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1 Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT)
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3 Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT) Herausgegeben von Angelika Berlejung und Christian Frevel 3. Auflage
4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 3., unveränderte Auflage by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: ISBN
5 Inhalt Vorwort VII Alphabetisch sortierte Lemmaliste des HGANT... XI Dachartikel Christian Frevel: Anthropologie 1 Thomas Hieke: Eschatologie 7 Rainer Kampling: Ethik 12 Ernst Axel Knauf, Jürgen Zangenberg: Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte 17 Bernd Janowski, Klaus Scholtissek: Gottesvorstellungen 25 Reinhard G. Kratz: Kult 31 Klaus Neumann: Kultur und Mentalität 35 Hubert Frankemölle: Schrift / Schriftverständnis 42 Joachim Kügler: Soteriologie 48 Angelika Berlejung, Annette Merz: Sozialstatus / Gesellschaft und Institution 53 Thomas Krüger: Weisheit / Gesetz 60 Angelika Berlejung: Weltbild / Kosmologie 65 Begriffsartikel Glossar Autorenverzeichnis Abkürzungen Namensregister Sachregister
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7 Vorwort Vorwort Mit dem Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT) wird ein neuartiges Nachschlage- und Studienwerk vorgelegt, das unter Mitarbeit international anerkannter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem neuesten Stand der Exegese und Theologie erarbeitet wurde. Das Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament ist nicht nur ein biblisches Fachwörterbuch, sondern auch ein Kompendium Biblischer Theologie. Damit wird dem vielfachen und berechtigten Wunsch entsprochen, die Ergebnisse der Exegese auch für die anderen theologischen Disziplinen aufzubereiten. Das Handbuch bietet aktuelle und umfassende Informationen zu zentralen Themen und Begriffen der Theologie des Alten und Neuen Testaments. Auf dem aktuellen Stand der Forschung wird das von Altertumswissenschaften, Sozialgeschichte, Philologie, Religionsgeschichte, Ikonographie und Exegese in den letzten Jahrzehnten Erarbeitete einbezogen und verständlich dargestellt. Als Ergänzung werden auch neuere traditionsgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen aufgenommen. Ziel ist es, hauptamtlich in der Seelsorge Tätigen, Religionslehrerinnen und -lehrern, Studierenden der Theologie sowie allen theologisch Interessierten und auch Fachkolleginnen wie -kollegen der Theologie und ihrer Nachbardisziplinen den neuesten Stand der Exegese in ansprechender und verständlicher sprachlicher Form zu erschließen. Theologisch relevante Begriffe werden im Kontext dargestellt und in ihrem Sprachgebrauch übersichtlich beschrieben. Dabei stehen Literatur- und Zeitgeschichte sowie die Verbindungslinien zur zeitgenössischen Umwelt im Hintergrund. Häufig finden sich ergänzende Ausführungen zum Gebrauch einzelner Begriffe oder zu theologiegeschichtlichen Entwicklungen in Qumran und Hinweise auf außerkanonische frühjüdische und antike Schriften. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Präsentation der theologischen Aussagen in ihrer Entwicklung und in ihren Kontexten sowie auf der Vermittlung der kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge. Ein weiteres Anliegen der Konzeption ist, dass dabei der sprachliche, inhaltliche und theologische Zusammenhang von Altem und Neuem Testament deutlich wird. Das Handbuch ist in zwei Teilen organisiert, die sich konzeptionell unterscheiden: Der erste Teil bietet einen einleitenden Überblick, der zwölf zentrale Themen der Theologie als Dachartikel essayartig entfaltet. Der zweite Teil ist lexikalisch aufgebaut und präsentiert zentrale Begriffe als Begriffsartikel in kompakter Form: Als Dachartikel dienen ausgewählte Begriffe, die einen bestimmten Diskurs (auch interdisziplinär) oder ein Begriffsfeld repräsentieren oder repräsentativ bestimmen. Die Dachartikel ermöglichen der Leserin und dem Leser einen schnellen Zugriff auf übergreifende Begriffs- und Themenfelder sowie auf aktuelle Diskurse in der Exegese, die in kompakter und verständlicher Form dargestellt werden. In den Dachartikeln werden Altes und Neues Testament in der Regel getrennt behandelt. Wenn diese Trennung dem Gegenstand nicht gerecht wird (Kultur und Mentalität, Schrift/ Schriftverständnis), sind die Artikel inhaltlichthematisch gegliedert. Grundsätzlich ist festzustellen, dass allen Artikeln jeweils eine gesamtbiblische übergreifende Konzeption und Fragestellung zugrunde liegen. Um dies deutlich herauszustellen, werden manche Dachartikel mit einer Vorbemerkung eingeleitet,
8 VIII die Wesentliches für den gesamten Artikel enthält. Die Dachartikel bilden hintereinander gelesen ein Kompendium oder ein kurz gefasstes Lehrbuch der Biblischen Theologie. Jedem Dachartikel ist ein geschlossenes Set von Begriffsartikeln zugeordnet, die im zweiten, lexikalischen Teil in alphabetischer Ordnung dargeboten werden. Die Zuordnung wird jeweils in der Artikelunterschrift angegeben. Als Begriffsartikel dienen ausgewählte signifikante Begriffe, die zum jeweiligen Dachartikel gehören und dazu geeignet sind, das Thema des Dachartikels zu vertiefen. Die Begriffsartikel bieten konzentrierte Informationen zu theologisch relevanten Stichwörtern. Zentrale Spitzenthemen der Biblischen Theologie werden so kompakt erschlossen. - Auch die Begriffsartikel werden in der Regel nach Altem (I. AT) und Neuem Testament (II. NT) unterteilt, wenn es sich sachlich nahe legt. Sie bieten dann zunächst Hinweise auf Lexeme, Wortfelder und den sprachlichen Gebrauch des Begriffs. In den folgenden, arabisch bezifferten Abschnitten (z. B. I.2., I.3. oder II.2.) werden seine Kontexte, Hintergründe und theologischen Entwicklungen bzw. Differenzierungen jeweils im Traditionszusammenhang von AT bzw. NT erläutert. Wenn die Trennung nach biblischen Kanonteilen dem Artikelgegenstand sachlich nicht angemessen ist (z. B. Einheit/Vielheit ), so wird eine inhaltlich-thematische Gliederung vorgezogen. Allen Begriffsartikeln liegen eine gesamtbiblische übergreifende Konzeption und Fragestellung zugrunde. Diese werden in manchen Artikeln durch eine einführende»vorbemerkung«erläutert, in der der übergreifende Zusammenhang oder grundlegende Bemerkungen zum Gesamtartikel vorangestellt werden. Die Begriffsartikel sind durch Verweise (z. B. Abendmahl) eng untereinander und mit dem jeweils zugeordneten Dachartikel vernetzt. Die Begriffsartikel ergeben zusammen mit dem jeweils zugeordneten Dachartikel eine solide Einführung in den Themenbereich, Vorwort der anhand ausgewählter Begriffe durch Spezialwissen erweitert wird. Die Begriffsartikel ermöglichen den leichten Zugriff in kurzer Zeit und bilden für sich allein genommen ein biblisches Fachwörterbuch. Abgeschlossen werden Dach- und Begriffsartikel jeweils durch weiterführende Literaturangaben. Hier ist bewusst auf Vollständigkeit verzichtet worden. Insbesondere die einschlägigen Lexika (z. B. Theologische Realenzyklopädie, Neues Bibellexikon, Biblisch-Historisches Handwörterbuch, Biblisches Reallexikon, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Lexikon für Theologie und Kirche, Religion in Geschichte und Gegenwart, Lexikon für Antike und Christentum, Neuer Pauly u. a.) werden nicht eigens aufgeführt. Die genannten ausgewählten und zentralen Literaturangaben sollen in die weitere Beschäftigung hinein führen. Während griechische Wörter im Text meist neben einer begleitenden Übersetzung auch mit Akzenten wiedergegeben werden, wurde auf den Abdruck hebräischer Zeichen verzichtet. Hebräische und aramäische Wörter werden in vereinfachter Umschrift (angelehnt an E. Jenni, C. Westermann, Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament Bd. 1, München/Zürich 4. Aufl. 1984, XX XXII) dargestellt. So wird auch dem breiteren Adressatenkreis eine ungehinderte Lektüre des Textes ermöglicht. Die Schreibung der Orts- und Personennamen folgt den Loccumer Richtlinien. Das Handbuch wird abgerundet durch Abkürzungsverzeichnisse, ein ausführliches Glossar und ein Namens- und Stichwortregister, das das gesamte Kompendium in beiden Teilen umfassend erschließt. Durch diese Hilfsmittel, wie durch die am Anfang abgedruckte Lemmataliste, die das schnelle Auffinden eines Begriffs ermöglicht, soll die Benutzung des Handbuchs erleichtert werden. Einigen Artikeln sind Abbildungen beigegeben, auf die im Text durch einen Abbildungsverweis hingewiesen wird. Die Quellennachweise zu den Abbildungen finden sich in den Bildunterschriften. Für die Abdruckgenehmigungen der Bilder sind wir vor allem Prof. Dr. Othmar Keel
9 Vorwort sowie Prof. Dr. Wolfgang Zwickel, dem Calwer Verlag, dem Mohr-Siebeck Verlag, dem Beck Verlag, der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz zu großem Dank verpflichtet. Von der Konzeption bis zur Fertigstellung hat dieses Handbuch eine lange und über manche Strecke auch bewegte Geschichte hinter sich. Viele haben sich in den letzten fünf Jahren am Gelingen des Projektes ihren Anteil erworben, wofür wir als Herausgeber aufrichtig Dank sagen möchten. Zu allererst sind die Autoren zu nennen, die spontan das Unternehmen, ein wirklich anderes und neuartiges Kompendium zu schaffen, durch ihre Mitarbeit unterstützt haben. Der Verlag hat das Projekt von Beginn an begleitet. Stellvertretend danken wir dabei vor allem dem Lektor Dr. Bernd Villhauer. Unser besonderer Dank gilt dem engagierten und unermüdlichen Einsatz der Mitarbeiter in Leipzig, Köln und Bochum. Eigene Projekte wurden selbstlos zurückgestellt, um das Handbuch von den Korrekturen über die Abbildungen bis hin zu den Verzeichnissen und Registern gelingen zu lassen. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Jan Dietrich, Johannes Klemm, Miranda de Schepper (Leipzig) sowie Stefan Gathmann, Sabine Jostock, Norá Molnár-Hídvégi und Katharina Pyschny (Köln/Bochum) hätten die beiden Herausgeber die Arbeit kaum meistern können. Mit Hilfe aller Genannten wurde dem vorliegenden Handbuch eine Form gegeben, die uns zuversichtlich macht, dass es über eine lange Zeit vielen auf vielfältige Weise hilfreich ist, sie zu weiterer Lektüre anregt und so interessierte, kritische und wohlwollende Leserinnen und Leser findet. Leipzig/Bochum im Februar 2006 Angelika Berlejung IX Christian Frevel
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11 Alphabetisch sortierte Lemmaliste des HGANT Alphabetisch sortierte Lemmaliste des HGANT (Dachartikel kursiv) Abendmahl/Eucharistie Abgabe/Steuer/Zehnt Ahnen Alt/Neu Altar Alter/Jugend Amt/Charisma Anfang/Ende Angesicht/Schauen Gottes Angst/Furcht/Mut Anthropologie Apokalyptik/Apokalypse Apostel/Jünger Arbeit/Mühe Armut/Reichtum Askese Auferstehung Barmherzigkeit Berg Beschneidung Besitz/Gut/Eigentum Bild Bilderverbot Blut Böse Bote/Sendung/Mission Bund Buße Dämon Dekalog Diaspora Ebenbild Ehe Ehre Ehrfurcht Eigenschaften Gottes Einheit/Vielheit Einsicht End-Gericht Engel Entrückung/Himmelfahrt Erde/Land Erkennen Erlösung Ermahnung/Paränese/Predigt Erstgeburt/Erbe Erwählung Erziehung/Schule Eschatologie Essen/Trinken Ethik Evangelium Ewigkeit Exegese Exil/Verbannung Exodus Familie/Eltern Feind Fest Fleisch/Geist Frau/Mann Freiheit Fremder Freude Fülle Fürbitte Gebet Geburt Gedächtnis/Erinnerung Geduld Geist Gemeinschaft/Individuum Gerechtigkeit Gericht Geschichte/ Geschichtsdarstellung/ Heilsgeschichte Gestirne Gewalt Gewissen Glaube Gnade Göttin Götze Gottesbilder Gottesknecht Gottesnamen Gottesvorstellungen Gotteswort Grab Heer/Militär Heil Heiligkeit Heimat Hermeneutik Herrlichkeit Herrschaft/Königsherrschaft/ Reich Gottes Herz Himmel Hoffnung Intertextualität Israel/Juda Jesus Christus Jungfrau Kanon Kind Kirche/Gemeinde Klage Klugheit König Körper Krankheit/Heilung Kreuz Krieg/Frieden Kult Kultur und Mentalität
12 Laster/Fehlverhalten Leben Leid Leidenschaft Licht/Finsternis Liebe Lob/Dank Lohn Macht/Ohnmacht/Vollmacht Meer/Flut/Urflut Messias Mischwesen/Kerub Mitte Nachfolge Nächster/Nächstenliebe Name Normativität Offenbarung/Inspiration Ohr/Hören Opfer Ordnung/Chaos Paradies/Garten/Lebensbaum Parusie Passion Person Priester Prophet Rat Recht Rechtfertigung Reinheit/Unreinheit Rest/Rettung Ritus/Ritual Sabbat Scham Schicksal Schönheit Schöpfung Schreiben/Schrift Schrift/Schriftverständnis Seele Segen/Fluch Sexualität Sicherheit Sklave/Sklavin Soteriologie Sozialstatus/Gesellschaft und Institution Staat Stadt Sühne Sünde Taufe Tempel/Heiligtum Tod Tora Torheit/Irrtum Tradition Trauer Tugend Unterwelt/Jenseits/Hölle/ Scheol Väter Verantwortung Verbrechen/Unrecht Vergebung Verheißung-Erfüllung Versöhnung Versuchung Verwerfung Volk Vorsehung Wahrheit Weg Weisheit/Gesetz Weisung Weltbild/Kosmologie Widersacher/Satan/Teufel Wille Witwe Würde Wüste/Steppe Wunder Zeichen Zeit Zion Zweifel Alphabetisch sortierte Lemmaliste des HGANT XII
13 Dachartikel Anthropologie (A.) Zugeordnete Begriffsartikel: Alter/Jugend, Blut, Ebenbild, Essen/Trinken, Fleisch/Geist, Frau/ Mann, Freude, Geburt, Grab, Herz, Körper, Krankheit/Heilung, Leben, Leid, Sexualität, Tod, Wille, Würde. Anthropologie Vorbemerkung: Was ist der Mensch? Die Frage nach dem Menschen, die schon im AT mehrfach an prominenter Stelle auftaucht (Ps 8,5; 144,3; Ijob 7,17; 15,14; Sir 18,8), ist prinzipiell eine offene Frage. Als einziges Wesen reflektiert der Mensch mittels seiner Vernunft über sein Verhältnis zur Welt und sucht nach einer Bestimmung, die über die begrenzte Welt hinausweist. Die Frage nach dem Menschen kann aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt werden: etwa aus philos., soziologischer, kulturanthropologischer, naturwiss., ethischer oder theol. und auch bibl. Perspektive. Keine Perspektive kann für sich alleine stehen oder darf verabsolutiert werden. Von den bibl. Grundlagenthemen ist die Frage nach dem Menschen, seiner Herkunft, seinem Wesen und seiner Bestimmung eine der wichtigsten. Das christl. Verständnis des Menschen ist grundlegend von der Schrift her und durch den Rückgriff auf die Bibel geprägt. Von daher ist der Blick auf die bibl. A. unverzichtbar. Dabei gibt es aber nicht das bibl. Menschenbild, sondern nur sich ergänzende und z. T. auch in Kontrast stehende Aspekte, die von Seiten der Bibel in die Diskussion um die Frage nach dem Menschen eingebracht werden. Die Bibel hält keine Lösungen auf konkrete moderne ethische, philos. oder naturwiss. Fragen des Menschseins bereit. Darf der Mensch Menschen klonen? Wo verläuft die Grenze des Todes? Wann beginnt Menschsein? Wie lässt sich die unveräußerliche Würde des Menschen begründen? Gibt es die Freiheit des menschlichen Handelns? Derlei drängende Fragen, die sich in der Frage Was ist der Mensch? wie in einem Brennpunkt fokussieren, lassen sich nicht mit Hilfe der Bibel eindeutig beantworten. Das hieße einem fundamentalistischen Zugriff auf die Bibel das Wort reden. Dennoch wird eine christl. Antwort nicht ohne Rückgriff auf die bibl. Botschaft vom Menschen zu formulieren sein. Die Bibel macht Aussagen über das, was Menschsein ausmacht, worin es sich verfehlt und wo es gelingt sowie über die Stellung des Menschen gegenüber seinen Mitgeschöpfen und gegenüber Gott. Die bibl. A. bildet so ein Koordinatensystem oder einen Rahmen, in dem sich eine christl. Antwort über den Menschen formiert und verortet. Dabei ist es wichtig, die Aussagen beider Testamente in ihrer Fülle wahrzunehmen und nicht vorschnell zu systematisieren. Da das hier nicht möglich ist, wird eine thematisch orientierte Einführung gegeben. Dabei erscheint es geboten, die in der Forschung vorherrschende Orientierung an der Semantik (A. wird an Begriffen entwickelt) aufzubrechen. I. AT: Die wichtigen anthropologischen Aussagen des AT finden sich schwerpunktmäßig in der Weisheitslit. (Ijob, Ps, Koh, Spr, Sir, Weish) und in der Urgeschichte (Gen 1 11,26). Sie sind weder syst. noch ergibt sich aus ihnen eine Systematik bibl. A. Möglich sind Gliederungen nach Lebensphasen ( Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Alter, Tod), Textgattungen (Schöpfungsaussagen, Klage, Spruchweisheit), anthropologischen Begriffen ( Herz, Leben/ Seele, Fleisch/Geist u. a.) oder nach Themen ( Arbeit, Freiheit, Kultur, Sexualität). Keine der Gliederungen wird einer Besonderheit der bibl. Aussagen gerecht, die mit einem aus dem Weltbild herrührenden Ansatz im Denken zusammenhängt. I. 1. Bibl. Aussagen werden in narrativen und poetischen Kontexten entfaltet, sie sind nicht ab-
