diesem Strafprozess vor dem Landgericht weniger entscheidend ist als in einem parallel beim Verwaltungsgericht laufenden Verfahren um die Abschiebung nach Tschetschenien, die das Bundesamt für Migration angeordnet hat. Gegen den Bescheid war Nuradi A. vorgegangen, mit der Begründung, dass ihm wegen seiner Homosexualität in der Heimat Verfolgung drohe. Das Verwaltungsgericht nahm ihm seine Homosexualität in einem Eilbeschluss nicht ab.
Anders das Landgericht – „obwohl die Kammer anfangs skeptisch war", wie die Vorsitzende Richtern gestand. Ausgesagt hatte unter anderem ein Freund des Angeklagten, der über die intime Beziehung der beiden berichtete.
Darum wurde Nuradi A. nach Jugendstrafrecht verurteilt
Verurteilt wurde Nuradi A. nach Jugendstrafrecht. Das ist bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren unter anderem dann üblich, wenn die Fachleute Entwicklungshemmnisse ausmachen. „Er stand eher einem Jugendlichen gleich als einem Erwachsenen“, hatte der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer gesagt. Nuradi A., zum Zeitpunkt der Tat 20 Jahre alt, wohnte noch bei seiner Mutter und war auch finanziell von ihr abhängig. Die Flucht aus seiner Heimat Tschetschenien und die anschließende schwierige Zeit im Münsterland, wo er sich lange alleine um seinen kleineren Bruder kümmerte, weil seine Mutter mit der kranken Schwester in einer Klinik war, habe ihm die Jugend genommen.
Prozessauftakt nach tödlicher Attacke gegen Malte C.


Ziel des Jugendstrafrechts ist es weniger, die Verurteilten zu bestrafen, sondern sie zu erziehen. „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten“, steht dazu im Jugendgerichtsgesetz. So soll es auch bei Nuradi A. laufen: Statt ihn einfach nur zur Strafe wegzusperren, soll er in passenden Einrichtungen fit gemacht werden für ein „normales“, straffreies Leben.
Anwalt sieht Chance auf erneute Duldung in Deutschland
Anwalt Benecken formulierte bereits in seinem Plädoyer einen weiteren wichtigen Aspekt. Denn aktuell ist der gebürtige Tschetschene „ausreisepflichtig“, wie es offiziell heißt. Das Bundesamt für Migration hat seine Abschiebung angeordnet. Dagegen hat Nuradi geklagt, doch in einem einstweiligen Beschluss hat das Amtsgericht die Beschwerde zurückgewiesen. Sollte sein Mandant sich in der therapeutischen Maßnahme gut führen, sieht Benecken eine Chance auf eine erneute Duldung in Deutschland. Das sei Nuradi A. auch deshalb wichtiger als alles andere, weil er angibt, homosexuell zu sein. Damit drohe ihm in der Heimat Verfolgung.
Anwalt zeigt sich erleichtert
Entsprechend erleichtert zeigte sich Benecken, der Nuradi A. zusammen mit der münsterischen Strafrechtlerin Ulrike Baumann vertrat, nach dem Urteil im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wir hoffen auf den Heilungseffekt, den er auch selber will“. Und er machte auch keinen Hehl daraus, dass Nuradi A. bei erfolgreich absolvierter Therapie möglicherweise nach der Hälfte der Zeit freikommen könne.
Tödliche Attacke auf Malte C. beim CSD in Münster
21. März 2023: Der Prozess neigt sich dem Ende zu. Die Staatsanwaltschaft fordert in ihrem Plädoyer fünf Jahre Haft und Entzug für Nuradi A..
16. März 2023: Im Prozess gegen Nuradi A. werden neue Details zum Tatverdächtigen bekannt. Zudem sagt die Schwester von Malte C. vor Gericht aus.
13. März 2023: Im aktuell laufenden Strafprozess geht es derweil immer wieder um die Frage, ob Nuradi A. selbst homosexuell ist. Für den Angeklagten ist dieses Thema an anderer Stelle von besonderer Bedeutung: Vor dem Verwaltungsgericht klagt er gegen seine Abschiebung.
1. März 2023: Beim dritten Prozesstag vor dem Landgericht hat der beste Freund des Angeklagten ausgesagt. Es war eine hochemotionale Aussage.
24. Februar 2023: Der Prozess gegen Nuradi A. wird fortgesetzt. Mehrere CSD-Teilnehmende schildern den Ablauf der Tat.
13. Februar 2023: Vor dem Landgericht beginnt der Prozess gegen den tatverdächtigen Nuradi A.. Der Angeklagte sagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus.
16. November 2022: Die Staatsanwaltschaft Münster erhebt Anklage gegen einen 20-jährigen Tatverdächtigen. Der Vorwurf lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge sowie Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung.
8. September 2022: Der tödliche Angriff am Rande des CSD in Münster wird Thema im Innenausschuss des NRW-Landtags.
7. September 2022: Nach der tödlichen Attacke erlebt das Boxzentrum Münster Anfeindungen. Der Tatverdächtige hat dort in seiner Jugend das Boxen gelernt.
4. September 2022: Nach dem Tod von Malte C. herrscht nicht nur in Münster Trauer und Entsetzen. Der traurige Vorfall löst ein bundesweites Echo aus. Nach und nach werden zudem Details zum 20 Jahre alten Tatverdächtigen bekannt.
2. September 2022: Nach der Attacke auf den CSD-Teilnehmer Malte C. erliegt dieser seinen schweren Verletzungen. Noch am selben Tag findet auf dem Prinzipalmarkt eine Kundgebung mit 5000 Menschen statt. Ebenfalls am Nachmittag wird ein 20-jähriger Tatverdächtiger festgenommen.
30. August 2022: Nach dem Angriff auf den CSD-Teilnehmer sind Wut, Bestürzung und Anteilnahme in Münster groß. Der Täter ist indes weiter flüchtig.
27. August 2022: Etwa 10.000 Menschen ziehen beim Christopher Street Day (CSD) in Münster durch die Innenstadt. Am Rande der Veranstaltung kommt es zu dem Zwischenfall, bei dem ein Demo-Teilnehmer schwer verletzt wird.
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