14 2 strakt, sondern konkret, es gibt keine einheitliche Perspektive, keine abschließende Synthese und keine begriffliche oder analytische Durchdringung. Vielmehr sind sie auf einzelne, z. T. sich ausschließende, sich ergänzende oder sich überlagernde Aspekte bezogen (aspektiv und komplementär) und somit immer mehrdimensional. Dem hebr. Denken liegt es wie dem ao. nicht, die Komplexität der Welt analytisch zu reduzieren, sondern diese wird im Zueinander der Aussagen in ganzheitlicher Vielgestaltigkeit aufrechterhalten. Unter dieser Voraussetzung ist z. B. die Aufteilung des Menschen in Körper und Geist (Leib-Seele-Dichotomie) oder in Körper, Geist und Seele (Trichotomie; Leben) dem AT und AO fremd. Deutlich wird das, wenn man auf eine anthropologische Topographie schaut: Das Denken wird, anders als bei uns, nicht im Kopf, sondern vor allem im Herzen, dem Organ des Verstandes und der Gefühle, aber auch im wertenden und urteilenden Auge verortet. Gefühle beschränken sich nicht auf das Herz, sondern werden mit dem gesamten Inneren und verschiedenen Organen (Niere, Leber) oder dem Hals- und Kehlbereich verbunden ( Körper). Augen und Ohren werden als Organe verstanden, die kommunikativ und zugleich sozial sind. Die Körperbegriffe sind durch eine semantische Weiträumigkeit (B. Janowski) geprägt, was sich z. B. daran zeigt, dass {af sowohl für Nase als auch für Zorn oder rœgœm sowohl für den Mutterschoß als auch für das Erbarmen steht. Der Unterschied wird deutlich, wenn man die Assoziationen der Übersetzung von Ps 16,9 in der Einheitsübersetzung ansieht, die eine Leib-Seele-Trennung nahe legt. Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele; auch mein Leib wird wohnen in Sicherheit. Für den Begriff Seele steht hier im Hebr. aber die Leber (kabed) als Organ starker emotionaler Empfindungen. Das Herz (leb) ist viel mehr als nur ein Gefühlsorgan, sondern es ist weit mehr Verstandesorgan. So drückt der Vers mit Verstand (noëtische Dimension), Gefühl (emotionale Dimension) und Physis (vegetative Dimension), die zusammen eine ganzheitliche Einheit bilden, das Ganze des Menschen aus, das bei Gott Geborgenheit findet. Der Mensch wird als psychosomatische Einheit verstanden, in der Körperlichkeit, Emotionalität Anthropologie und Geist keine Gegensätze sind. Wollen und Sein fallen nicht auseinander, Funktion und Bedeutung stehen immer zusammen. Entsprechend ist eine Leibfeindlichkeit der atl. A., die in weiten Teilen mit der ao. A. übereinstimmt, fremd ( Körper). Dieser Grundzug der ganzheitlichen, komplementären Auffassung vom Menschen macht die atl. A. in hohem Maße für eine neuzeitliche Moderne anschlussfähig. I. 2. Leben ist für den Menschen im AT immer ein In-Beziehung-Stehen, und ein Leben ohne Bezug auf (einen) Gott ist nicht vorstellbar. Weder der Beginn noch das Ende des menschlichen Lebens sind ohne das Handeln Gottes zu denken, denn Geburt und Tod liegen in Gottes Hand. Zu den Grundkonstituenten des Menschseins gehört bibl. seine Geschöpflichkeit, d. h. seine radikale Abhängigkeit und Verwiesenheit auf Gott. Das bringt der zweite, ältere Schöpfungsbericht (Gen 2,4b-3,24) in dem formenden, handwerklichen Tun Gottes und in der Belebung durch den göttlichen Lebensatem (Gen 2,7) zum Ausdruck. Wenn dieser Atem fehlt, kehrt der Mensch zurück zum Staub (Ps 104,30, vgl. Gen 3,19; Koh 3,20; 12,7; Ijob 10,9). Im Wortspiel zwischen { a dama Ackerboden und {adam Mensch kommen die vom Schöpfer abhängige Formgebung ebenso wie die Vergänglichkeit des Menschen zum Ausdruck. In der Menschenschöpfung werden Individualität und Personalität des Menschen begründet. Im Schöpfungsakt im Mutterleib (Ijob 31,15; Jes 44,2.24; Jer 1,5; 2 Makk 7,22f) am genauen Zeitpunkt des Werdens menschlichen Lebens hat das AT kein Interesse (Ps 139,13 16) sieht der atl. Glaube ein personales und unverlierbares Gottesverhältnis begründet ( Würde), auf das in der Notklage Bezug genommen wird (Ijob 10,8 14; Ps 22,11; 71,6). Neben die Geschöpflichkeit und das damit verbundene Geschaffensein in eine Beziehung mit Gott tritt konstitutiv die Mitgeschöpflichkeit. Wiederum ist es der anthropologisch gewichtigere zweite, vielleicht im 8. Jh. entstandene Schöpfungsbericht, der die anthropologisch wichtigen Aussagen formuliert. Nur im zweigeschlechtlichen, dialogischen Zueinander von Frau und Mann entfaltet sich volles Menschsein (Gen 2,20.23). Dabei steht der Mensch in einem verantwortungsvollen Gegenüber zu seinen Mitgeschöpfen. Seine Sprache
15 Anthropologie 3 (Gen 2,19) und Kulturbeherrschung (Gen 2,15) heben ihn über die Tiere heraus, die anders als der Mensch selbst als soziales Gegenüber des Menschen defizitär bleiben (Gen 2,20). Die Schöpfungs- und die Gartenerzählung konzipieren die Schöpfung anthropozentrisch und begrenzen die Stellung des Menschen durch Verantwortung und seine in der Freiheit gegenüber Gott gründende sittliche Autonomie ( Ethik), ohne dabei die Verwiesenheit auf Gott aufzugeben. Auch der erste Schöpfungsbericht (Gen 1,1 2,4a) gibt dem Menschen eine begrenzte Sonderstellung. Durch die Aussage der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26 28; Ebenbild) und den Herrschaftsauftrag wird noch stärker auf die Verantwortung des Menschen abgehoben. In der aufgetragenen Herrschaft, die der Mensch nicht einzeln und allein, sondern im Kollektiv, in der Gemeinschaft (Gen 1,26) ausübt, soll der Mensch in lebensförderlichem Handeln als Repräsentant Gottes die in die Schöpfung eingestiftete gute Ordnung (Gen 1, ) aufrechterhalten und das lebensbedrohliche Chaos zurückdrängen. In beiden Schöpfungsberichten ist Menschsein mit einem Ethos der Verantwortung ( Ethik) verbunden. Auftrag und Bestimmung des Menschen sind durch die Beziehung zu Gott gegeben und welt- und kulturgestaltendes Menschsein findet im AT seine Grenze in Gott und seiner lebensförderlichen Ordnung (Gott, Schöpfung, Freiheit). Die begrenzte Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung darf nicht als Anthropozentrismus verstanden werden, sondern ist in den Aussagen des AT funktional konnotiert und immer in eine Verantwortlichkeitssphäre einer Mitgeschöpflichkeit gestellt. I. 3. Neben die Geschöpflichkeit tritt die Vergänglichkeit als atl. Konstituente des Menschseins (1 Chr 29,14f). Kein anderer Aspekt wird mit Schwerpunkt in der Weisheitslit. stärker reflektiert als die Unverfügbarkeit des Todes ( Tod). Der Mensch vergeht wie Gras (Ps 90,5f; 103,15f; vgl. 102,5.12; Jes 40,7f), seine Tage sind vergänglich und schwach wie ein Schatten (Ijob 8,9; 14,2; 17,7; Ps 39,7; 102,12) und er kehrt zum Staub zurück (Gen 3,19; Ijob 10,9; 7,21; 34,15; Ps 30,10; 90,3; 103,14; 104,29; Koh 3,20; 12,7 u. a.). Mit der Einsicht in die für den Menschen unumgehbare Sterblichkeit ist im AT eine radikale Diesseitigkeit verbunden. Der atl. Mensch lebt ganz im Hier und Jetzt und in seinen je neu zu aktualisierenden Beziehungen. Gelungenes Leben zielt auf die heilvolle Gottesnähe und Gottesgegenwart im Diesseits (Ps 37,7; 38,16; 42,6.12; 43,5; 62,2.6; 130,6; 131,3; Klgl 3,24 u. a.). Ein Jenseits, das mit einer Form ewigen Lebens verbunden wäre, ist dem atl. Glauben ebenso wie die Überwindung der Todesgrenze lange Zeit fremd ( Auferstehung, Unterwelt, Tod). So hört auch die Beziehung des Menschen zu Gott mit dem Tod auf (Ps 88,6; 115,17; Jes 38,18). Erst allmählich, vorsichtig beginnend mit der spätvorexil. Solarisierung Jhwhs ( Gestirne) und stärker werdend ab dem 5. Jh., setzt sich der Gedanke der Ausdehnung der Macht Gottes auf das Todesreich durch, wodurch die Hoffnung im Licht der Lebenden (Ps 56,14, vgl. 27,13; 142,6) sich über das Schattenreich des Todes hinaus auf eine postmortale Vollendung richtet (Ps 16,9f; 22,28 32; 49,10.16; 73,23f; 2 Makk 7,14). I. 4. Menschsein ist im AT ausgespannt zwischen Würde und Elend. Keiner der beiden Pole wird ausgespart oder verabsolutiert. Obwohl der Mensch nur wenig geringer als Gott erschaffen ist und mit unverlierbarer Würde und königlicher Hoheit ausgestattet ist (Ps 8,6), bleibt er ein schwaches und begrenztes Wesen (Ps 22,7), das radikal auf Gott angewiesen und auf ihn hingeordnet ist. Die Zerrissenheit und Ortlosigkeit, die in der Gottesferne zum Ausdruck kommt, gehört ebenso zum Grundgefühl des Menschen im AT (Ps 42,6; 43,5; 119,146; Ijob 14,1; 17,3) wie die Erfahrung des Glücks (Ps 37,11; Koh 2,24 26; 5,17f) und die Hoffnung auf Besserung (Ps 62,6; 71,5; Spr 23,18; Ijob 4,6 u. a.). Zu der physischen Hinfälligkeit, die sich in Krankheit und Tod zeigt, tritt die moralische Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit des Menschen ( Sünde). Die Einsicht in die Fehlbarkeit wird nüchtern in Gen 3,1 8 reflektiert und als Nicht-Sein-Sollendes vor der Folie eines moralisch integren Paradieses reflektiert. Fakt ist die in der Urgeschichte konstatierte Verderbtheit des Menschen (Gen 6,5 13; 8,21; 9,11), die zu Gewalttat und Unordnung führt. Da der Mensch von Geburt an sündigt und Fehlbarkeit zu den unaufhebbaren Konstituenten des Menschseins gehört (Ps 14,3; 51,7; 53,4; 58,4; 130,3; 143,2; Ijob 4,17; 14,4; 15,14 16;
16 4 25,4 6), bedarf er der Tora (Gesetz, Ethik) als Begrenzung und des Kultes als Möglichkeit der Entsühnung ( Sühne). Aus der realistischen Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen folgt im AT nur an wenigen Stellen eine Auffassung des Menschen, der der diesseitigen, verderbten Welt entfliehen muss, um dem Bösen zu entkommen. Die realistische Sicht des Menschen im AT zielt auf Umkehr und Besserung des Verhaltens, um dem Ziel gelingenden Lebens, das in diesseitig erfahrener Gottesnähe besteht, näher zu kommen (Ps 73,28). II. NT: Auch im NT wird keine eigenständige A. entfaltet. Während in den meisten Schriften anthropologische Aussagen implizit gemacht werden, entwickelt einzig Paulus auf der Basis einiger spezifischer Begriffe ( Fleisch, Sünde, Gnade, Tod) anthropologische Grundaussagen. Dabei sind A. und Soteriologie bzw. weitergehend A. und Christologie im pln. Denken nicht zu trennen. Auch das joh. Schrifttum geht von einer tiefen Bezogenheit des Menschen auf Gott aus. Wie im pln. Denken ist Jesus Christus der Fluchtpunkt, von dem her Menschsein entworfen wird. An der Entscheidung für oder gegen Christus entscheidet sich das Gelingen des Menschseins. II. 1. Das Menschenbild Jesu spannt sich aus zwischen Würde und Elend und ist von zwei Polen bestimmt. Einerseits hält Jesus an der schöpfungstheol. begründeten Würde fest, sieht aber den Menschen zugleich radikal als erlösungsbedürftig an: Er hält an der atl. Grundüberzeugung des gut geschaffenen und von Gott angenommenen Menschen sowie an seiner Verantwortung gegenüber der Schöpfung fest, auch wenn er die Spitzentexte des AT nicht explizit in seine Verkündigung einbezieht. Das schließt den ganzen Menschen in allen Lebensphasen und Lebenslagen ein. Es umschließt seine Sozialität und Kulturalität ebenso wie seine Verfehlung und seine Endlichkeit. Allen Menschen kommt dabei der gleiche hohe Wert (Mt 12,12; Mk 2,27) und die gleiche unveräußerliche Würde zu, die unabhängig von Herkunft, Status oder Geschlecht ist. Dies zeigt sich beispielhaft in der Zuwendung Jesu zu Frauen und Kindern ( Frau), seinem Zugehen auf die Zurückgesetzten und Benachteiligten der damaligen Gesellschaft und in seinem Wirken an Anthropologie Kranken und Behinderten ( Krankheit). In seinem Handeln spiegelt Jesus die Fürsorge Gottes, die dieser allen Menschen zuteil werden lassen will (Mt 5,45; 6,25 32; 10,29 31), wider. Im Anschluss an die in den Schöpfungserzählungen und der Weisheitslit. entfaltete A. eines königlich-hoheitlichen Menschen stellt Jesus den Menschen radikal in den Mittelpunkt (Mk 2,27) und in das barmherzige Interesse Gottes. Zugleich ist das Menschenbild Jesu von dem Gedanken des unmittelbar bevorstehenden Gerichts geprägt ( die Zeit ist erfüllt Mk 1,15; End- Gericht). Der Mensch ist vor die letzte und endgültige Entscheidung gestellt, sich auf die Gottesherrschaft einzulassen oder sich ihr zu verweigern. Der Mensch selbst und in seiner Predigt richtet sich Jesus zunächst ausschließlich an das Unheilskollektiv Israel ist so verstrickt in Verschuldung, dass es aus ihm selbst heraus kein Moment der Rettung geben kann. Er ist ohnmächtig, arm und bedürftig vor Gott. Im Anbruch der Gottesherrschaft ( Herrschaft) tritt Gott in seinem Gnadenhandeln dem Menschen so entgegen, dass vollgültiges, befreites Menschsein wieder möglich wird. Das ist nur aufgrund der überreichen Gnade und Liebe des barmherzigen Gottes möglich (Mt 18,23 33). In der Vorordnung der Gnade Gottes vor die Gerechtigkeit steht Jesus im Anschluss nicht nur an die Urgeschichte (vgl. Gen 6,5 13 mit 8,21f; 9,11), sondern auch an die in Tora und Propheten belegten Kernaussagen von der wesenhaften Gnade Gottes (vgl. die Gnadenformel in Ex 34,6f; Ps 103; Hos 11 u. a.). Entscheidend für das jesuanische Menschenverständnis, das in den synopt. Evv. aufgenommen und weitergeführt wird, ist sein Gottesverständnis. Wie in der gesamten Bibel hängen Gottesbild und Menschenbild eng miteinander zusammen. Im Vater sieht Jesus den fürsorglichen Gott, der den Menschen nah und unmittelbar sein will ( Gottesbilder). Diese Nähe sagt Gott in Jesus zu. Der enge verwandtschaftliche Zusammenhang, der ein enges familiäres Verhältnis zwischen Gott und Mensch begründet und seine Wurzeln bereits im AT hat, hebt Jesu Gottesverhältnis in keiner Weise, schon gar nicht radikal, vom Frühjudentum ab. Die Gotteskindschaft, die den Menschen in die heilsame Nähe Gottes stellt, bedeutet glei-
17 Anthropologie 5 chermaßen einen sehr hohen ethischen Anspruch (Mt 5,48; Lk 6,36; Lev 11,44; 20,26; Dtn 7,6 11). In der Gotteskindschaft und der Liebe als Wesensmoment Gottes wird das Ethos der Liebe begründet (Mt 5,44; 19,19; Lk 10,27; Joh 13,34; 15,12; Eph 5,2; Lev 19,18). In der Brieflit. und in den Evv. wird von dieser Grundlage her Jesus als exemplarischer Mensch aufgefasst und entfaltet (Joh 19,5; Lk 23,47; Mt 9,8; Mt 27,27 31), von dem aus Menschsein neu bestimmt werden kann. Er ist Bild Gottes (Kol 1,15; 1 Kor 15,49) und in ihm und das heißt in seinem Menschsein wird Gott sichtbar (Joh 12,45; 14,6 9). Er ist Bindeglied und Mittler zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5). Das zuletzt Gesagte bestimmt vor allem die pln. A. II. 2. Die Singularität des Menschen Jesus, der sich am Kreuz hingegeben hat und dort als Sohn Gottes geoffenbart worden ist (Röm 1,4), steht für Paulus außer Frage, auch wenn das Menschsein Jesu und der hist. Jesus für Paulus kaum eine Rolle spielen. Er denkt vielmehr konsequent zu Ende, was im exemplarischen Menschsein Jesu und seiner Gottesnähe sowie in dem Gedanken der radikalen Abhängigkeit von Gott angelegt ist. Dabei geht er von zwei Voraussetzungen aus: Über allem steht die Annahme, dass Gott das Heil des Menschen will Gottes Heilswille ist universal und sein Handeln zielt auf Rettung. Der Mensch, so die erste Grundvoraussetzung, steht unter dem gerechten und gerechtfertigten Zorn Gottes (Röm 2) und er wird angesichts seiner Verfehlung im Gericht nicht bestehen können ( End-Gericht). Wie im atl. Gerichtsgedanken ist das endgültige Verderben aber nicht geschöpflich bedingt, sondern steht als dauerhafte und nicht mehr aufhebbare Folge des eigenen Tuns und verfehlter Freiheit als Lohn der Sünde (Röm 6,23) im Anschluss an das gerechte Gericht. Die zweite Voraussetzung der pln. A. ist, dass alle Menschen unter der Sünde zu sehen sind und Menschsein von Beginn (Gen 3) an nur im Modus der Verfehlung greifbar wird. Kein Mensch kann als gerecht bezeichnet werden, weil keiner der Gerechtigkeit Gottes in vollem Maß entspricht (Röm 3,9 20). Auch darin steht Paulus durchaus im Anschluss an Aussagen des AT, die die universelle Sündhaftigkeit des Menschen betonen (Ps 14,3; 51,7; Ijob 14,4; 25,4 6; Gen 6,5). Die Welt ist verderbt und voller Sünde und niemand ist davon ausgenommen. Paulus nennt das kat8 s/rka ( dem Fleisch nach ), worin menschlich, weltlich, wirklich, falsch und unausweichlich zusammenkommen. Dem stellt er das kat8 pneqma ( dem Geist nach ) gegenüber, was Aspekte des Gottgeschenkten, Gnadenhaften, Erlösten und Unverschuldeten in sich aufnimmt. In Christus steht ein neuer Adam dem verderbten und sich verfehlenden alten Adam gegenüber. In midraschartiger Exegese von Gen 2f stellt Paulus Typos und Antitypos gegenüber. So wie der Tod durch die Übertretung des einen für alle in die Welt kam, kommt das Heil durch den Tod des einen für alle (1 Kor 15,21f.45.47; Röm 5,12 19). Der Mensch, der im Glauben an die heilende Zuwendung Gottes Subjekt bleibt, wird durch die Tat Gottes im Menschen Jesus Christus gerettet und vom Sünder zum Gerechten verwandelt. Dabei kommt es nicht auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf Gottes Gnade (Röm 9,16), die er in Jesus Christus geoffenbart hat. Die Torheit des Kreuzes entspricht dem elenden und erniedrigten Menschsein und widerspricht zugleich dem Gottsein Gottes zutiefst (1 Kor 1,25). Für Paulus gehört das Christusgeschehen von nun an zum Menschsein hinzu (Röm 8,29; 1 Kor 15,49), insofern das Heilshandeln Gottes in ihm sichtbar wurde und im Glauben an ihn für den Menschen Gottes Gnade erfahrbar wird. In Christus (im Mit-Sterben und Mit-Auferstehen, Röm 6,8; Gal 2,19f; 2 Kor 13,4; 2 Tim 2,11; Kol 2,12f.20; 3,1.3) ist somit schöpfungsgemäßes Menschsein und in pln. Theol. neues Menschsein für alle Menschen ermöglicht. So kann Paulus von der Neuschöpfung des Menschen in Christus sprechen (2 Kor 5,17; Gal 2,20; Röm 6,3 11). In der Befreiung von der Sünde erlangt der Mensch in Christus seine schöpfungsgemäße Heiligkeit (als Heiligung Agiasm3w) und Herrlichkeit (d3ja) zurück (Röm 6,19.22; 1 Kor 1,2; 2 Kor 3,18). Dabei ist dieses neue Menschsein nicht außerhalb der Welt, sondern in dem mit Geist und von Gottes Gerechtigkeit erfüllten, irdischen Leib ( Körper). Selbstverständlich hat die Transformation und Neukonstitution des Menschen in Christus auch Konsequenzen für das Handeln des Menschen ( Ethik). Ausgerichtet auf das in Christus erkannte Gute, handelt und
18 6 verwirklicht der Mensch sein Menschsein aus dem Geist der empfangenen Gnade heraus (Röm 8,9 16) in Glaube, Liebe und Hoffnung (1 Kor 13,13). In Christus erfährt der Mensch seine gottgeschenkte Freiheit (2 Kor 3,17; Röm 8,21) und erlangt seine schöpfungsgemäße Gottebenbildlichkeit ( Ebenbild) zurück (2 Kor 4,4; Röm 8,29; 1 Kor 15,49). Das Sein in Christus hebt diskriminierende Unterschiede in Status und Geschlecht auf (Gal 3,27f) und lässt so die in der Schöpfung grundgelegte gleiche Würde des Menschen hervortreten. Bei aller auch eschatologischen Orientierung der Erlösung findet Paulus in diesem Gedanken zum ganzheitlich orientierten Menschenbild der Schrift zurück. Der Mensch ist ganz auf Gott ausgerichtet und von ihm abhängig. Seine A. hat weniger einen schöpfungstheol. und vom Anfang her entworfenen, sondern einen soteriologischen und vom Ende her entworfenen Ansatz. II. 3. Auch das Joh sieht in der Menschwerdung den entscheidenden Akt der Zuwendung des Vaters im Sohn. Indem das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat (Z l3gow s8rj Eg0neto ka; Esk1nvsen En TmYn Joh 1,14), hat Gott das Menschsein in einer neuen Weise geoffenbart. Das von Gott des Menschensohns bestimmt das Sein und das Wesen des Sohnes. Er ist auch als Mensch ganz und gar durch die Liebe des Vaters bestimmt und gibt sich für den Menschen hin. In Jesus und seiner Hingabe wird wahrhaftiges Menschsein exemplarisch sichtbar. Das ist das ecce homo (Xdo= Z Wnurvpow) in Joh 19,5. Menschsein steht nach der Inkarnation in einer dualistischen Entscheidungssituation. Glaube und Unglaube stehen sich als mögliche Ausrichtungen der menschlichen Existenz antithetisch gegenüber. Dabei werden Unglaube und Welt einander zugeordnet, weshalb sich Menschsein als im Modus des Glaubens stehend von der Welt distanzieren muss (Joh 12,25; 15,19; 17,14.16). Glaube hingegen wird mit dem Geist auf die Seite Gottes und der Kinder des Lichtes gestellt (Joh 3,21; 6,63; 12,36). Die Welt Gottes und die Welt des Menschen sind hingegen nicht getrennt oder einander fremd, sondern in der Inkarnation radikal zu Ende gedacht aufeinander bezogen. Menschsein wird ganz von seinem Ursprung her bestimmt (Joh 1,13). Anthropologie III. Überblickt man beide Testamente, fallen der Reichtum anthropologischer Aussagen, aber auch ihre unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkte auf. Als Grundlinie von weitestgehend unwidersprochenen Kernaussagen ist die Orientierung an Gott und dessen belebender Wirklichkeit erkennbar. Durchgehaltene Konstanten sind die Geschöpflichkeit und die damit eng verbundene Einsicht in die Vergänglichkeit des Menschen, die unvergängliche Würde eines jeden Menschen und die personal im Schöpfungsvorgang konstituierte Gottesbeziehung jedes Einzelnen. Seine Fehlbarkeit und Unvollkommenheit lassen ihn das Ziel gelingenden Lebens, verwirklichte und erlebte Gottesnähe, verfehlen und ihn damit radikal abhängig von und verwiesen auf Gott und sein Handeln sein. Nimmt man diese Aussagen als Grundlinie einer bibl. A., fällt auf, dass den Aussagen des AT hier größeres Gewicht zukommt. Aussagen über die Geschöpflichkeit des Menschen, seine Vergänglichkeit, seine Geschlechtlichkeit, seine Sozialität und die Bezogenheit auf eine Kultur, seine Zeitlichkeit und seine Würde haben ihren Ort vor allem im AT. Demgegenüber ist im NT und hier entfaltet der pln. Entwurf eine enorme Gravitationskraft die universelle Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit jedes einzelnen Menschen stärker betont. Eine postmortale Perspektive des Menschseins ist hingegen im AT deutlich weniger ausgeprägt, wo Menschsein leben in innerweltlich verwirklichter Beziehung heißt und mit dem Tod die Beziehungslosigkeit Raum ergreift. Unbibl. und verkürzend wäre nun die Reduktion auf eine einheitliche anthropologische Linie, die beide Schwerpunkte zu einer linearen Entwicklung zusammenfügt. Demgegenüber ist an der Komplementarität der anthropologischen Aussagen beider Testamente festzuhalten. Trotz kontrastiver Züge dürfen die Testamente nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die ntl. Aussagen wollen und müssen von den atl. her verstanden werden. Obwohl das NT Menschsein sehr stark von Christus und dem Christusgeschehen her entwirft, behalten die atl. Aussagen ihre Geltung und Bedeutung. So behalten etwa die Aussagen zur Vergänglichkeit des Menschen ihren Wert auch gegen und neben der Auferstehungshoffnung des NT. Die Orientierung an der Gerechtigkeit und das Lei-
19 Eschatologie 7 den an der Unvollkommenheit der diesseitigen Welt werden nicht durch die Jenseitshoffnung und die Hoffnung auf ewiges Leben abgeschwächt. Aufgabe und Bestimmung des Menschseins bleibt es, dem universalen Heilswillen Gottes zu entsprechen ( Ethik) und die diesseitige Welt in seinem Sinn zu gestalten. Der unverzichtbare Wert der bibl. A. besteht in der Wahrnehmung des Menschen und des Menschseins in ganzheitlicher Perspektive. Ausgespannt zwischen Elend und Würde, tritt neben seine Autonomie seine radikale Verwiesenheit, neben seinen Gestaltungsauftrag seine Unvollkommenheit und neben seine Begrenztheit und Vergänglichkeit seine Hoffnung. In der Bezogenheit aller anthropologischen Aussagen auf Gott entfaltet die bibl. A. im christl. Kontext ein anregendes und kritisches Potential, das im modernen gesellschaftlichen Diskurs um Fragen des Menschseins zwar keine substantiellen Antworten, aber den Rahmen für eine christl. Antwort vorgibt. I. C. Frevel/O. Wischmeyer, Menschsein, Würzburg 2003; B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen-Vluyn 2003; H. W. Wolff, Anthropologie, München II. C. Frevel/O. Wischmeyer, Menschsein, Würzburg 2003; B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart 1993; U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, Neukirchen- Vluyn Christian Frevel Eschatologie (E.) Zugeordnete Begriffsartikel: Apokalyptik/Apokalypse, Auferstehung, End-Gericht, Fülle, Hoffnung, Lohn, Parusie, Verwerfung, Zeichen. Eschatologie Vorbemerkung: E. (von griech. Xsxaton, das Letzte, Ende ) ist ein Begriff der syst. Theol., der sich im 19. Jh. als die Lehre von den letzten Dingen durchsetzte. Tod, Auferstehung, End-Gericht, Ende der Welt und der Zeit sind die traditionellen Themen. Da die Anwendung der syst.-theol. Fragestellung auf bibl. Aussagen problematisch ist, bleibt eine Definition bibl. E. schwierig. Von E. ist immer dann zu sprechen, wenn ein neues Zeitalter mit radikal veränderten Verhältnissen im Vergleich mit der Gegenwart im Blick ist. Dabei kann unterschieden werden zwischen national-eschatologischen (auf die Zukunft Israels) und universal-eschatologischen (auf die Zukunft der Welt bezogenen) Weissagungen. Bibl. E. ist keine abgeschlossene Lehre, sondern ein Komplex von oft unausgeglichenen Erwartungen und Vorstellungen, die sich im Laufe der Geschichte in unterschiedliche Richtungen entwickelten. I. AT: Für die Frage nach einer hist. Entwicklung eschatologischer Vorstellungen ist die kontroverse Datierung vieler Texte ausschlaggebend. Umstritten ist, inwieweit die Verheißungen des Landes und zahlreicher Nachkommenschaft (die Verheißungen an die Väter im Buch Genesis) in die vorexil. Zeit, vielleicht auch in die Zeit vor den klassischen Propheten datiert werden können, oder ob diese Hoffnungsvorstellungen erst nach dem Exil als Trostbotschaft und Reaktion auf den Verlust des Landes bzw. der nationalen Eigenständigkeit Israels formuliert werden. In der klassischen Prophetie (z. B. Jesaja von Jerusalem, 8. Jh. v. Chr.) und in der Zeit bis zum Exil (587 v. Chr.) dominieren Gerichtsansagen über den bevorstehenden Untergang Israels und Judas/ Jerusalems (z. B. Am 2,4 16; 3,9 15; Zef 1,2 13; Jer 3,1 13; 4,5 31; 7,1 15 u. a.; Ez 4,1 5,17; 7,1 27; 8,5 10,7 u. a.). In dieser negativen E. werden Grundlagen einer guten Zukunftserwartung wie Erwählung, ewiger Bestand von Stadt und Tempel negiert und das Ende ( Eschaton ) des Staates, der Stadt und des Tempels angekündigt. Der Untergang von 597/587 v. Chr. und das bab. Exil bedeuten eine radikale Wende für die prophetische Botschaft: An die Stelle des Gerichts tritt mit zunehmender Dauer des Exils der Trost (vgl. Jes 1 mit Jes 40, dem Anfang des Deuterojesaja ). Die unmittelbar bevorstehende heilvolle Zukunft besteht in der Wende des Exilsschicksals, die als neuer Exodus (Rückkehr nach Israel/Jerusalem in ein blühendes Land, z. B. Jes 35; 41,17 20; 43,1 7) bzw. als neue Schöpfung (z. B. Jes 65,16f; 66,22, rezipiert in 2 Petr 3,13; Offb 21,1) dargestellt wird. Doch diese Heilsbotschaft realisiert sich nicht in dem erhofften Ausmaß in der nachexil. Zeit: die als bedrückend empfundene Realität (große soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Krise, pers., griech.- röm. Fremdherrschaft) gerät in große Spannung
20 8 zu den Verheißungen. Daher wird die E. dieser Zeit von der Hoffnung auf ein radikales Eingreifen Gottes aus der Transzendenz dominiert, das diesem Äon der Unterdrückung, des Leidens ( Leid) und der Sünde ein Ende bereitet und eine neue Weltzeit des Heils und der Gerechtigkeit heraufführt (z. B. Jes 60,18 21; 65,17; 66,22; Joël 3,1 5). Der eschatologische Dualismus formuliert die Vorstellung von zwei Äonen: Nach dem Gericht und dem Ende kommt ein neuer Anfang. Damit ist die E. in ein Vorstellungskonzept übergegangen, das als Apokalyptik bezeichnet wird. Apokalyptik beinhaltet immer das Moment des göttlichen Eingreifens und die Vorstellung zweier gänzlich verschiedener Weltzeiten, deren erste sich nie innergesch. weiterentwickelt, sondern in katastrophalen Zusammenbrüchen untergeht, um dem allein von Gott heraufgeführten Äon Platz zu machen. Die Apokalyptik impliziert stets eschatologische Vorstellungen, doch umgekehrt ist nicht jeder als eschatologisch zu qualifizierende Text notwendig auch apokalyptisch. I. 1. Der Begriff E. ist als Beschreibung lit. Phänomene eher ungeeignet. Im Blick auf die prophetische Lit. bietet sich als Alternative der Begriff der Utopie (griech. op nicht und t3pow Ort ) an: ein nur in gedanklichen Konstruktionen in einer imaginierten, räumlich oder zeitlich entfernten Welt erreichbarer Idealzustand von Menschheit, Staat oder Gesellschaft. Die Utopie sprengt das Vorhandene auf und erweitert die Sicht auf das maximal Vorstellbare. Als vertikale Utopie (P. Tillich) schließt sie Verheißung und Geschenk Gottes mit ein und verhindert so ein Umschlagen in blinden Aktionismus oder permanente Revolution. Dennoch steckt hinter den prophetischen Utopien der Bibel eine Pragmatik, die das gerechte Handeln des Menschen in Richtung auf das ewige Heil hin motiviert und unterstützt (z. B. Mi 4,1 5/Jes 2,2 4; Jes 11,4f; Jes 55,1 5; Jes 58; Jer 31,31 34; Mal 3,1 5). Religionsgesch. Versuche, die bibl. E. aus Israels Umwelt (Ägypten, Mesopotamien) herzuleiten, sind weitgehend fehlgeschlagen. Die Quellen liegen vielmehr im Glauben Israels selbst: (1) die Traditionen der Verheißungen an die Väter (Land und zahlreiche Nachkommenschaft; Schlüsseltexte: Gen 12,1 3; 15,18 21 u. a.); (2) Eschatologie die David-Zion-Traditionen: Verheißung an David, stets werde einer seiner Nachfolger auf Israels Thron sitzen (2 Sam 7), und ihre Fortführung in der Erwartung eines davidischen Gesalbten ( Messias), der ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichtet (z. B. Jes 9,1 6; 11,1 16); (3) die Bundes-Traditionen (Sinaibund): Die Vorstellung der Offenbarung der Weisung Gottes am Sinai als Grundlage des Bundes zwischen Gott und Israel konstituiert eine Gemeinschaft, deren Wohl und Wehe an der Beachtung der Weisung des Bundes (der Tora) hängt (Schlüsseltext: die Fluch- und Segensverheißungen in Dtn 27f). Diese drei Ebenen göttlicher Verheißungen, deren Erfüllung unvollendet ist bzw. noch aussteht, sind als Quellen bibl. E. Israel-spezifisch und lassen sich nicht aus den Kulturen der Umwelt Israels ableiten. Zugleich ist zu betonen, dass E. kein gesamtisraelit. Phänomen ist. Es gibt durchaus Kreise, die keine derartigen Zukunftserwartungen formulieren, etwa die Tradenten bibl. Weisheitslehren (Spr, Ijob, Koh), die Kreise, die hinter den Büchern 1/2 Chr und Esra/Neh stehen, sowie die für die priesterlichen Texte des Pentateuch Verantwortlichen. Während diese Gruppen offenbar in der Oberschicht und in Leitungsfunktionen anzusiedeln sind, scheinen sich eschatologische Erwartungen vor allem jenseits gesellschaftlicher und polit. Institutionen zu entwickeln (vgl. z. B. Jes 55,1; 58,3 5; 61,6a; Jer 31,34; Mal 2,1 9; aus vielen dieser Stellen spricht die Kritik an überkommenen Institutionen). Folgende Beispiele illustrieren eschatologische Themen (Utopien) aus kollektiver Perspektive in der prophetischen Lit. Dabei spannt sich die Bandbreite von einem neuen Verhältnis zwischen Israel und Gott, das ein neues rel. und ethisches Denken einschließt und auch für die Völker der Erde attraktiv ist, bis hin zu einer gänzlich neuen Schöpfung: (1) Der neue Bund: Nur Jer 31,31 34 spricht von einem neuen Bund zwischen Gott und Israel, der auf ganz anderen Voraussetzungen beruht als der Sinaibund. Die Weisung Gottes ist nicht mehr auf Stein, sondern auf den Herzen der Menschen geschrieben, sodass Gottes Weisung und innere Überzeugung des Menschen zur Deckung kommen und Lesen, Belehrung und Auslegung entfallen können. (2) Eine neue Gesin-
21 Eschatologie 9 nung verbindet rel. Tun und soziale Gerechtigkeit. Statt veräußerlichte Riten zu pflegen und gleichzeitig ausbeuterisch und gewaltsam zu handeln, weist Jes 58 (vgl. auch Sach 7) den Weg zur wahren Frömmigkeit: Fürsorge für die Armen, Befolgung der Tora (Sabbat). (3) Die Völkerwallfahrt zum Zion: In Jes 2,2 4(5) und parallel dazu Mi 4,1 5 (vgl. auch Ps 47,10; 72; 87) geht es nicht um das Weltende, sondern um eine Wende, um eine radikale Weltveränderung: Sie ist möglich durch die Tora Gottes, die den Zion als Ort der Belehrung für alle Völker attraktiv macht und zu umfassendem Frieden ( Schwerter zu Pflugscharen ) anregt. Diese Heilsprophetie aus dem 5. Jh. v. Chr. kämpft gegen lähmende Resignation und Verzweiflung unter der Fremdherrschaft in Jerusalem. Gegen eine Tendenz zur Abschottung gegenüber anderen Völkern (z. B. bei Esra/Neh) wird hier eine Sicht des zukünftigen, universalen Heils Jhwhs für alle Völker vertreten (vgl. auch Jes 60 62). In eine ähnliche Richtung wie die Völkerwallfahrtstexte geht Jes 25,6 8: Bei dem Festmahl auf dem Zion wird auch die eschatologische Vernichtung des Todes für immer verheißen, was in Offb 21,4 erneut als Zukunftserwartung in Kraft gesetzt wird. (4) Der neue Herrscher: Frieden, Recht und Gerechtigkeit: Jes 9,1 6 und 11,1 16 kündigen einen zukünftigen Herrscher auf Davids Thron an ( Messias), der den göttlichen Frieden bringt und mit dem Geist der Weisheit, der Stärke, der Erkenntnis und der Gottesfurcht begabt ist. Seine Friedensherrschaft wird mit den Bildern des Tierfriedens illustriert. Weitere Stellen, die von dem kommenden neuen König sprechen, sind Ez 34,23f; Jer 23,5f; Sach 9,9f. (5) Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels: Eine umfassende Restitution formuliert die Zukunftsvision von Ez 40 48: ein neuer Tempel, eine Neuordnung der kultischen Dienste, eine neue Verteilung des Landes, Fest- und Opfervorschriften für die Zukunft, die Vision eines fruchtbaren, von der Wasserquelle im Tempel gespeisten Landes und der heiligen Stadt Jerusalem. (6) Das künftige Heil bedeutet Leben in Fülle: Dazu wird die Vision blühender Landschaften und wunderbarer Heilungen von Blinden, Tauben und Lahmen beschrieben (Jes 35,1 10; aufgegriffen in Mt 11,2 6/Lk 7,18 23). Dieses von Gott bereitete Heil ist kostenlos (Jes 55,1 5) und zeigt sich auch in reichen Ernten (Am 9,13f). (7) Die neue Schöpfung: Die gegenwärtige Situation der nachexil. Zeit wurde vielfach als so verfahren empfunden, dass man sich nur einen radikalen Neuanfang in Form einer neuen Schöpfung vorstellen konnte. Ein neuer Himmel und eine neue Erde werden erwartet (vgl. Jes 65,17 25: hinzu kommt das Bild des Tierfriedens). Auch die Menschheit wird erneuert: Ez 36,22 36 verheißt ein neues Herz, einen neuen Geist für die Menschen ( Fleisch), eine Reinigung des Landes. In ähnlich radikaler Weise stellt Ez 37 in einer Vision die Wiederherstellung Israels als Nation in Form einer Wiederbelebung ausgetrockneter Knochen dar. Dieser Text setzt bereits den Glauben an die Macht Gottes über den Tod voraus ( Auferstehung). I. 2. Die prophetischen Verheißungen bleiben wirksam: In hell.-röm. Zeit (ca. 4. Jh. v. Chr. 1. Jh. n. Chr.) entstehen jüd. Schriften, die z. T. breit ausgefaltete eschatologische, meist apokalyptische Vorstellungen entwickeln. Nur z. T. werden diese Schriften in den jeweiligen Kanon von Juden und Christen aufgenommen. Einige Beispiele seien angeführt: Im Buch Daniel (1. Hälfte des 2. Jh. v. Chr.) entfaltet Kapitel 7 die Vision von vier Tiermonstern als Allegorien der damaligen Weltreiche sie werden im End- Gericht des Hochbetagten (Gott) vernichtet, und einer wie ein Menschensohn übernimmt die ewige Weltherrschaft. Diese Vision wird in christl. Rezeption auf Jesus Christus gedeutet (z. B. Mt 24,30; Mk 13,26; 14,62; Lk 22,69; Offb 1,13; 14,14). Das Buch Tobit legt das Schwergewicht auf die endzeitliche Wiederherstellung Jerusalems als heilige und herrliche Stadt der Gerechten (Tob 13,10 17; 14,5). Auch der Weisheitslehrer Jesus Sirach (Ben Sira) entwickelt endzeitliche Vorstellungen: Wie in Mal 3,23f wird der Prophet Elija wiederkommen, um in der Endzeit für Versöhnung im Volk und für eine Beschwichtigung des göttlichen Zornes zu sorgen (Sir 48,10). Ferner erwartet Ben Sira eine Wiederherstellung der davidischen Dynastie (47,11.22), und in der Verbindung von ewigem Davidsbund mit dem ewigen Priesterbund mit Pinhas (45,24 25) werden der gesalbte König und der gesalbte Priester miteinander verknüpft (vgl. Sach 4,14), was für die spä-
22 10 Eschatologie tere Entwicklung messianischer Vorstellungen bedeutsam ist ( Messias). In 2 Makk findet sich beim Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter (2 Makk 7) die eschatologische Hoffnung auf eine Auferstehung der (getöteten) Gerechten, die die Tora Gottes befolgen (vgl. auch 2 Makk 12,45). Für den verbrecherischen Seleukiden-König (Antiochus IV. Epiphanes) gibt es hingegen keine Auferstehung. Die Unsterblichkeit der Gerechten ist ein wichtiges Thema im Buch der Weisheit. Insbes. Weish 1 6 reflektieren in dualistischer Sicht das Schicksal der Frevler (der Bösen ) und der Gerechten (der Guten ), vor allem unter dem Gesichtspunkt des vorzeitigen, durch Krankheit oder Kriegsgewalt bedingten Todes der Gerechten: Sie sind über den Tod hinaus in Gottes Hand und dürfen die Unsterblichkeit erhoffen (Weish 3,1 9), während die Bösen den Untergang (totale Auslöschung) erleiden und zu spät erkennen, wie verfehlt ihr Tun war. Das Motiv der Unsterblichkeit der Gerechten begegnet auch in den Psalmen Salomos (PsSal 3; 13; 14; 15). Für 1Hen (1Hen 1 35; ) ist das kommende große Gericht ein durchgängiges Thema: Wie einst bei der Sintflut wird dieses Gericht die gesamte Menschheit bis auf einen Rest gerechter Menschen vernichten. Diese kleine Gemeinschaft der Gerechten erhält eine Offenbarung über Gut und Böse und über Belohnung und Verdammung im End-Gericht. Der Lauf der Geschichte wird als vorherbestimmt angesehen, die eigene Gegenwart gilt als das festgelegte Ende der Zeit. In den Parabeln des äth. Henochbuches (1Hen 37 71) wird als Ausführender des Gottesgerichtes eine transzendente Gestalt vorgestellt, die Elemente des davidischen Königs, des Gottesknechtes aus Deuterojesaja und des Menschensohnes aus Daniel 7 in sich vereinigt. I. 3. Die Gemeinde von Qumran verstand sich nach vielen Aussagen ihrer Schriften als einzigartige Gemeinschaft der Endzeit. Gott hat alles vorherbestimmt und eine geordnete Abfolge der Zeiten aufgestellt. Dies wird vor allem durch eine eschatologische Auslegung der Propheten, deren Aussagen auf die Endzeit bezogen werden, dargelegt (z. B. 1QpHab 7,1 5). Insbes. sagten in der Deutung der Qumran-Gemeinschaft die Propheten eine letzte Epoche voraus, in der Gott einen Rest reuiger Gerechter bestimmt, denen das wahre Verständnis der Tora geoffenbart wird (z. B. durch die rätselhaften Gestalten des Lehrers der Gerechtigkeit und des Tora-Lehrers, die als eschatologische Figuren auch heilswirkende, soteriologische Bedeutung haben, indem sie zu Buße und Gehorsam gegenüber Gottes Gebot aufrufen). Erwartet wird das Kommen des Messias im Anschluss an das ewige davidische Königtum, mitunter ist auch die Rede von zwei Messiasgestalten mit priesterlichen bzw. königlichen Aufgaben ( der/die Gesalbte/n aus Aaron und Israel ; z. B. 1QS 9,11; CD 12,23 13,1; 14,19; 20,1). Nach dem Gottesgericht erfolgen die endgültige Vernichtung der Frevler und das ewige Leben der Gerechten. Die Gemeinschaft sieht sich selbst als den Ort des eschatologischen Segens an, während außerhalb von ihr Tod und Verdammnis herrschen. Dieser charakteristische Dualismus betrifft auch die Zukunftserwartung, die in einem endzeitlichen Kampf ( Krieg) zwischen den guten und den bösen Mächten ( Engeln) und dem Sieg der guten Seite, mit der man sich selbst identifiziert, besteht (1QM). Diese und andere jüd. Schriften aus hell.-röm. Zeit sowie die Qumran-Texte erhellen den Hintergrund, vor dem sich christl. Vorstellungen über Jesus Christus und dessen Kommen und Wiederkunft sowie die christl. Zukunftserwartungen entwickeln. II. NT: Generell ist festzuhalten, dass sich die Zukunftshoffnungen des NT aus den Utopien des AT speisen, die zu unterschiedlichen Zielen aufgegriffen werden: Teils gilt die prophetische Ankündigung mit dem Kommen Jesu als erfüllt, teils steht die endgültige Erfüllung noch aus, sodass der ntl. Text die atl. Verheißung als bleibend gültig neu in Kraft setzt (vgl. z. B. Jes 8,23 9,1 mit Mt 4,13 16; Jes 11,10 mit Röm 15,12; Jes 55,1 5 mit Mt 11,28f; Joh 4,7 15; 7,37; Am 9,11f mit Apg 15,16f). II. 1. Die ntl. Texte zeigen eine gewisse Offenheit, wie die Heilszuwendung Gottes zeitlich vorzustellen ist. Das Kommen des Reiches Gottes ist eine Erwartung, die in der frühjüd. apokalyptischen Lit. eher selten begegnet, umso charakteristischer ist dieses Motiv für die Predigt Jesu, v. a. in den synopt. Evv. ( Herrschaft). Die Spannung zwischen den Zukunfts- und den Gegenwartsaus-
23 Eschatologie 11 sagen über das Reich Gottes vermittelt den Eindruck, dass Jesus einerseits Repräsentant des göttlichen Heilswirkens ist, dass andererseits die endgültige Ankunft dieses Heils noch aussteht und als unmittelbar bevorstehend gedacht wird (Naherwartung). Ähnlich differenziert stellt sich der Gebrauch des Titels Menschensohn dar: Der Menschensohn ist gegenwärtig und Jesus selbst (z. B. Mk 2,10), der Menschensohn muss leiden (z. B. Mk 8,31), und er wird wiederkommen (z. B. Lk 17,22 37). Die Bezeichnung fungiert bisweilen nur als Umschreibung für ich (z. B. Mt 8,20par.; 9,6par.; 11,19par.; Lk 22,48), andererseits wirkt sie wie ein Hinweis auf eine von Jesus verschiedene zukünftige Erlösergestalt (z. B. Mt 10,23; 13,41; 24,30par.; 25,31par.; Mk 8,38/Lk 12,8; Lk 17, ). Die Formulierung der Jesus-Tradition unter dem Eindruck von Ostern verschmilzt die Erwartung einer kommenden Rettergestalt (in Anlehnung an Dan 7,13f) mit der Wiederkunft Jesu Christi. In den synopt. Evv. erscheint die von Jesus verkündete Gottesherrschaft bisweilen als rein zukünftig (z. B. Mt 6,9f; 25,1 13; Mk 9,1), bisweilen als gegenwärtig und im Kommen Jesu realisiert (z. B. Mk 1,15; Lk 4,21: realisierte E.). Vielleicht aber war schon die irdische Verkündigung Jesu von der Grundspannung zwischen dem Schonjetzt des anbrechenden Heils und dem Noch-nicht der Vollendung des Heils gekennzeichnet ( antizipierte E.). Insbes. die Gleichnisreden, die eine unmittelbare Nähe Gottes und des Heiles andeuten, sowie die Dämonenaustreibungen ( Dämon) und Krankenheilungen Jesu ( Krankheit) als Vorzeichen des anbrechenden Heils (z. B. Mt 12,28; Lk 11,20) bezeugen die dynamische Relation zwischen wahrgenommener Realität und erhoffter Zukunft sowohl in der Verkündigung Jesu als auch in der späteren Rezeption, Tradition und Verkündigung im frühen Christentum. Im Blick auf die Wortüberlieferung Jesu in der Logienquelle oder im Thomasevangelium tritt die eschatologische Erwartung in den Hintergrund: Jesus begegnet hier als Prediger ethischer Maximen und als Weisheitslehrer. Man könnte darin eine gewisse Distanz zur Apokalyptik und den damit bisweilen verbundenen, in rel. und polit. Hinsicht überspannten Zukunftserwartungen sehen. Die gesamte Botschaft der synopt. Evv. und damit auch ihre E. sind entscheidend von Tod und Auferstehung Jesu bestimmt. Aus dieser (nachösterlichen) Perspektive werden Person und Botschaft Jesu dargestellt. Hier beginnt die ausdrückliche Verkündigung des Heils an alle Völker (z. B. Mt 28,16 20), und aus der Ostererfahrung heraus resultiert auch die Erwartung der Wiederkunft ( Parusie) Christi (z. B. Apg 1,9 11) sowie demzufolge die Mahnung zur Wachsamkeit (Naherwartung). II. 2. Stärker als die Synopt. betont das Joh die individuelle Perspektive und die Gegenwärtigkeit des Heils: Das eschatologische Leben wird den Glaubenden jetzt schon zuteil (Joh 3,15.36; 4,14; 5,24 u. a.), insbes. in der mystischen Einheit der Christen mit Christus und dem Vater (Joh 17,21 23; auch 14,23 u. a.). An der Person Jesu und dem Glauben an ihn entscheidet sich die Anteilnahme an dem ewigen Leben (Joh 11,25 27; 20,30f), es kommt darauf an, in dem gekommenen Jesus den erwarteten Messias zu sehen (Joh 1,41; 4f; 7f; 9,22; 10,24 28), wobei der Messiastitel in Bekenntnistexten verwendet wird (Joh 11,27; 20,31). Die joh. E. entspricht der Vorstellung vom Anfang der Welt im Prolog (1,1 18), der die Abschiedsreden (Joh 13 17) korrespondieren: Der ewige Logos ist Fleisch geworden und auf die Erde herabgestiegen (Joh 1,14). Durch Tod und Auferstehung steigt er dann wieder zum Vater auf, er geht seinen Freunden voraus und bereitet ihnen eine Wohnung (Joh 14,2 3.28; 16,28). Nach kurzer Zeit wird Jesus wiederkehren (Joh 16,16.19) und alle, die ihm vom Vater gegeben sind, zum Vater führen (Joh 17,24). Die kurze Zeit ist eine Spur der joh. Naherwartung und der Überzeugung von der Gegenwart des Heiles, die sich auch darin zeigt, dass die endzeitliche Gabe des Geistes Gottes (vgl. Joël 3,1) durch die Verheißung des Beistandes (Parakleten) in Form des Heiligen Geistes (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7; 20,22) in die Gegenwart der Adressaten hereingeholt wird. II. 3. Für Paulus sind Kreuz und Auferstehung die Wende der Zeiten und der Schlüssel zum Heil: Im Sühnetod Jesu sind alle den eschatologischen Tod gestorben und haben mit Jesus Christus Zugang zum neuen eschatologischen Leben (z. B. Röm 6,3; 7,4; 2 Kor 5,14 17). Selbst die Gott-
24 12 losen werden allein aus Glauben gerechtfertigt, alle werden von der versklavenden Macht der Sünde befreit (Röm 7f); auch die Schöpfung wird in dieses kommende Versöhnungshandeln Gottes einbezogen (Röm 8,20 23). Parusie, Auferstehung und End-Gericht ( Rechtfertigung) sind bei Paulus eng miteinander verknüpft. Die christl. Hoffnung auf die Auferstehung der Toten formuliert Paulus in 1 Thess 4,13 18 und 1 Kor 15, Der Zeitpunkt der Wiederkunft Christi ist offen und nicht berechenbar, sodass unklar bleibt, ob Paulus selbst noch erwartet hat, diesen Zeitpunkt zu erleben. Vielmehr fordert Paulus zu ständiger Wachsamkeit und Bereitschaft auf (1 Thess 5,1 11). Er geht davon aus, dass die neue christl. Existenz parallel zum alten Äon verläuft. Zwar kann der irdische Tod den Christen nichts mehr anhaben, dennoch müssen sie ihn erleiden. Paulus weiß, dass er selbst wie alle anderen noch in dieser Welt lebt, doch er lebt im Glauben an den Sohn Gottes (Gal 2,20) die Rettung geschieht in Hoffnung, die man noch nicht erfüllt sieht (Röm 8,24). Die übrige ntl. Brieflit. entfaltet ebenfalls die Erlösung durch Christi Kreuz und Auferstehung. Zwar ist das Heil gewirkt (Hebr 8,1 10,18), aber es bleibt eine zukünftige Größe (Hebr 2,5; 9,11; 13,14). Überspannte Naherwartungen sowie Zukunftsberechnungen werden immer wieder abgelehnt zugunsten der Ermahnung zu einem gerechten Leben in der Gegenwart, das durch den Anbruch der eschatologischen Heilszeit gefordert ist (z. B. 2 Petr 3,8 13). Auch die Offenbarung des Johannes (Apokalypse) geht davon aus, dass die Christen bereits grundsätzlich erlöst sind (Offb 1,5 6), doch sie müssen sich im von Verfolgung bestimmten Alltag bewähren (Offb 12,17; 13 17), was ihnen in der Gemeinschaft mit Christus gelingen wird. Die Vollendung des Heils besteht in einem neuen Himmel und einer neuen Erde sowie dem neuen (himmlischen) Jerusalem (Offb 21,1 22,5 mit Rückgriff auf Jes 25,8; 55,1; 65,17; 66,22; Sach 14,8; Ez und zahlreiche andere atl. Passagen; Schöpfung). Im Paradies der Zukunft (Offb 22,1 5) wird es eine innige Gemeinschaft mit Gott und dem Lamm (Christus) geben. Am Ende (Offb 22,6 21) werden die baldige Wiederkunft Jesu und die enorme Bedeutung der geschriebenen Botschaft (der Offb Ethik bzw. der gesamten christl. Bibel) betont, die letztlich die universale Teilhabe aller (zu allen Zeiten, an allen Orten) am Heil Gottes ermöglicht. I. A. Deissler, Was wird am Ende der Tage geschehen?, Freiburg 1991; M. Evang u. a. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, Berlin u. a. 1997; T. Hieke, Dann wohnt der Wolf beim Lamm (Jes 11,6): LebZeug 54 (1999) ; K. Koenen/R. Kühschelm, Zeitenwende, Würzburg 1999; H.-P. Müller, Ursprünge und Strukturen alttestamentlicher Eschatologie, Berlin 1969; H. D. Preuß, Eschatologie im Alten Testament, Darmstadt 1978; R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen- Vluyn 2001; W. H. Schmidt/J. Becker, Zukunft und Hoffnung, Stuttgart u. a II. A. Deissler, Was wird am Ende der Tage geschehen?, Freiburg 1991; M. Evang u. a. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, Berlin u. a. 1997; J. Frey, Die johanneische Eschatologie, Tübingen ; H.-J. Klauck, Weltgericht und Weltvollendung, Freiburg 1994; K. Niederwimmer, Zur Eschatologie im Corpus Johanneum: NT 39 (1997) ; H. Graf Reventlow (Hg.), Eschatology in the Bible and in Jewish and Christian Tradition, Sheffield 1997; T. Schmidt, Das Ende der Zeit, Bodenheim Thomas Hieke Ethik (E.) Zugeordnete Begriffsartikel: Arbeit/Mühe, Askese, Barmherzigkeit, Böse, Ermahnung/Paränese/ Predigt, Freiheit, Gewalt, Gewissen, Krieg/Frieden, Laster/Fehlverhalten, Nachfolge, Nächster/ Nächstenliebe, Sünde, Tugend, Verantwortung, Verbrechen/Unrecht, Versuchung. Ethik Vorbemerkung: Während man unter Ethos die konkrete, sich im Handeln äußernde sittliche Gesinnung versteht, so ist E. deren Theorie, Grundlage und Begründung. Ethos und E. stehen mit den Grundüberzeugungen eines Menschen und denen der Gesellschaft, in die er akkulturiert wurde, in engster Beziehung. Beide sind Ausdruck der jeweils geltenden Wertordnungen, Normen, Überzeugungen und Grundsätze einer sozialen Gruppe und ihrer Mitglieder. Ethische Konzeptionen sind für die Handlungsorientierung des Menschen in allen Lebensbereichen (von Ehe über Familie, Hauswesen, Gemeinde, Kirche, Arbeit, Eigentum, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Staat bis zum Umgang mit Fremden und Feinden, jedoch auch mit der Natur und ihren Geschöpfen) notwendig. In der Gegenwart kommt noch das der Antike unbe-
25 Ethik 13 kannte Problem des Umgangs mit den Möglichkeiten der künstlichen Herstellung oder Verlängerung von Leben hinzu. Die dem Ethos zugrunde liegenden ethischen Anschauungen und Motivationen sind zeit-, kultur-, gesellschafts- und weltanschaulich gebunden. Dies gilt auch für die Bibel. Dabei ergibt sich aus der Zusammenschau der atl. und ntl. Texte kein geschlossenes, homogenes, ethisches Konzept, sodass die gesch., soziologischen und theol. Prämissen der ethischen Aussagen jeweils einzeln zu erheben sind. Dies lässt sich in einem Handbuch nur skizzenhaft leisten. Als Basisorientierung mag daher gelten: Voraussetzung der atl. praktischen Handlungsorientierungen war die Lebensauffassung, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen gibt. Gutes Handeln des Einzelnen wurde dabei im Wesentlichen an Gemeinschaftstreue (r e daqa;lxxd2kaiow, dikaios4nh), Solidarität (gæsæd;lxxxleow) und Treue ({ æ mæt;lxx Bl1ueia, seltener dikaios4nh) gemessen ( Kultur und Mentalität; Sozialstatus), wohingegen gemeinschaftsschädigendes Verhalten als Verkehrtheit (}awon;lxx Amart2a, Bnom2a, Bdik2a), Verbrechen (pæša}; LXX Bs0beia, Amart2a, Bnom2a) und Sünde (gatta{t; LXX Amart2a, gelegentlich Bdik2a) geächtet war. Die schlechte Tat fiel auf den Täter zurück, schädigte jedoch auch die soziale Gruppe, der er angehörte. Desgleichen auch die gute Tat, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen, sodass der/die Gerechte = Gemeinschaftstreue den Zuspruch von Ehre und Lohn von seinen/ihren Mitmenschen erwarten konnte. Wie im Bundesbuch (Ex 20,22 23,33*) greifbar, wurden die Normen des Alltagslebens wohl seit der Königszeit als Ausdruck des Jhwh-Willens verankert und somit theol. legitimiert. Atl. Ethik kann auf dem Hintergrund von Rechts- und Solidaritätsbeziehungen und der Gesetzgeberschaft sowie Solidarität Jhwhs, schöpfungstheol. (z. B. Ps 15; 24), weisheitlich (z. B. Spr), geschichtstheol. (dtn.-dtr. Lit.), basierend auf Kategorien der kultisch-priesterlichen (z. B. Heiligkeitsgesetz) oder der eschatologisch-apokalyptisch ausgerichteten Theol. (z. B. Dan) begründet und ausdifferenziert werden. Priesterschriftliche Theol. führt nachexil. den Begründungszusammenhang der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27; 9,6; Ebenbild) ein, der zur Universalisierung des atl. sozialethischen Programms führt, das nicht mehr auf das Gottesvolk eingeschränkt werden kann (so noch Lev 25,44 46). Dabei zeigen die verschiedenen atl. Schriften, dass sich menschliches ethisches Handeln (gleichwohl ob individual- oder sozialethisch motiviert) zwischen den beiden Polen des vorlaufenden, unbedingten und unauflöslichen Gnadenaspekts des Handelns Jhwhs und seiner Zusagen (vor-dtr. Dtn; P) und der eingeforderten Gehorsamsforderung (dtr. Dtn/Heiligkeitsgesetz) befindet. Das NT ist dagegen in seiner E. Jesus verpflichtet, der mit seiner Person und Botschaft Quelle und Bezugspunkt christl. E. ist. Die christl. Gemeinden, wie sie sich in den ntl. Schriften spiegeln, entwickelten ihre ethischen Konzeptionen aus der Orientierung an Jesu Botschaft und seinem Vorbild. Zugleich werden auch Elemente der atl.-jüd. Ethik und Weisheit (Mt 6,19ff; 25ff) sowie der allgemeinen antiken Ethik rezipiert (Tugend- und Lasterkataloge, Haustafeln). Paulus greift hingegen in seiner Begründung der christl. E. nur selten auf Jesu Wort und Leben zurück, sondern denkt von der Grundlage des Heilsgeschehens in Kreuz und Auferweckung Jesu (als Indikativ des Heilshandelns Gottes; 2 Kor 5,18ff; Röm 6,1ff) her, das er auf die christl. Existenz hin auslegt. Aus dem Indikativ des Heilshandelns Gottes leitet sich pln. der Imperativ bzw. Hortativ des geforderten ethischen Handelns des Menschen (= Pflicht) ab, sodass E. und Ethos Antwort des Gläubigen auf das von Gott gewährte und aus Gnade geschenkte Heil sind ( Glaube). Auch hier finden sich also die beiden o. g. Pole, allerdings in modifizierter Form, wieder. I. Grundlinien. Zwischen dem Blickpunkt der Menschen früherer Zeiten und dem heutiger Menschen liegen Welten, Kulturen und Erfahrungen, die alle den Blick geändert haben ( Kultur und Mentalität). Zu der Fremdheit der bibl. Texte aufgrund ihres hist. und sozialen Kontexts tritt die eigene Wahrnehmung der gegenwärtigen Rezipienten, die wiederum von ihrem eigenen Kontext geprägt sind. Es begegnen sich durch die Zeiten Fremde, Texte und Menschen. Allerdings eignet bibl. Texten eine Besonderheit: Sie werden von ihren Lesern, so sie der jüd.-christl. Tradition verbunden sind, als Bestandteil ihres eigenen rel. Lebens angenommen; die Schriften haben kano-
26 14 nischen, d. h. verbindlichen Charakter ( Normativität). Im Akt des Glaubens dies ist die Annahme der Schrift als Wort Gottes vollzieht sich eine transhist. Aneignung der Texte, die durch die Rezeption eine gegenwärtige Dimension erhalten. Demnach ist es mehr als verständlich und theol. legitim, von diesen Schriften Auskunft über ethische Probleme und Orientierung zu erwarten. So haben soziale christl. Bewegungen, etwa die Friedensbewegung, die ökologischen Gruppen und die Kirchenasylgruppen, immer wieder Impulse aus der Schrift gewonnen. Allerdings bleibt dabei zu beachten, dass man der Intention der Schrift nur dann gerecht werden kann, wenn man der Distanz zwischen dem Gestern und dem Heute Rechnung trägt. Nach bibl. Überzeugung ereignet sich menschliches Leben vor und mit Gott. Diese Bezogenheit durchdringt das gesamte individuelle wie gesellschaftliche Leben; eine Aufteilung in einen rel. und profanen Bereich kennt die Bibel nicht. II. AT: Gott als der Schöpfer des Menschen und seiner Welt hat dieser Schöpfung eine Ordnung eingeschrieben, die dem Menschen zugänglich ist: Die Ordnung ist mit der Trias Barmherzigkeit, Friede und Gerechtigkeit in ihren Grundzügen gekennzeichnet. Die Barmherzigkeit Gottes erweist sich darin, dass der Mensch lebt. Der Gedanke, dass die menschliche Existenz sich ganz und gar Gott verdankt, sie demnach Zeugnis der Barmherzigkeit des Schöpfers ist, die je neu erfahren wird, durchzieht die ganze Schrift ( Anthropologie). Friede meint in der Schrift den vollendeten Zustand des Heilseins, das zwischen Gott und Menschen sowie den Menschen untereinander herrschen soll. Gewiss ist Friede mehr als die Abwesenheit von Gewalt und Krieg, aber dennoch ist ihre Anwesenheit eine der schwersten Verletzungen des von Gott Gewollten. Gerechtigkeit beschreibt das Wesen der Herrschaft Gottes über seine Schöpfung. In seiner Gerechtigkeit nimmt Gott sein Wächteramt so wahr, dass die Schöpfung davor bewahrt wird, im Chaos zu versinken. Aufgrund des dialogischen Prinzips der Gottesbeziehung ist es nach bibl. Auffassung dem Menschen aufgegeben, diese Trias in seinem Leben zu verwirklichen. Er tut das, was er selbst geschenkweise empfangen hat. Darin vollzieht sich dankbare Anerkenntnis des Ethik Schöpfers. Wenn der Mensch in und durch Barmherzigkeit, Friede und Gerechtigkeit lebt und den Anderen daran teilhaben lässt, wird die Ordnung Gottes Wirklichkeit. Dieses Handeln ist grundsätzlich jedem Menschen möglich. Die bibl. Autoren konstatieren, dass die Ordnung der Schöpfung immer wieder so nachhaltig gestört ist, dass sie als abwesend empfunden werden könne. Sie heben zugleich hervor, dass diese Störung nicht zu Lasten Gottes geht, sondern der Menschen. Deren Freiheit beinhaltet die Möglichkeit, sich gegen Gott zu entscheiden, wenn sich auch diese Entscheidung in letzter Konsequenz gegen sie selber richtet. Die Freiheit zum Bösen bringt dem Menschen Elend und Not. Trotz dieser Sündenverfallenheit ( Sünde) des Menschen aber hält die Bibel daran fest, dass Gott seine Schöpfung nicht alleine lässt, sondern sie trotz und wegen der Sünde der Menschen schützend bewahrt: Gott nimmt nach der Sünde der Stammeltern, nach dem Mord des Kain und nach der Sintflut den Dialog mit den Menschen auf. Menschen verlassen Gott, nicht Gott die Menschen. In Gottes Handeln ist dem Menschen der Ermöglichungsgrund zum Gutsein und Tun des Guten gewährt. In der Tora besitzt Israel die Anleitung zum Leben mit Gott, das als einziges die wahre Qualität des Lebens hat. In ihr sind die Grundzüge der Ordnung der Schöpfung enthalten und entfaltet. Der Mensch vermag mittels der Tora mit und von dieser Ordnung zu leben. Die Tora ist theonomes Recht. In ihr begegnet Israel Gottes Willen und Wort selbst. Die behauptete Unmittelbarkeit der Gesetzgebung am Sinai beinhaltet, dass die Einhaltung und der Bruch des Gesetzes sich vor Gott vollziehen. Damit wird das ethische zwischenmenschliche Handeln zu einem, in dem sich die Beziehung des Menschen zu Gott offenbart. Wenn der Mensch sich gegen seinen Nächsten vergeht, vergeht er sich zugleich gegen Gott. Die Tora kennt eine Teilung der Verantwortung gegenüber Gott und dem Nächsten nicht. Beides ereignet sich im Tun des Gesetzes. Gehorsam gegenüber Gott wird Wirklichkeit im sozialen Handeln. Es kann keinen wahren Gottesdienst, keine wahre Frömmigkeit geben, wenn gleichzeitig der Nächste bedrängt wird. Die Kult- und Sozialkritik der Propheten setzt daher bei der falschen Vorstellung der Frömmigkeit an, die meint, man
27 Ethik 15 könne Gott dienen und den Nächsten verachten. Genau diese Urversuchung jeder Frömmigkeit wird kritisiert und bloßgestellt. Dennoch konstatiert das AT eben auch, dass die gute Gabe der Tora keineswegs von allen in Israel dankbar angenommen und gehalten wird. In der Weisheitslit. wird dieser Befund mit einem rel. und intellektuellen Defizit erklärt: Die Nichteinhaltung der Tora wird als ein Wesenszug der Unvernünftigen und Toren qualifiziert (Spr 13,19 20; Ps 53). Zwar gelingt es auf diesem Wege, die theol. Dissonanz, die darin besteht, dass es überhaupt einen Menschen geben kann, der in der Lage ist, das objektiv Gute auszuschlagen, durch einen Mangel des Menschen zu erklären, aber das theol. Problem, aus welchem Grund Gott diese Entscheidung überhaupt zulässt, ist damit nicht geklärt. Auf Grund der Verschränkung zwischen Gottes Wort und menschlichem Tun ist damit zugleich eine anthropologische Frage aufgeworfen. An diesem Punkt setzt der Gedanke der Wahlfreiheit, der freien Entscheidung zwischen Gut und Böse ein. Der Mensch ist von Gott als seinem Schöpfer ins Vermögen gesetzt, sich gegen ihn zu entscheiden, obwohl er sich damit selbst dem Verderben anheim gibt. In Dtn 30 wird die Entscheidung geradezu inszeniert. Israel kann sich gegen Gottes Gebot entscheiden, aber trägt dann auch die Folgen seines Tuns: Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse (Dtn 30,15). Der Gedanke der Freiheit des Menschen kann bibl. erklären, aus welchem Vermögen der Mensch sich gegen Gottes Willen entscheidet. Aus welchem Grund er es tut, ist der Bibel trotz verschiedener Erklärungsansätze Neigung zum Bösen, Versuchung, Lust an der Sünde in letzter Konsequenz unbegreiflich. Der Prozess der Selbst- und Gottesentfremdung in der Sünde bleibt der Schrift als Anthropodizee unbeantwortbar. Die Tora nimmt den Menschen in die Verantwortung für sein Tun, da die Ausflucht, man kenne den Willen Gottes nicht, durch sie verunmöglicht ist. Mi 6,8 bringt die ethische Regel auf den Punkt: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Dieser Satz bringt die Elemente ethischen Handelns auf eine Kurzformel, indem Anspruch und Möglichkeit zugleich benannt werden: Was immer der Mensch tut, er kann es nicht in Absehung Gottes. III. NT: Das NT übernimmt weitgehend die Konzeption des AT. Dieser Befund zeigt sich insbes. da, wo das NT Vorstellungen der paganen Umwelt, z. T. vermittelt durch das hell. Judentum, rezipiert. Es bleibt dabei oft bei der Übernahme des Begriffs ohne die vorgegebenen Begriffsinhalte. Ob es sich um Askese, Gewissen oder Tugend handelt, die Begriffe erhalten im Kontext der jüd. Tradition des NT eine neue Bedeutung, wobei sie theologiegesch. nach der Rehellenisierung in der christl. Spätantike wirksam wurden. Die theol. Begründung der E. wird vom NT ebenfalls übernommen, allerdings setzt hier die weitreichendste Modifikation ein: Die Christologie ist das Interpretament, von dem her die Tora und die Praxis wahrgenommen werden. Jesus Christus ist für die, die ihn als Christus glauben, der Ermöglichungsgrund, den Willen Gottes zu tun. Dabei ist zu beachten, dass die E. nicht ein dem Ev. nebengeordnetes Themenfeld ist, sondern dass die Praxis des Ev. mit diesem selbst eng verflochten ist. Die neue Praxis des Ev. ist die Verifikation des Glaubens an das Ev., da sich dieses im Leben der Glaubenden realisiert. Auch hierin ist das NT dem AT gefolgt. Die sich auf Jesus von Nazaret berufende E. ist die des Glaubens an ihn als den Christus, den Sohn Gottes. Die Nachfolge geschieht nicht, weil Jesus ein bes. Exempel ethischen Handelns ist, sondern da sich in seiner gesamten Praxis der Wille Gottes zeigt. Deshalb ist es hist. und theol. wenig sinnvoll zu behaupten, Jesus habe das Gesetz gebrochen, etwa durch Heilungen am Sabbat. Hist. wird eine Objektivität behauptet, die es nicht gegeben hat. Man nimmt dabei die Position der Gegner ein (Mk 3,2), als sei sie verbindlich. Jesu Selbstwahrnehmung als Bote der kommenden guten Herrschaft Gottes schließt die Vorstellung, er könne das Gesetz als Wort Gottes gebrochen haben (etwa durch Heilungen am Sabbat), aus. Noch weniger fügt sich diese Vorstellung in eine Theol. ein, die Jesus als Sohn Gottes glaubt. Vielmehr verstehen die Evv. Jesus als den verbindlichen Interpreten des Willens Gottes. Sich an seine Lehren zu halten, ist die vollkommene Erfüllung des Gesetzes. Dabei setzt nachösterlich eine Umwertung
28 16 ein: Nicht mehr die Tora steht im Mittelpunkt der ethischen Reflexion, sondern Jesus Christus als ihr Lehrer (Mt 28,18 20). Die Argumentation wird dabei personalisiert, freilich um den Preis, dass außerhalb des Glaubens an Jesus Christus diese Begründung nicht evident ist. Sie kommt aus dem Glauben und führt auf ihn zu. Die Tora besitzt Würde, da Jesus sie ausgelegt und gelebt hat. Dass diese Position dafür offen ist, einerseits eine strenge Observanz zu begründen, andererseits die Heilsbedeutung der Tora in Frage zu stellen, belegt die Geschichte des Christentums. Die verschiedenen ethischen Modelle des NT, die sich jeweils auf Jesus beziehen, erklären sich u. a. auch aus den verschiedenen Textgattungen: In den Evv. ist Jesus von Nazaret, als irdischer Sohn Gottes, die Norm der E. der Nachfolge. Er ist das Vorbild, an dem die Gläubigen sich ausrichten können, da an ihm ablesbar ist, was es heißt, den Willen Gottes in aller Konsequenz zu tun. Die Paränese Jesu ( Ermahnung) etwa in der Bergpredigt ist Explikation des Wortes Gottes, die nicht das Gesetz aufhebt, sondern es zu seiner eigenen, von Gott gewollten Bedeutung bringt. Das Halten des Wortes Jesu und die Nachahmung seiner Praxis sind der Weg zur Praxis des Reiches Gottes, die es trotz aller Anfeindungen durchzuhalten gilt. Die mimetische Ausrichtung der E. in den Evv. ist an die Prämisse des Glaubens gebunden. Diesen Aspekt betont nun die Brieflit. noch stärker. Der Glaube an Jesus Christus ist die Voraussetzung, um am Ermöglichungsgrund der gebotenen Praxis teilzuhaben. Durch das Wirken Gottes zur Rettung seiner Schöpfung in und durch Jesus Christus ist es dem Menschen, der dieses Heil im Glauben annimmt, ermöglicht, nun vom Zwang zur Sünde befreit ein Leben im Einklang mit Gottes Willen zu führen. Paulus hat insbes. in Gal und Röm den Gedanken einer E. entfaltet, die durch den Glauben an Jesus Christus erst möglich, aber daher unabweislich notwendig für ein Leben im Glauben ist, mithin das Schema von Indikativ und Imperativ. Die pln. E. hängt unmittelbar mit den Kernaussagen der Christologie zusammen. Da nach Paulus das Gesetz aus der Sündenverfallenheit nicht retten kann, sondern vielmehr von der Sünde instrumentalisiert wird, um die Begierde ( Laster) zu wecken (Röm 7), ist angesichts der allgemeinen Ethik Sündenverfallenheit Rettung nur durch Gott möglich, der diese in Jesus Christus wirkt. Dem Menschen, der diese Rettung annimmt, ist es nun als aus der Sünde Geretteter möglich, das Gesetz, das sich im Liebesgebot zusammenfassen lässt (Gal 5,14), zu erfüllen (Gal 5,22f). Allerdings zeigen die Probleme der pln. Gemeinden, dass das Kriterium der Liebe ein notwendiges, aber kein hinreichendes ist, um alle anfälligen Probleme zu lösen (1 Kor). Daher ist die konkrete Paränese keineswegs material neu. Neu ist die Begründung durch Jesus Christus. Durch die enge Verknüpfung von Glaubensgrund und Glaubenswirklichkeit besitzt die ntl. Sozial- und Individualethik eine bes. Eindringlichkeit. An ihr ist ablesbar, ob der Glaube den Menschen zu einer neuen Wirklichkeit geführt hat, die seiner Glaubensüberzeugung entsprechen muss. Ein Glauben ohne Praxis ist dem NT genauso fremd wie dem AT. Die ntl. E. zeichnet sich nicht so sehr durch ihren Inhalt aus, sondern durch ihren Anspruch, nach dem die Gegenwart und ihre Gesetzlichkeit im eschatologischen Vorgriff in der Gemeinde aufgehoben werden. Die Negierung von sexuellen, sozialen und ethnischen Unterschieden (Gal 3,28) ist ein Kennzeichen dieser eschatologischen E., die damit auf die Gnade Gottes für alle hinweist und das Empfangene und Erfahrene wiederum erlebbar macht. Ntl. E. besitzt wegen ihrer Herleitung aus dem Heilshandeln Gottes einen Verweischarakter im Hinblick auf dieses Heilsgeschehen; sie ist als Praxis des Lebens Bezeugung dessen, was möglich ist, wenn man sich auf Gott einlässt. Die hist. überraschend schnelle Verbreitung des Ev. ist vielen Bedingungen zuzuschreiben. Sie wäre allerdings angesichts einer völligen Diastase (= Trennung) zwischen Anspruch und Wirklichkeit kaum möglich gewesen. Die Gemeinden müssen für viele Menschen ein Ort einer neuen, anderen und besseren Wirklichkeit gewesen sein, weil sie dort etwas erfuhren, was sie außerhalb nicht kennen lernen konnten. Ntl. E. ist damit Teil der Realisierung der Hoffnung, dass nichts so bleiben muss, wie es ist, weil Gott sich seiner Schöpfung in Jesus Christus aufs Neue gnädig annimmt. Darauf antwortet die ntl. E.; sie ist Praxis dieses Glaubens, ohne den sie ihren Grund und ihre Begründung verlöre.
29 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte 17 IV. Hermeneutik: Die Vergegenwärtigung ethischer Modelle der Bibel machen Nähe und Distanz zugleich einsichtig. Die Nähe ist begründet in der gleichen Glaubenstradition, die Distanz in der Zeit und ihren Läufen. Eine vor der eigenen Freiheit verantwortete E., die sich auf die bibl. beruft, hat beides zu bedenken. Dabei gilt es insbes. auf die Begründungszusammenhänge zu achten, um nicht Unerhebliches mit theol. Relevantem zu vermengen. Eine Begründung etwa für Todesstrafe und Krieg kann nicht mit dem Hinweis, beides sei in der Bibel bezeugt, gewonnen werden. Hist. liegt hier ein Fehler vor: Es wird ein gesch. Phänomen unter dem Vorwand seines rel. Kontextes perpetuiert. Todesstrafe und Krieg gehören so wenig wie Zinsknechtschaft oder Sklaverei zu den Wesenszügen der bibl. Botschaft, sondern verbleiben im hist. Bereich der gesellschaftlichen und rechtlichen Praxis. Wollte man dennoch die bleibende Gültigkeit solcher Phänomene behaupten, müsste das für das Gesamtphänomen gelten, also stünde auch die hist. vorgegebene Praxis unter dem Vorzeichen des Erhaltenswerten. Hist. unpräzise ist diese Argumentation auch im Hinblick auf die Gegenwart. Denn es wird hier ebenfalls eine Entsprechung behauptet, die keinesfalls gegeben ist. Hier sei nur darauf verwiesen, dass Christen in weiten Teilen der Welt keine verschwindende Minderheit darstellen, sondern an der Gestaltung der Wirklichkeit beteiligt sind. Ein gesellschaftlicher Rückzug, wie ihn die frühen Christen teilweise notgedrungen leben mussten, kann keine Alternative mehr sein. Diese Situation hat ganz konkrete Auswirkungen auf die ethische Praxis, wie sich am Begriff des Nächsten zeigen lässt. Die Globalisierung, die Kommunikationsmöglichkeiten und die grenzenlose Mobilität haben den Begriff des Nächsten zu einem Universalbegriff werden lassen. Wenn Nächster- Sein bedeutet, jedem in Not Geratenen zum Nächsten zu werden, dann ist gegenwärtig keine Grenze mehr gesetzt außer der des eigenen Vermögens. Selbst ein so zentraler Begriff wie der des Nächsten ist keineswegs unabhängig von hist. Prozessen. Es kann sehr wohl nötig sein, ihn vor Entleerung durch Überlastung zu schützen, und zwar um der Nächstenliebe willen. Darin aber wird ein eigener Aspekt der bibl. E. greifbar: der kreative Umgang mit dem Vorgegebenen, das sich als gut erwiesen hat. Was man sehr wohl aus der bibl. E. lernen kann, ist die Freiheit, mit ihr zu leben. Sie ist keineswegs statuarisch, sondern als Weisung zum Leben eignet ihr Lebendigkeit, die sich in konkreter Lebenswirklichkeit entfalten kann. Es geht eben nie um die einfache Umsetzung, sondern um die je neu zu findende Form, sie in die Gegenwart zu bringen. Dass dies gelingen kann, ist letztendlich nicht anders begründbar als die bibl. E. selbst: Diese Praxis kann nur aus der Gewissheit im Glauben geschehen, dass der Mensch nicht allein gelassen ist, sondern Gott mit ihm ist. Das ist demnach das Unveränderliche der bibl. E.: Sie ereignet sich vor Gott und kann gelebt werden, weil sie nur das bezeugt, was Gott vorher schon gegeben hat. I.+II. F. Crüsemann, Maßstab: Tora, Gütersloh 2003; W. Dietrich, Theopolitik, Neukirchen-Vluyn 2002; R. K. Harrison (Hg.), The Encyclopedia of Biblical Ethics, New York 2003; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994; ders., Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: ders./s. Uhlig (Hg.), Kontinuum und Proprium, Wiesbaden 1996, ; J. Schreiner, An deinen Geboten habe ich meine Freude, Würzburg III.+IV. J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, Freiburg 2001; R. K. Harrison (Hg.), The Encyclopedia of Biblical Ethics, New York 2003; M. Pfeiffer, Einweisung in das neue Sein, Gütersloh 2001; J. J. Pilch/B. J. Malina (Hg.), Handbook of Biblical Social Values, Peabody ; W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen Angelika Berlejung (Vorbemerkung) / Rainer Kampling (I IV) Geschichte (G.) / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte Zugeordnete Begriffsartikel: Anfang/Ende, Diaspora, Erwählung, Ewigkeit, Exil/Verbannung, Exodus, Israel/Juda, Väter, Verheißung-Erfüllung, Vorsehung, Zeit. Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte I. AT: Für das AT wie für den vor-hell. AO gab es weder die Subjekt-Objekt-Spaltung noch die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem und damit auch nicht die Unterscheidung von story und history. Im Gegensatz zu Herodot, der das in Erfahrung Gebrachte kritisch kommentiert, können sich bibl. Autoren zwar selbst in den Text hineinschreiben, sich aber nicht kritisch über das
30 18 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte Überlieferte äußern. Weder die Bibel noch der Alte Orient kennen zudem eine Trennung von Schöpfung einerseits und G. andererseits. Dies wird bes. daran deutlich, dass auch die Schöpfungsordnung nicht beschrieben, sondern erzählt (vgl. Gen 1,9f P; nicht-priesterliche Texte in Gen 2 4 und 8) oder hymnisch gefeiert wird (z. B. Ps 8; 19,2 7; 33,6 9; 74,12 17; 89,11 13; 95,3 5; 96,5.10; 102,26 28; 104; 136,4 9; 146,6). Unbekannt war ferner die Möglichkeit, die Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne die sie begründenden, erhaltenden und korrigierenden Götter zu denken. Ein Wort für G. gibt es im bibl. Hebr. nicht. Hebr. dabar ist das Wort wie die Sache, um die es dem Wort geht. In der P wird toledot Genealogie als Überschrift von Geschichtsabschnitten und damit zu einer Epochen-Gliederung verwendet (Gen 5,1; 10,1; 11,10; 25,12; 36,1.9; anders 6,9; 11,27[!]; 25,19; 37,2[!]). Hier deutet sich ein an der Mehrung und Bewahrung von Leben orientiertes Verständnis der G. im Sinne der Entfaltung des in Gen 9,1.7 wiederholten und modifizierten Schöpfungssegens von Gen 1,28 an, ergänzt um strafende (Gen 6,11 13; Ex 14,4.17f) oder Heil setzende Eingriffe Gottes (Gen 17; Ex 6,2 8; 25,8f; 29,43.45f; Jos 18,1). I. 1. Für die ao. Historiographie galt das Tiglatpileser-Prinzip (B. Halpern): Da die Götter mitlesen, kann man nicht direkt die Unwahrheit sagen, dem menschlichen Publikum ist die ganze Wahrheit aber nicht zumutbar. Im Zuge der Entstehung des AT bildeten sich Traditionskerne heraus, die von späteren Bearbeitern berücksichtigt werden konnten und manchmal mussten, aber im Rahmen ihres Welt- und Wirklichkeitsverständnisses keine hinter den Erzählungen zu vermutenden Fakten. Vielmehr konnte jede G. auch ganz anders nach- oder eher neuerzählt werden (vgl. noch 2 Makk 2,1 8; Jdt 1f; Tob 1,3 22; 14,12 15 und die ntl. Evv.). Theol. entscheidend sind bibl. Erzählungen nicht als bruta facta, sondern ist die Zeichenhaftigkeit des Erzählten im Rahmen des jeweiligen rel. Systementwurfs. G. ist somit stets durchsichtig auf Gott hin. Bibl. Geschichtsdarstellung folgt ferner dem Grundsachverhalt rel. Rede, wonach von Gott und seinem Handeln niemals deskriptiv (objektivierend beschreibend), sondern immer nur adskriptiv (engagiert zuschreibend) die Rede sein kann: als Lob des göttlichen Handelns in einer als Gnade erfahrenen Welt bzw. als Klage über das Ausbleiben oder die Unerkennbarkeit solchen Handelns in einer als Verhängnis erfahrenen Welt. Aus der Aporie, dass deskriptive Rede von Gott schlechterdings nicht möglich ist, führt die Bibel nicht hinaus, sondern mitten in sie hinein. Wie im AO oder in Ägypten so entwickelt sich auch im Alten Israel ein Bewusstsein vom Fortschreiten der Zeit als unumkehrbarer Prozess: Das AT kennt nicht nur eine stiftende Urzeit als Entstehungszeit der tragenden Ordnungen (K. Koch), von der die qualitativ andere Jetztzeit unterschieden ist, sondern weiß auf dem Hintergrund dynastischer Königsfolge und unter dem Eindruck polit.-militärischer Ereignisse auch um das unwiederbringliche Fortschreiten der menschlichen Zeit. Neben dieser fortschreitenden Zeit gibt es freilich auch die menschliche Existenz beeinflussenden Ereignisse und Gegebenheiten, die ohne augenscheinliche Progression regelmäßig wiederkehren (Ernte, Vegetationszyklen). Da sowohl Ereignisse der progressiven Zeit (etwa Thronbesteigung) als auch regelmäßig wiederkehrende Gegebenheiten (z. B. Jahresfeste, Fest) rituell begangen wurden, bindet der Kult zyklische und lineare Elemente wahrgenommener G. zusammen. Nicht umsonst ist im AT die Kombination heilsgesch. (im Sinne der stiftenden Urzeit ) begründeter Motive mit zyklischjahreszeitlich verankerten Elementen bei der Ätiologie der großen Feste zu beobachten (z. B. Dtn 16,1 15; Ex 12f; Lev 23,42f; Ps 81; Dtn 5,12 15). Die aufgeklärte Skepsis eines Koh, wonach es für die menschliche Existenz zwischen Wechsel, Dauer und Vergessen nichts Neues unter der Sonne gibt (Koh 1,4 11) ist in dieser Hinsicht durchaus eine Ausnahme. I. 2. Die Vorgeschichte Israels beginnt mit dem anbrechenden Zerfall des ersten mediterranen Wirtschaftssystems ( v. Chr.). Primärbeleg für Israel ist ein Siegeslied des Pharao Merenptah 1208 v. Chr., der einen zentral- oder nordpaläst. Stamm dieses Namens vernichtete. Gruppen von outlaws (die hapiru der äg. und akkad. Texte) bildeten Banden im Bergland und lebten von den Überschüssen des städtischen Systems. Unter verstärktem äg. Druck ( Exodus)
31 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte 19 schlossen sich seit dem 13. Jh. v. Chr. die bislang sippen- oder bandenmäßig organisierten Lokalnomaden zu Stämmen zusammen. Diese gerieten im 11./10. Jh. v. Chr. in den Einzugsbereich wieder auflebender polit. und ökonomischer Machtzentren an der Küste. Nach der Ablösung der Philister als regionaler Machtfaktor begann der Aufstieg des zentralpaläst. Israel bzw. Juda v. Chr. kamen Israel (als Provinz Samaria) und 597/587 und 582 v. Chr. Juda unter das Diktat fremder Mächte (Assyrer, Neubabylonier), später unter das Diktat von deren polit. Erben (Perser, Griechen und Römer). All dies bildet zwar den hist. Rahmen, nicht aber den unmittelbaren oder alleinigen Stoff bibl. Geschichtsdarstellung. Vielmehr ist diese zugleich mythisch, als sie Erzählungen mit göttlichen Protagonisten darstellt, und ätiologisch, als es ihr um die Legitimation von polit. Ordnungen (z. B. Priestertum, Königtum, Priester, König), rel. Praktiken (z. B. Sabbat, Pascha; Feste) oder ethischen Haltungen (Sorge um Arme; Ethik) in ihrer damaligen Gegenwart geht. Die bibl. Geschichtsentwürfe sind stets auch rückwärtsgewandte Prophetie, in der die erzählte Welt der Gegenwart ein Ideal (oder einen Spiegel) vorhält, um sie zu motivieren, ihre polit. Zukunft den Vorstellungen der Erzähler entsprechend zu gestalten. Formal bestand Geschichtsschreibung im AO und damit auch in Israel und Juda vor allem aus Annalen (hebr. dibre hajjamim Tagebücher, Tagesereignisse ), die am Hof geführt wurden. Im Fall von Israel, Juda und ihren Nachbarn liegen uns nur noch Annalenexzerpte vor in Inschriften (Mescha, Schiloach) und, mit weithin unsicherer Identifikation und Abgrenzung, in der Bibel (vgl. 1 Kön 15,7 u. a.). Veröffentlichte G. bestand aus Prunkinschriften, in denen ein Herrscher seine Leistungen und seine Gerechtigkeit (als Vollstrecker und Vollender der Weltordnung) der göttlichen wie menschlichen Mit- und Nachwelt mitteilte. Die Bücher Sam-Kön stellen durch die redaktionelle Anordnung und Auswahl des Materials einen Geschichtskommentar dar mit dem Ziel, durch den Aufweis menschlicher Schuld den Untergang der Staaten Israel und Juda zu erklären und den Grund für einen auch nach 515 v. Chr. (Weihe des zweiten Tempels) und sogar nach 398 v. Chr. (Inkraftsetzung der Tora durch Esra) noch ausstehenden Neubeginn zu legen. In P und Chr liegt gelehrte Historiographie vor. P betreibt Mythochronographie, wie bes. aus dem Umgang mit der Zeit hervorgeht: Deutlich markierte Epochen (von Adam bis Noach; von Noach bis Terach/Abraham; von Abraham bis Mose; von Mose bis zum Tod Josuas) enden mit Israels Eintritt in sein Land, womit die Jetztzeit beginnt. Zugleich betont P: Israel bedarf als Gottesvolk und Tempel-Gemeinde keines Königtums (gegen Sam-Kön), und Jhwh ist der Schöpfer und Erhalter der ganzen Welt, nicht nur der Nationalgott Israels, und als solcher kein Kriegsgott (gegen Ex 14). Durch den Titel dibre hajjamim ist Chr als Historiographie charakterisiert. Zugleich ist Chr aber Midrasch, d. h. kreativ-narrative Auslegung des ihr bereits vorgegebenen Kanons von Tora und Propheten. Neben P und Chr finden sich Erzählkomplexe, für die kein besserer Ausdruck als Historien im Sinne von ursprungsmythischen Geschichtserzählungen zur Verfügung steht: die Väter-, Exodus-Josua-, Retter- und Davidhaus-G. Indem diese Geschichten von der Vergangenheit erzählen, entwerfen sie zugleich Modelle für die Existenz Israels/Judas in Gegenwart und Zukunft. I. 3. Die Arten und Mittel göttlichen Handelns in Schöpfung und G. stellen sich wie folgt dar: Eigenhändig formt Gott den Himmel (Jes 45,12), den Menschen, die Tiere und die Frau (Gen 2, f), macht dem ersten Menschenpaar Kleider (3,21), schließt die Arche hinter Noach ab (7,16), beeinträchtigt das Fahrvermögen äg. Streitwagen (Ex 14,25) und bewirft seine Feinde mit Steinen (Jos 10,11). Als kriegerischer Gott steht Jhwh in Kontinuität zu ao. und äg. Traditionen (Abb. 1). Weiterhin handelt und redet (Ps 19,2 5; 104,4)! Gott durch Mächte, die wir als Naturgewalten ansprechen würden, wie Wind (Ex 14,21), Regen (Hos 6,3; Am 4,7; Joël 3,23), Dürre (Jes 9,17 20; Am 4,6 9; Joël 1,17 20; Jer 14,12 u. a.), Heuschrecken (Am 4,9; Joël 1,2 11) und andere wilde Tiere (2 Kön 17,25; Jer 12,9; Ez 33,27), Erdbeben (Am 4,11) und Epidemien (Am 4,9.10; Jer 14,12 u. a.). Weiterhin handelt und redet Gott durch Menschen, nämlich Völker (Jes 9,10f; Jer 51,7; Hab 1,5 11), Könige (2 Sam 3,18; 2 Kön 14,27; Jer 27,8; 2 Chr 12,7), Häuptlin-
32 20 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte Abb. 1: Der kriegerische Month- Onuris als schlagender Gott. (Megiddo 7. Jh. v. Chr.). Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg u. a , Abb. 340b. ge (Ri 6,37) und Propheten (1 Sam 28,15.17; 2 Sam 12,25; 1 Kön 12,15; 16,7.34; 17,16; 2 Kön 14,25; Hos 6,5; 12,11). Insbes. die Tora und ihre Bestimmungen hat Jhwh durch Mose erlassen (z. B. Lev 8,36; 10,11; 26,46; Num 4, ; 9,23; Jos 14,2; 22,9; Ri 3,4; 1 Kön 8,53). Weiterhin handelt Gott durch Engel (Gen 16,7 12; Ex 14,19; 32,34; Jos 5,13 15; Ri 2,1 5; Ri 13,3 5; 2 Sam 24,16f; Tob 3,16; 12,12 15). So wie der Engel in manchen Kontexten auftritt, um den vorexilischen Anthropomorphismus Jhwhs zu mildern, werden die Engel von Ps 103,20f in Ps 104,4 ihrerseits de-anthropomorphisiert. Abstrakter ist das göttliche Handeln durch das Wort (bzw. den göttlichen Befehl; Ps 33,6), wodurch das Wort zu einem göttlichen Agens wird (Jes 55,11; vgl. Ps 147,18). Für uns weniger abstrakt erscheint göttliches Handeln durch den Geist (Ez 3,12 15; Sach 4,6) bzw. die Weisheit (Spr 8,22 31). In Weish 6,22 8,18; 10,15 11,4 ist sie einzige göttliche Wirkkraft in Schöpfung wie G. Im NT konzentrieren sich zahlreiche dieser Wirkweisen Gottes auf Jesus Christus, Gottes Boten und Repräsentanten (Hebr 1,1f). Anthropomorphismen werden zurückgedrängt bzw. verbinden sich nun mit Jesus (Lk 11,20). I. 4. Das Handeln Gottes in der G. ist eng mit dem Problem des Monotheismus verbunden ( Gottesvorstellungen): Nur bei oberflächlicher Betrachtung ist die Bibel monotheistisch. Sie ist dies erst in ihrem Entstehungsprozess geworden, freilich keineswegs vollständig. P vertritt einen inklusiven Monotheismus : Der für Israel unter seinem Eigennamen Jhwh ansprechbare Gott ist den übrigen Nachkommen Abrahams unter dem Namen El-Schaddai bekannt, den übrigen Kindern Noachs unter seiner generischen Bezeichnung Gott (so auch die nachpriesterlichen Texte in der Tora: Gen 16,13f; 21,33). Die dtn-dtr. Tradition verficht demgegenüber einen programmatischen Henotheismus (Ex 20,3; 34,14 16; Dtn 5,7; 6,14; Jos 23,7; 24,2.15; Ri 11,24 u. a.), d. h. Israel soll nur einen, nämlich seinen, Gott verehren und keinen anderen. Konsequent monotheistische Texte in der Bibel finden sich nur in redaktionsgesch. ganz späten Texten (Dtn 4,35.39; 1 Kön 8,60; Jer 2,11; 10,11.15; Jes 44,6 8; 45,18 25). Im Rahmen des Polytheismus begrenzen sich die Götter gegenseitig: In Jos 10,12f* beschwört Josua den Sonnen- und Mondgott, Jhwh nicht zu behindern; in Ri 11,24 begrenzen Jhwh und Kemosch gegenseitig ihre Länder. Ein Gott kann aktuell (so in Jos 10,12f*) oder generell als Höchster Gott sich anderen als überlegen erweisen (Ex 15,11; Dtn 32,8f; Ps 29; 82; 86,8; 135,5). Der sich als Sieger im Chaos-Drachenkampf (Ps 74,13f) als Höchster Gott qualifizierende Schöpfergott versieht nicht nur im AT zugleich die Rolle des Bewahrers des Imperiums, indem er dessen aktuelle Feinde als Chaosmächte immer wieder niederwirft (Ps 47; 96; 98 u. a.). Die theol. Rede vom Handeln der Götter in der G. ist vor-bibl. und vor-monotheistisch. Im Rahmen des Monotheismus führt sie zu dem Problem, ob alles, was geschieht, Gottes Willen entspricht. Dieses Problem hat der Ijob-Dichter als einer der Ersten thematisiert. I. 5. In der Rolle der von Gott begrenzten, ihn aber auch ihrerseits begrenzenden Widersacher fungieren in der Bibel das Chaos sowie die Menschen. Das bei der Schöpfung eingegrenzte Chaos (Gen 1,1 5 t e hom) behält auch in der Schöpfung seinen Platz (vgl. Ps 104,20 23; vgl. Behemot und Leviatan in Ijob 38 41). Gottes Absichten mit den Menschen (Gen 2 8) und mit seinem Volk (vgl. Hos 2,4 17 mit Ez 20,6 38; Hos 5,13 6,6; 9,10) werden von diesen immer wieder durchkreuzt, sie bereiten ihm Mühe (Jes 43,24). Zugleich weist P jedem Menschen die königliche (Gen 1,26!) Rolle des Mit-Bewahrers der Schöpfung zu ( Ebenbild). Den Weisen des AO war die in Kosmos und Staat erkennbare Ordnung zureichende Richtlinie göttlichen und menschlichen Handelns ( Weltbild). Mit der Einschaltung der Gesetzessammlungen (Bundesbuch, Heiligkeitsgesetz, Dtn)
33 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte 21 in die Ex-Jos-Gesch. und die nachpriesterliche Tora sowie mit der Tora als Offenbarungsinhalt nimmt eine Verrechtlichung des Gottesverhältnisses ihren Anfang. Gott wird nun gleichzeitig Protagonist in der G., Schiedsrichter wie auch Verfasser der Regeln, an die er sich als Schiedsrichter zu halten hat. Man kann nachpriesterlich die Gabe der Tora als eine gnädige Selbsteinschränkung Gottes verstehen (Ps 44; 77), analog zu seiner Anwesenheit und Ansprechbarkeit im Heiligtum ( Tempel). Problematisch wird die Dreiheit von Gott, Volk und Tora dann, wenn Israel die Tora nicht mehr empfängt in Stellvertretung aller Welt (anvisiert in Jes 2,3/Mi 4,2; Jes 24,5; 42,4), sondern zur Steigerung des eigenen Selbstgefühls (Ps 147,19f). Dieser Gefahr will Dtn 7,7f; 9,4 8 begegnen. Bemerkenswert ist die dtr. Konstruktion, wonach das Verhältnis zum Gesetz (Dtn 12) über Wohl und Wehe der Staaten Israel und Juda entschieden haben soll, wobei alle anderen Teilnehmer der Weltgesch. nur Mittel sind, deren sich Jhwh zum Zweck der Auseinandersetzung mit dem eigenen Volk bedient. Hier droht eine Berechenbarkeit Gottes, gegen die sich Ps 44 (betroffen) und der Jona-Autor (ironisch) auflehnen. Die dtr. Ideologisierung der eigenen Partikularität wird letztlich überwunden durch die gegenseitige Durchdringung von Tora und Weisheit, die am Ende zu ihrer Gleichsetzung führt, sodass Tora nun in der Schöpfung kodiert und damit allen Menschen (guten Willens) zugänglich ist (Ps 19; 119; Sir 1,1 10; 16,24 17,14; 24,23). Das paradigmatische Geschichtsverständnis, in dem die Vergangenheit bereits die Modelle für jede mögliche Zukunft enthält, erwartet, dass Gott in der Gegenwart (oder der nahen Zukunft) so handelt, wie er es nach den überlieferten Geschichten bereits zuvor getan hat (vgl. die Rede vom neuen Exodus ). Dieser Erwartung treten allerdings P (und Koh) entgegen: Mit dem Abschluss der Urgeschichte Israels Jos 18,1 ist die Welt geworden, wie sie ist und zukünftig bleiben soll. Das Ende der G. hat sich bereits in der Sintflut ereignet, an deren Ende Gott den Bogen, mit dem er Israels Kriege geführt hat, zum Bogen in den Wolken umwidmet. Nachdem Tora und Landgabe einmal zum Zentrum von Israels G. geworden waren, erforderte der Gedanke eines Endes der G. die Überbietung oder Ablösung von Sinaibund und Tora (Jes 42,6; 49,8; 54,10; 55,3; 59,21; 61,8; Jer 31, ; Ez 34,25f; Hos 2,18). Schließlich wird in der Apokalyptik die ganze bisherige G. zum determinierten Monodram eines allmächtigen Gottes, aus deren mechanischem Ablauf auch die Zukunft vorhersagbar und jegliche Freiheit Gottes wie der Menschen geopfert wird. Erkenntnis göttlichen Handelns und der Vergangenheit ist nur durch Offenbarung möglich (Jes 43,9; vgl. 1 Chr 29,29; 2 Chr 9,29; 12,15; 13,22; 26,26; 32,32), oder sie ist, wenn Offenbarung als Erkenntnisquelle abgelehnt wird (Koh 5,6; 6,12; 10,14), eben gar nicht mehr möglich (Koh 1,11; 3,11; 7,24; 9,4). Obwohl die Unterscheidung zwischen Geschehen und G. den bibl. Autorinnen und Autoren nicht zur Verfügung stand, werden Rollenzuweisungen an Gott schon im innerbibl. theol. Diskurs problematisiert (Ps 44; Koh 7,10 gegen 1 Kön 3 10; Koh 1,4 11; 3,1 8.14f; Gottesvorstellungen). Für Koh ist die G. schlicht miqrm Zufall (2,14f; 3,19f; 9,2f). Gottes Hand in der G. ist auch nach prophetischer Auffassung nur für jene zu erkennen, denen er sie offenbart (Jes 43,9). Erkenntnismöglichkeiten des Gotteswillens und Gotteshandelns sind kultisch (1 Sam 28,3.6) oder prophetisch und stehen nicht immer zur Verfügung (Dan 3,37 LXX) bzw. widersprechen sich (1 Kön 22; Jer 23,9 32; 28). Die Lösung des Prophetengesetzes (Dtn 18,9 22), wonach die Zukunft zeigen wird, welche Prophetie in Erfüllung ging und so erweist, welcher Prophet wahr gesprochen hat, verhalf nicht zur sicheren Entscheidung bei Problemen. Die Erfüllung einer Vorhersage des Propheten kann nicht sui generis auf alle Vorhersagen des Propheten übertragen werden. Überzeugte Anhänger eines angezweifelten Propheten konnten entgegnen, dass bei der Falsifikation einer Vorhersage der Zeitrahmen zu eng gewählt worden ist (Tyrus wurde nicht, wie Ez erwarten lässt, von Nebukadnezzar erobert, aber dafür 332 v. Chr. von Alexander). II. NT: Wie der jüd. Glaube ist auch der christl. geschichtsbezogen. Zahlreiche Schriften des NT erzählen G., andere beziehen sich in pragmatischer oder päd. Absicht auf Ereignisse in der G. Doch wird dabei nirgends G. an sich thematisiert. Der Gott des NT ist nicht in bloß allgemei-
34 22 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte nem Sinn als gesch. Gott zu begreifen, sondern ganz spezifisch als der Gott Israels, der in der konkreten G. des irdischen Jesus von Nazaret als dem Christus ( Jesus Christus) für alle Menschen handelt. Das für das NT materiell und konzeptionell primäre gesch. Ereignis sind Leben und Wirken Jesu von Nazaret, die zumindest nach Paulus geradezu die Selbstbestimmung Gottes (U. Luz) darstellen. Das Ineinander von Partikularität und weltumspannendem Horizont ist untrennbarer Bestandteil des frühchristl. Geschichtsverständnisses und setzt so unter neuem Vorzeichen das atl. Geschichtsverständnis fort. Wo G. im NT thematisiert wird, wird sie stets zugleich gedeutet und Gottes Handeln darin bekannt (vgl. die Geschichtsrückblicke in Apg 7; 13 mit jeweils christologischer Spitze). So konfessorisch und tendenziös ein solcher Umgang mit G. auch anmuten mag (und so wenig objektiv er im modernen Sinne tatsächlich auch ist), er schafft nicht zuletzt immer wieder den Freiraum, die von Gott her und auf Gott hin transparente G. gegen die konkret erfahrene G. zu wenden und Geschichtsbetrachtung zum Motiv konkreten kritischen Handelns und Hoffens zu machen. Geschichtsdeutung ermöglicht in bibl. Tradition immer zugleich Orientierung in der Zeit und Gestaltung der Gegenwart. II. 1. Zentraler Inhalt ntl. Geschichtsdarstellung sind das Wirken und das Geschick Jesu von Nazaret (Evv.), daneben auch Ereignisse aus dem Leben der ersten Zeugen (Apg). Schriftliche Darstellung und mündliche Verkündigung der Ereignisse um Jesus stehen dabei in einem komplementären Wechselverhältnis (vgl. Mk 1,1 mit 16,7; 1 Kor 15,3 5.11), ihre Bezeichnung als Ev. bindet den kommunikativen Prozess von Verschriftlichung und Vermündlichung im Horizont der voranschreitenden G. Gottes mit den Menschen zusammen (vgl. Mk 1,14f; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). Die G. Jesu wird nicht als bloß vergangene Historie verstanden, sondern stets als präsente Wirklichkeit, als Anrede an die Menschen und als Zeitansage. Doch ist nicht das Kerygma Grund und Beginn christl. Geschichtsdarstellung, sondern das erinnerte Leben des irdischen Jesus bleibt Grundimpuls und Inhalt des Kerygmas. Vor einer isolierenden Überbewertung der Auferstehung als angeblich produktiver Initialzündung christl. Geschichtsdenkens ist daher zu warnen. Ebenso schließt der Prozess vergegenwärtigender Erinnerung nicht aus, sondern ein, dass Traditionen erfunden werden können. Insofern impliziert der bibl. Traditionsbegriff nicht nur die sorgsame Weitergabe von Überliefertem, sondern eben immer auch seine kreativschöpferische Gestaltung. Faktum und Fiktum sind zwei Elemente innerhalb desselben Traditionsprozesses, die sich nicht trennen lassen. Das NT unterscheidet sich hier nicht vom AT und dem zeitgenössischen Judentum. Die Methoden der Geschichtsdarstellung (Evv. und Apg) sowie der Geschichtsdeutung (bes. Paulus; Hebr; Offb) sind im NT überwiegend atl. geprägt, wenn auch die Rezeption des AT im Christentum als Altes Testament dessen lit. Eigenart wie theol. Intention verschiebt, zumal für die meisten ntl. Autoren nicht der hebr. Textbestand, sondern die griech. Übersetzung (Septuaginta = LXX) als Grundlage eigenen Nachdenkens maßgeblich war. Dennoch stellt das AT mit seinem unerschöpflichen Reservoir an Metaphern (E. Reinmuth) weiterhin die konzeptionelle und materielle Basis für eine höchst komplexe Aneignung und Deutung bibl. Heilsgesch. bereit. Die Rezeption des AT durch das frühe Christentum vollzieht sich in selektiver Kontinuität, in Anknüpfung und Abgrenzung zu den Geschichtstraditionen Israels wie auch in kreativer Auseinandersetzung mit konkurrierenden, sich auf das gleiche gesch. Erbe berufenden Gruppen des Judentums. Die Bedeutung dieses Prozesses für die Formierung des frühen Christentums kann nicht überschätzt werden. Der Bezug auf die gemeinsam-umstrittene G. hat unweigerlich zugleich soziale Implikationen. Indem gedeutete und vergegenwärtigend beanspruchte G. Sinn und Legitimität für konkrete Menschen und ihre Lebensweise vermittelt, konstruiert sie zugleich deren eigene Identität wie auch die der jeweils Anderen. Das Postulat, das NT sei die lineare oder gar vom AT her einzig notwendige oder legitime Fortsetzung atl. G., ist angesichts der vielfältigen Nachgeschichte der hebr. Bibel anachronistisch und hist. gesehen pure Fiktion. Das Xdei, er musste, in Lk 24,26 ist eine für die Selbstdefinition des frühen Christentums freilich zentrale Glaubensaussage aus der Rückschau (vgl. auch Joh 2,22),
35 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte 23 keine Beschreibung unausweichlich ablaufender hist. Entwicklungen ( Verheißung und Erfüllung). Mit U. Luz kann man die G. Jesu als stiftende Urzeit begreifen, von der aus vergangene Gottesgeschichte neu interpretiert wie auch gegenwärtige Praxis legitimiert wird (vgl. 1 Kor 11,23 25). Bei der Neuinterpretation treten nicht nur zentrale Elemente der Geschichtsüberlieferung Israels zurück (Landnahme, Exodus; vgl. aber Apg 7; 13,16 25; Hebr 11) oder verlieren ihre Eigenständigkeit (vgl. die Reklamierung der Davidstradition in christologischen Hoheitstiteln oder der Priestertheol. im Hebr). Oft wird die G. Israels der G. und Bedeutung Jesu sogar akzentuiert gegenübergestellt (vgl. 2 Kor 3,4 4,6; Röm 10,4 15; Joh 1,17; Hebr 3,1 6; 4,1 13) oder werden atl. Heilstraditionen perspektivisch auf Christus und die Christen bezogen (Gal 4; Röm 4: Abrahamtradition). Daneben findet sich jedoch auch eine positive Anknüpfung an Gottes Verheißungen an Israel (Röm 9 11; Mt 1 2). Im griech. Sprachraum gab es zwar eine beeindruckende Praxis der Geschichtsschreibung von Thukydides bis Diodor, aber keine gleichwertige Theorie der Historik. Bei Herodot heißt Wstor2ai noch meine gesammelten Interviews und Nachforschungen, für Aristoteles (poet. 9,1451a36 b11) schreiben Historiker einfach auf, was gewesen ist. In hell. Zeit entwickeln sich unterschiedliche Gattungen von Historiographie (Universalgesch., Monographie, Lokalgesch., Memorabilien, Biographien) mit z. T. ganz eigener Tendenz ( tragische, mimetische oder pragmatische Geschichtsschreibung). Hell. Historiographie liegt in 1 Makk vor, erbauliche Popular-Historiographie in 2 Makk, hist. Romane etwa in Judit und Tobit. Für Josephus (Ios. c.ap. 1,37 43) sind die prophetischen Historiographen des AT ihren nichtjüd. Kollegen bei diesem Geschäft dadurch überlegen, dass ihnen die göttliche Inspiration zu Widerspruchsfreiheit und Irrtumslosigkeit verhilft ( Offenbarung). Die ntl. Evv. lehnen sich an Biographien an und gehören daher zum weiten Bereich antiker Geschichtsdarstellung. Von bes. Bedeutung für Mk als der ältesten Evangelienschrift ist dabei der Versuch, Tradition zu sichern und durch die Betonung des Leidens Jesu, der als verborgener, aber wiederkommender Menschensohn gilt (vgl. die Färbung der Jesusüberlieferung durch Motive der Passionsgesch.), zu deuten und für die Gemeinde so Orientierung zu schaffen. Mt ist ihm darin im Prinzip gefolgt, betont aber noch stärker die Verwurzelung seiner Jesusgeschichte in der Gottesgeschichte mit Israel (Reflexionszitate), wenn er dem konkreten Judentum auch deutlich kritischer gegenübersteht (Mt 23). Joh entwirft durch seine inhaltliche Eigenständigkeit nicht nur eine von den Synopt. möglicherweise unabhängige Fassung der Jesusgeschichte, er stellt mit seiner eigenständigen Sprache und seiner tiefsinnigen theol. Durchdringung darüber hinaus eine stark vergegenwärtigende Interpretation vergangener G. dar. Die Jesusgeschichte wird kaum in ihren gesch. Kontext eingeordnet (wie bes. bei Lk), sondern ist stets transparent auf die G. des präexistenten Gesandten des Vaters hin. Allein das lk. Doppelwerk präsentiert sich im NT als Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn und greift dabei sowohl Elemente atl. Geschichtsdarstellung ( LXX-Griechisch ; heilsgesch. Rückblicke) als auch hell. Historiographie auf (Proömien Lk 1,1 4; Apg 1,1 3; Synchronismen wie z. B. in Lk 3,1f; Reden). Zudem sind Affinitäten zum hell. Roman (Reisebericht, Schiffbruch) und zur Triviallit. (großzügiger Gebrauch des Stilmittels Wunder ) vorhanden. In Lk 1,4 nennt der Verfasser klar die Intention seines Werkes und reflektiert dadurch zumindest indirekt über seine eigene Rolle als Historiker. Mit dem offenen, weil ausstehenden Ende der G. steht Lk zudem in der Tradition der Geschichtsreflexion von Röm 9 11 und transzendiert das im NT sonst vorherrschende einfache Schema von (vergangener) Verheißung und (gegenwärtiger) Erfüllung. Lk ist bes. daran interessiert, die konkrete Lebenswirklichkeit seiner handelnden Personen zu beleuchten und lässt Raum für Bezüge der G. Gottes zu der mit ihr verlaufenden Profangeschichte (Lk 3,1f; Apg 14,8 18 u. a.). In diese G. hinein ergeht die Rede Gottes (Lk 3,2; vgl. Hebr 1,1f), die ganz im Unterschied zu den in ihrer Beweiskraft ohnehin strittigen Wundern und Mirakeln (Lk 11,14 23 nach Mk 3,22 30) allein verbürgen kann, dass es wirklich Gott ist, der handelt. II. 2. Die Tatsache, dass Paulus in seinen Briefen
36 24 Geschichte / Geschichtsdarstellung / Heilsgeschichte keine eigene Jesusgeschichte erzählt, darf nicht als Unkenntnis oder theol. motiviertes Desinteresse am hist. Jesus missverstanden werden. Wichtige Grunddaten des Lebens und vor allem der Passion Jesu sind Paulus aus der Tradition durchaus bekannt (1 Kor 15,3 5). Als Gesandter Gottes von einer Frau geboren (Gal 4,4f), als Präexistenter, der sich erniedrigt hat und am Kreuz starb (Phil 2,6 11), als Davidssohn (Röm 1,3 5) und Offenbarer eschatologischen Wissens (1 Thess 4,15) ist ihm Jesus durchaus wichtig. Ob Paulus über diese kerygmatischen Grunddaten hinaus noch weitere Traditionen über Jesus kannte, muss offen bleiben. Zu Recht aber sagt U. Luz: Paulus teilt die grundlegenden Denkstrukturen der Evangelien: Die Geschichte Jesu ist auch ihm nur als Geschichte des geglaubten, erhöhten Herrn wirkliche Geschichte. Insofern kann Jesu Geschick auch transparent werden für die Erfahrungen und das Selbstverständnis des Apostels und der Christen (2 Kor 4,7 18; Phil 2,5). Das atl. Erbe, hier bes. die Tora, und die spezifische Deutung der G. Jesu von Nazaret werfen auch ein prägnantes Licht auf die gesch. Wirklichkeit des Menschen insgesamt. Der Mensch wird nicht an und für sich gesehen, sondern immer schon im gesch. Bezug auf den Gott, der ihn geschaffen hat und dessen Gebot er übertritt. Die tatsächliche Wirklichkeit des Menschen ist die der Entfremdung und Knechtschaft (Gen 3f; 6 8; Röm 7). Hinweise auf diese Situation des Menschen finden sich in allen Teilen des NT ( Anthropologie). Wenn nach Gal 4,4 mit dem Kommen Jesu die Fülle der Zeit eingetreten ist ( Eschatologie), dann bedeutet dies freilich nicht, dass die Situation der Welt objektiv das Eingreifen Gottes in bes. Weise erfordert hätte. Das alle menschliche Erwartung und Planung durchbrechende Kommen Jesu ermöglicht nicht nur die Rettung aus der Verstrickung, sondern ermöglicht auch produktive Erkenntnis der Beschaffenheit von Welt und G. (Röm 3,21 30). Das Neue Testament berichtet das Handeln Gottes nicht, um zu behaupten, dass dadurch die Welt besser geworden sei, sondern um ihr seine Rettung zu bezeugen (E. Reinmuth). Röm 9 11 steht in der Tradition prophetischer Geschichtskonstruktionen wie Hos 2; Ez 16 und 20, während das Schema Verheißung/Erfüllung des NT ohne den Kontrapunkt atl. Klage (Ps 44; 89) in die Gefahrenzone illusionistischer Wirklichkeitsblindheit gerät. So bleibt auch stets die visionäre Darstellung der heilvollen Zukunft in der Offb an die Bedrängnis der Gegenwart gebunden, die es konkret zu bewältigen gilt. Vor allem aufgrund des apokalyptischen Erbes des Judentums wird G. in frühchristl. Lit. nicht einfach von dem einen, alles entscheidenden Ereignis Jesus von Nazaret absorbiert, sondern behält seine weltumspannende Perspektive. Freilich wird G. in christl. Apokalyptik zugleich zugespitzt auf die Person des Erhöhten (Offb; Mk 13), der der Herr der G. und Bewahrer der Seinen ist. Selbst die Offb verzichtet auf eine bloße Darstellung der Endzeitereignisse, statt einer zeitlichen Abfolge bietet sie eine visionäre, auf den großen Umbruch in Kap. 19 hin sich dramatisch steigernde bildhafte Verschlüsselung (U. Luz; Eschatologie). Indem das NT wie auch das AT die Zukunft auf Gottes souveränes Handeln beziehen, bewahren sie davor, dass Hoffnung zur Ideologie funktionalisiert wird. Sosehr bibl. Autoren die Wendung der unheilvollen Gegenwartsgesch. durch Gottes zukünftiges Eingreifen ganz konkret erwarten, so wenig ist sie trotz aller Hoffnungen auf Rache und Vergeltung einfach bloße Projektion menschlicher Bedürfnisse. Die Unverfügbarkeit göttlichen Handelns entlastet den Menschen, der seine Zukunft nicht selbst schaffen muss, und weist ihn in seine Schranken, damit er sich nicht an die Stelle Gottes setzt und sich über seinen Nächsten erhebt (Gen 4; Röm 12,19 21). I. J. Assmann, Herrschaft und Heil, München 2000; ders., Das kulturelle Gedächtnis, München ; J. Barr, History and Ideology in the Old Testament, Oxford 2000; E. A. Knauf, Die Priesterschrift und die Geschichte der Deuteronomisten, in: T. Römer (Hg.), The Future of Deuteronomistic History, Leuven 2000, ; A. de Pury u. a. (Hg.), Israel Constructs Its History, Sheffield 2000; D. Ritschl/H. Jones, Story als Rohmaterial der Theologie, München 1976; G. Sauter/J. Barton (Hg.), Revelation and Story, Aldershot II. L. Alexander, The Preface to Luke s Gospel, Cambridge 1993; J. Jeska, Die Geschichte Israels in der Sicht des Lukas, Göttingen 2001; O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1992; U. Luz, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie IV: Neues Testament: TRE 12 (1984) ; D. Marguerat, The First Christian Historian, Cambridge 2002; A. Mehl, Römische Geschichtsschreibung, Stuttgart u. a. 2001; E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik,
37 Gottesvorstellungen 25 Leipzig 2003; B. W. Winter/D. Clarke (Hg.), The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, Grand Rapids u. a Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Gottesvorstellungen (G.) Zugeordnete Begriffsartikel: Angesicht/Schauen Gottes, Bilderverbot, Bund, Eigenschaften Gottes, Geist, Gnade, Göttin, Götze, Gottesbilder, Gottesknecht, Gottesnamen, Herrlichkeit, Herrschaft/ Königsherrschaft/Reich Gottes, Macht/Ohnmacht/ Vollmacht, Schöpfung, Segen/Fluch. Gottesvorstellungen I. AT: Gottheiten sind auf der Ebene komplexer Kulturen immer als handelnde Personen vorgestellt und damit in plausible Schemata eingebunden: Sie üben Herrschaft aus, sie reagieren in Zorn und Erbarmen, sie verbinden sich in Liebe mit anderen Göttern und auch Menschen, sie kämpfen, sie planen, sie altern und sie sterben sogar. Ihr Handeln lässt sich je nach Bereich und Funktion auffächern. Während Naturgottheiten (z. B. der Sturm- und Wettergott Baal) und Ortsgottheiten (z. B. Apollo von Delphi) an ihren jeweiligen Bereich gebunden sind und diesen repräsentieren, wird bei den großen persönlichen Göttern das Verhältnis von Gottheit und Bereich/ Funktion neu konzipiert. Es entstehen dabei Typologien der punktuellen Zuwendung ( End- Gericht und Erbarmen), der generellen Steuerung (Herrschaft, Schöpfung/Erhaltung) sowie der temporären/dauerhaften Erscheinungsweise Gottes ( Offenbarung/Verborgenheit). Diese Typologien sind das Ergebnis von Reflexionen, die sich als Vorstellungskomplexe bzw. Leitmotive in entsprechenden lit. Zusammenhängen (Erzählungen, Hymnen, Gebete, Rituale, Visionen u. a.) niedergeschlagen haben. Im Folgenden stehen das Alter bzw. der Ursprung (1.), die Entwicklung (2.), die Leitmotive (3. 4.) und die Einheit/ Vielfalt (5.) der atl. G. im Vordergrund. I. 1. Die Frage nach dem Ursprung der Gottesvorstellung(en) in Israel ist schwierig zu beantworten, weil sich Ursprünge rel. Vorstellungen in der Regel wiss. Beobachtung und damit auch Beschreibung entziehen. Sie treten auch im AT immer schon in reflexer Gestalt, d. h. immer schon lit. geformt auf. Zum Überlieferungskern der ursprünglichen Jhwh-Religion dürfte die mit dem Exodusereignis verbundene Erfahrung eines rettend eingreifenden Gottes gehören (Mirjamlied Ex 15,21b, vgl. die Rezeption in Num 24,6; Hos 11,1; 12,14 u. a.), die die späteren Schilfmeerund Exodusüberlieferungen aus sich herausgesetzt hat. Das hinter dieser Rettungserfahrung greifbare religionshist. Substrat scheint auf das positive Widerfahrnis vom Kommen und Eingreifen Jhwhs am Schauplatz der Not seiner Verehrer ( Exodusgruppe ) zu verweisen, für die es Strukturanalogien in den rel. Kriegserzählungen des AO gibt. Im Unterschied zu dem Ortsgott Jhw/Jhwh, der als Berggott an seine südostpaläst./ nordwestarab. Heimat gebunden war, ist der Gott des Exodus ein ortsunabhängiger Bezugsgott, der die an ihn Glaubenden befreit und durch die Geschichte begleitet. In der frühen E- Zeit ( v. Chr.) haben sich einer neueren Theorie zufolge zwei Gottestypen miteinander verbunden: der dynamische, temporär in Erscheinung tretende Sturm- und Kriegsgott vom Typ des kämpferischen Baal-Seth, zu dem der südostpaläst. Exodusgott zu rechnen ist (vgl. Ex 15,21b; Ri 5,4f; Ps 68,8f und Abb. 2), und der beständige, die ganze Welt erhellende Sonnengott, der sowohl in Mesopotamien (Šamaš) als auch in Ägypten (Re bzw. Amun-Re), Kleinasien (Sonnengöttin von Arinna) und möglicherweise im vordavidischen Jerusalem verehrt wurde. Die Sonnengottheit von Jerusalem ist als Gott der Gerechtigkeit (vgl. die alten Ortssagen aus der Umgebung Jerusalems wie Gen 19*, Namen wie Adoni-Zedek Jos 10,1 oder Texte wie Jes 1,21 26) auch der Gott der Daviddynastie (vgl. die judäischen Beamtensiegel mit der geflügelten Sonnenscheibe, s. Abb. 3). Der Weg Jhwhs an die Spitze des Pantheons und damit zur Vorstellung vom Abb. 2: Der kämpferische Gott Baal-Seth. Quelle: O. Keel/S. Schroer, Schöpfung, Fribourg 2002, Abb. 117.
38 26 Abb. 3: Beamtensiegel mit Flügelsonne (8. Jh. v. Chr.; s. auch Abb. 12). Quelle: O. Keel /C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 263b. Gottesvorstellungen einzigen Gott (judäischer Monotheismus, Bilderverbot) war allerdings weit. Er führte über die sog. Jhwh und nicht Baal -Bewegung des 9. (?) Jh. v. Chr. (vgl. 1 Kön 18,21), die prophetische Kritik am Baal-Kult (Hos 13,4), den religionsinternen Pluralismus von Hirbet el-kom und Kuntilet }Akrud (Polyjahwismus) zum monojahwistischen Bekenntnis von Dtn 6,4f und den Reformnotizen von 2 Kön 23*. Am Ende der komplexen Entwicklung stehen die monotheistischen Aussagen von Jes 43,10f; 44,6.8; Dtn 4,35.39 u. a. sowie die theol. Begründungstexte Ex 20,2 4par. Dtn 5,6 8, vgl. Dtn 4,12.15ff u. a. (s. Bilderverbot). Der judäische Monotheismus war deshalb durchsetzungskräftig, weil er integrativ war, d. h. weil es ihm gelang, die Ebenen des polit., des sozialen und des rel. Lebens aufeinander zu beziehen. I. 2. Mit dem Stichwort judäisch ist angedeutet, dass es traditions- und motivgesch. Differenzen zwischen Israel (Nordreich) und Juda (Südreich) gab. Sie zeigen sich u. a. bei der Frage nach dem Herkunfts-/Wirkungsort Jhwhs. Bewegt man sich auf der Ebene der erzählten Zeit und nicht auf der Ebene der in der Regel späteren Zeit des Erzählers, wie sie von der Literarkritik und Redaktionsgesch. rekonstruiert wird, so bietet sich etwa folgendes Bild: In der Frühzeit der Erzeltern- und Moseüberlieferungen stand als Leitmotiv die Rede vom Mit-Sein Gottes im Vordergrund (Gen 28,15, vgl. Gen 26,24; 31,3; 46,3 u. a.; Ex 3,12, vgl. die entsprechende Erklärung des Gottesnamens in Ex 3,14 und die Beistandsformel in Jos 1,5; Ri 6,13; 1 Sam 20,13 u. a.). Während die Theophanieberichte von einem Gottesberg im Süden als Herkunftsort Jhwhs wissen (Ri 5,4f; Hab 3,3; Ps 68,9), ist Jhwh nach Ex 3; der Gott vom Sinai bzw. Horeb (Bedeutung: wüst liegend > Ödland, Wüstengebiet als Ersatzname für Sinai in der dtn.-dtr. Tradition, vgl. Dtn 1,2ff u. a.). Mit der allmählichen Sesshaftwerdung verschiedener Stammesgruppen im mittelpaläst. Bergland, die u. a. den Glauben an den Gott Jhwh mitbrachten, änderte sich auch die Vorstellung vom Wohnort Gottes: Ist Jhwh zunächst dort, wo die Lade als bewegliches Symbol der Gegenwart Gottes bei den Seinen weilt (Jos 3,15; 1 Sam 3,3; 4,10ff u. a.), so gewinnt die Gegenwart Gottes mit dem Salomonischen Tempel gleichsam Stabilität und Dauer: Jhwh thront auf den Keruben (1 Sam 4,4; 6,2; 2 Kön 19,15; Ps 80,2; 99,1 u. a.), und der Tempel/ Zion ist die Wohnung Jhwhs (1 Kön 8,12f; Jes 8,18; Ps 46,6, vgl. Jhwhs Sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron Jes 6,1, vgl. Jes 2,2; Ez 43,7 u. a.). Mit der Zerstörung des ersten Tempels (587 v. Chr.) und ihrer folgenreichen Rückwirkung auf das rel. Symbolsystem zieht sich Jhwh gemäß dem vertikalen Weltbild in den Himmel zurück, wo er nunmehr thront (1 Kön 8,27 30; Jes 66,1f, vgl. Ps 11,4; 103,9 u. a.) und von wo aus er hört, sieht, spricht und handelt (vgl. Ex 19,18; 20,22; Dtn 26,15 u. a.). Der Schritt von dieser Konzeption zur Vorstellung von der Allgegenwart Jhwhs (Ps 139,8f, vgl. Am 9,2 [nachexil.?]) ist nicht mehr weit. I. 3. Die skizzierte Traditionsgesch. lässt sich noch von einer anderen Seite, nämlich vom Motiv der Einwohnung Gottes im Tempel/in Israel ( Schekina ) her beleuchten. Unter Rückgriff auf ao. Vorgaben von der Einwohnung der Gottheit in ihrem Kultbild ( Bild) tritt die Vorstellung der Schekina wohl zuerst in Jes 8,18 auf, wo vom Wohnen Jhwh Zebaoths ( Gottesnamen) auf dem Berg Zion die Rede ist. Die Gottesstadt mit dem Gottesberg Zion ist gemäß dem horizontalen Weltbild der Nabel der Welt (axis mundi), an dem die kosmische Ordnung gefestigt und vom Königsgott Jhwh gegen das andrängende Chaos bewahrt wird (vgl. Ps 46,6, Herrschaft). In der Prophetie des 8. Jh. wird die Vorstellung einer dauerhaften Einwohnung Jhwhs auf dem Zion/ im Tempel allerdings als Ideologie der Heilssicherheit gebrandmarkt, was dann bei Jeremia (Jer 7; 26) zur Kritik an der nationalrel. Tempelideologie und bei Ezechiel zur Vision vom Auszug der Herrlichkeit Jhwhs aus dem Tempel führt (Ez 10f*). Während die exil. Schekina-Theol. (ab
39 Gottesvorstellungen 27 Abb. 4: Der äg. Sonnengott als Hüter der Weltordnung. Quelle: O. Keel/S. Schroer, Schöpfung, Abb v. Chr.) aufgrund der Zerstörung des Tempels von der Einwohnung Jhwhs inmitten der Israeliten spricht, also die Orientierung an Israel als dem Volk Gottes in den Vordergrund rückt (Ez 43,7.9, vgl. Ps 74,1f; 1 Kön 6,12f; Ex 29,45f), kehrt die Schekina-Theol. der pers. Zeit ( v. Chr.) wieder z. T. zum Paradigma der tempelorientierten Schekina-Theol. der vorexil. Zeit zurück, bringt aber auch neue Elemente mit ein (Sach 2,9.14f; 8,3; Joël 4,17.21 u. a.). Eine letzte Stufe stellt die Schekina-Theol. der hell. Zeit (ab 333 v. Chr.) dar, die eine Verbindung von Weisheit und Zion leistet: Die Weisheit, die seit Spr 8,22ff als Mittlerin (Person, Hypostase, Göttin?) zwischen Gott und Welt auftritt, schlägt in Jakob ihr Zelt auf und hat in Israel ihren Erbbesitz (Sir 24,7 12). Damit ist der Boden sowohl für die frühjüd. (11QT 29,8 10; Jub 1,17 u. a.) als auch für die urchristl. Rezeption (Joh 1,14 u. a.) der atl. Schekina-Vorstellung bereitet. I. 4. Mit dem Thema Jerusalem/Zion ist die Vorstellung verbunden, dass Jhwh ein Gott der Gerechtigkeit ist. Zwar ist das Gerechtigkeitsmotiv älter, es hat aber im Jerusalem der mittleren Königszeit (8./7. Jh. v. Chr.) seine bes. Gestalt erhalten und dann die gesamte bibl. Tradition geprägt. Einer der zentralen Gerechtigkeitstexte des AT ist der (wohl nachexil.) Ps 82, der aufgrund der engen Verbindung von Gott und Gerechtigkeit (das Wesen Gottes wird geradezu von der Gerechtigkeit her definiert) sowie der Einbeziehung aller Völker in Jhwhs Gericht einen entscheidenden Schritt in der Geschichte der bibl. G. markiert. Ps 82 ist ein Erbe der prophetischen Gerechtigkeitstheol., wonach Jhwh, die Quelle der Gerechtigkeit, die Elenden und Armen aus der Gewalt der Frevler rettet. Mit dieser Vorstellung einer rettenden Gerechtigkeit wird das ao. Motiv vom Sonnengott als Hüter der Weltordnung, der gegen die Mächte des Feindlich-Bösen einschreitet und diese niederhält (s. Abb.4 5), rezipiert, aber im Horizont des Jhwh-Glaubens transformiert ( Gestirne). Man kann diese Transformation als Theologisierung der Gerechtigkeit bezeichnen, weil die Gerechtigkeit aus der sozialen und polit. in die theol. Sphäre transponiert und dem unmittelbaren Willen Jhwhs unterstellt wird. Dieses Motiv der göttlichen Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20) ist bereits in der vorexil. Prophetie (Licht-Recht-Relation Hos 6,3.5; Jes 1,21.26; Zef 3,5) und Namengebung belegt (vgl. die Beamtensiegel aus der Zeit Hiskijas mit dem Namen Abb. 5: Der mesopotamische Sonnengott Šamaš bei seinem Aufgang im Himmelstor. Quelle: O. Keel/S. Schroer, Schöpfung, Abb. 50.
40 28 Gottesvorstellungen Jhwh ist aufgestrahlt ). Die Beziehung Jhwhs zum (Sonnen-)Licht hebt zum einen den Aspekt der Universalität Gottes (vom Himmel herabblickend sieht der Sonnengott alles) und den Aspekt der Gerechtigkeit Gottes hervor (als himmlischer Richter ordnet der Sonnengott alle Bereiche der Wirklichkeit). Jhwh rückt vor allem dort in die Rolle des Sonnengottes ein, wo er bzw. der König als sein irdischer Repräsentant (Ps 72) als soziale Instanz gegen Ungerechte und Frevler gefordert war. I. 5. Abschließend drängt sich die Frage nach der Einheit der G. bzw. der Mitte des AT auf. Wenn mit der Mitte die eine Idee gemeint ist, unter der die verschiedenen Überlieferungen der Bibel Israels/des AT zusammengefasst werden sollen, dann gibt es keine Mitte, weil eine pluriforme Textsammlung wie die Bibel Israels/das AT nicht auf einen einzigen Begriff (wie Bund oder Gerechtigkeit) oder auf eine bestimmte lit. Größe (wie das 1. Gebot oder das Buch Dtn) reduziert werden kann. Wenn mit der Mitte aber die Sach- und Wirkmitte eines Geschehens gemeint ist, so ließe sich dieses Geschehen als Jhwhs Hinwendung zu Israel und Israels Antwort an Jhwh bestimmen (was sachlich der zweiseitigen Bundesformel von Dtn 26,16 19 entspricht). Unterhalb dieser Bezugsgrößen lassen sich alle theol. Leitmotive und zentralen Begriffe einordnen, die bei der Diskussion um die Mitte des AT eine Rolle spielen. Leitend ist dabei die Einsicht, dass der bibl. Kanon eine komplexe Größe ist, die so etwas wie eine kontrastive Einheit darstellt. Darin entspricht er der Polyphonie des atl. Redens von Gott, die ein Spiegel der Einheit Gottes in der Vielfalt seiner Äußerungen und der Vorstellungen von ihm ist. Eine Theol. des AT muss diese Polyphonie als einen im vorliegenden Text des AT stattfindenden Diskurs beschreiben (Diskurshermeneutik) und seine hist., sozialen und anthropologischen Aspekte zur Geltung bringen. II. NT: Im Vergleich mit den Schriften des AT, die eine jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte unterschiedlicher G. dokumentieren, ist das ntl. Zeugnis in einem sehr kurzen Zeitraum entstanden (ca n. Chr.). II. 1. Ausweislich der späteren Bezeichnung Neues Testament ist die entscheidende Bezugsgröße der ntl. G. das AT, aus dessen Sicht die Sendung Jesu, sein Tod und seine Auferstehung gedeutet werden. Die Gottesbotschaft des Juden Jesus von Nazaret steht grundlegend in der Kontinuität des bibl. Monotheismus, sie hat teil an dem vielschichtigen Gotteszeugnis Israels und setzt es durchgehend voraus: Der Gott Jesu ist der eine und einzige Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (Mk 12,26; vgl. Mk 2,7; 10,18; 12,24 31; Apg 3,13 15; 24,14), der Gott Israels (Mt 15,31), dem als Pantokrator alle Macht zukommt (Offb 1,8; vgl. Lk 1,32.35 der Höchste ; 1,49 der Mächtige ; Mk 14,62 die Macht ; vgl. Röm 1,20; Eph 3,20f; 1 Tim 6,15; 1 Petr 4,11; 5,11; Offb 5,13). Dies zeigt sich an den schöpfungstheol. Aussagen (Röm 1,18 32; 8,18 22; Mk 2,27; 10,6; Mt 6,26 30; Joh 1,1 18; Apg 17,24; Hebr 1,1 3; 1 Tim 4,4) und dem darin verwurzelten bibl. Menschenbild (der auf Gott hin geschaffene, erlösungsbedürftige Mensch) ebenso wie an dem durchgehenden Anspruch, in der Kontinuität der bibl. Verheißungsgeschichte zu stehen (Gal 3; Röm 4; 9 11; Hebr 1,1 3; vgl. die bibl. Geschichtstheol. in Mk 12,1 12; vgl. Neh 9,26). Nach ntl. Zeugnis ist es derselbe Gott, der in Treue und in Übereinstimmung mit seinem Handeln an Israel und zu seinen Verheißungen sich im Wirken Jesu von Nazaret seinem auserwählten Volk zuwendet, um es für die angebrochene Königsherrschaft Gottes zu sammeln. Es ist der Gott Israels, der in der Auferweckung Jesu aus den Toten an Jesus selbst handelt und so den unwiderruflichen Beginn der endzeitlichen Totenerweckung initiiert (1 Kor 15), der in seinem Messias Jesus den neuen Bund schließt und die eschatologische Heilsgemeinde des Neuen Bundes auch für Glaubende aus den Völkern öffnet. II. 2. Die Sendung Jesu zielt in allen ihren Dimensionen auf die verbindliche, heilsentscheidende An- und Zusage der in seinem Wirken schon jetzt Platz greifenden Königsherrschaft Gottes (Mk 1,15; 2,19; 4,1 34; Lk 7,22 23; 10,23 24; 11, ; 17,20; Herrschaft). Vor allem anderen geht es Jesus darum, dass allein Gottes heiliger Wille geschehe (Mk 14,36; Lk 11,2). Die Einzigkeit und Prärogative Gottes gilt es allen anderen Ansprüchen gegenüber zu bewahren, zu achten und zu ehren (Mk 2,7; 10,18; Mk 12,29f [= Dtn 6,4]; 12,32; Mt 23,9). Die Durchsetzung der
41 Gottesvorstellungen 29 vollendeten Gottesherrschaft hängt nach bibl. Überzeugung unmittelbar an der Anerkennung und wirksamen Achtung der Einzigkeit Gottes (vgl. Jes 43, f.21; 44,2.6; 45,5 7; 52,7; Dan 2,35; Sach 14,9). Allein dieser Gottesherrschaft dient Jesu proexistentes Wirken in Wort (Gleichnisse, Streitgespräche) und Tat ( Wunder, Zeichenhandlungen), im Leben und im Sterben. Charakeristisch für die Reich-Gottes- Verkündigung Jesu ist seine einfache, konkrete Rede von Gott, die Gottes Wirken mit alltäglichen Vorgängen und Erfahrungen vergleicht (Mk 4, ; Mt 6,25 34; 7,7 11; Lk 15,1 32). Jesus verkündet Gott als gütigen, verzeihenden und überreich beschenkenden Vater (Mt 7,11; Lk 6,38; 11,5 13; 15,1 32). Im Wirken Jesu wird eine unableitbare, einzigartige Sendungsautorität erkennbar, die in der radikalen Theozentrik und Proexistenz Jesu auf eine ihm eigene Gottesbeziehung und Gottunmittelbarkeit verweist (vgl. die Anrede Gottes mit Abba, Vater in Mk 14,36 und ihre Entfaltung in Joh). Die einzigartige Gottunmittelbarkeit Jesu wird nicht dadurch infrage gestellt, dass die Gottesanrede Abba in seltenen Fällen auch frühjüd. belegt ist ( Gottesbilder). Der Blasphemievorwurf gegenüber Jesus (Mk 2,7; 14,61 64; Joh 5,18; 10,33) zeigt in aller Schärfe, dass im Autoritätsanspruch Jesu die Einzigkeit Gottes angesprochen ist. Nach ntl. Zeugnis wurzelt die Vollmacht Jesu in seiner unmittelbaren Sendung durch Gott und erweist sich in rettenden Machttaten und einer verbindlichen Auslegung des Willens Gottes, wie er sich in der Tora und im Zeichen der nahen Gottesherrschaft für Jesus letztgültig zu erkennen gibt. Von diesem Gott verkündet Jesus, dass er Israel jetzt in seinem Wirken zum Gegenstand seines eschatologischen Erwählungshandelns macht (H. Merklein). II. 3. Die vier kanonischen Evv. nehmen bei allen eigenen Akzenten die Gottesverkündigung Jesu auf und integrieren die nachösterliche Verkündigung Jesu als Messias und Sohn Gottes. Ausweislich ihrer je eigenen Schriftauslegung im Horizont des Osterglaubens stellen sie das von ihnen verkündete Ev. Jesu Christi in die Gottesoffenbarung an Israel: In der Sendung, dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu offenbart sich der Gott Israels selbst in letzter, die Zeiten wendender Gültigkeit und Verbindlichkeit. Die Evv. verkünden den Messias Jesus als den Offenbarer Gottes schlechthin; bes. Joh profiliert Jesus als Selbstoffenbarung Gottes, in der Gott sich selbst auslegt (vgl. die Immanenzaussagen Joh 10,38; 14,10f.20; 17,21.23). Vor diesem Hintergrund wird die Übertragung von bibl. Prärogativen und Prädikationen Gottes auf Jesus Christus verständlich (Schöpfungsmittler, Herr, Retter, Richter, König, Hirt, Sündenvergeber, Lebensspender, vgl. die christologischen Hoheitstitel und die Vater/Sohn- Titulatur). Ohne Jesus Christus mit Gott zu identifizieren, finden sich Spitzenaussagen über die Teilhabe Jesu Christi am Wesen Gottes (Joh 1,1.18; 20,28; 1 Joh 5,20; Hebr 1,8 12; Tit 2,13; umstritten: 2 Petr 1,1; Röm 9,5; 2 Thess 1,12). II. 4. Die Kontinuität der ntl. Gottesverkündigung mit dem bibl.-frühjüd. Credo wird auch an der bes. bei Paulus aufgenommenen Gegenüberstellung des einen Gottes und der vielen Götzen erkennbar (vgl. schon Jer 10,1 16; Jub 21,3 5; Sib 3, ; JosAs 11,8 10): In der Annahme des Ev. trennen sich Heiden von ihrem bisherigen Götzendienst und wenden sich dem einen, wahren und lebendigen Gott zu (1 Thess 1,9f; 1 Kor 8,4 6; Gal 3,20; Röm 1,23 25; vgl. Apg 14,15; 15,19 20; 19,26; Eph 4,6; 1 Tim 2,5). Paulus wahrt in seiner Evangeliumsverkündigung die Selbigkeit und Einzigkeit Gottes (1 Kor 8,5f; 2 Kor 4,6). Dieses pln. Insistieren auf dem einen Gott und Vater (euwue<w Z pat:r; 1 Kor 8,6; vgl. Röm 3,29f) kann an jüd.-hell. G. anknüpfen (Sib 3,11 23; 3, ) und verletzt auch in der christologischen Verkündigung ein Herr Jesus Christus (euw k4riow; 1 Kor 8,6) aufgrund der durchgehaltenen Theozentrik (Phil 2,11; 1 Kor 3,23; 11,3; 15,27 28; Röm 6,10 11) nicht die Matrix des bibl. Monotheismus. Dem jüd.-christl. Monotheismus kommen zudem auch monotheistische Tendenzen in der griech. Philos. entgegen (Cic. rep. 3,22; vgl. die Rezeption in Weish 13,5 10; Ios. c.ap. 2, ; Philo spec. 1,41). Wie schwierig sich das Gespräch zwischen der christl. Verkündigung und der stoischen bzw. epikureischen Philos. erwies, zeigt sich in Apg 17,16 34, wo der lk. Paulus griech. Dichter zitiert (Arat.; Kleanthes Zeushymnus) und damit in frühjüd. Tradition steht (Philo LA 1,44; 3,4; Ios. ant.iud. 8,4,2). An der In-
42 30 Gottesvorstellungen kulturation des jüd.-christl. Monotheismus ist auch der Hebr interessiert, wenn er implizit das Gespräch mit den metaphysischen Traditionen des Mittelplatonismus führt. Für Paulus ist Jesus Christus der Kyrios (in Aufnahme der Gottesprädikation der LXX), der Sohn Gottes und die Ikone Gottes, in der Gott sich selbst offenbart (2 Kor 4,4; vgl. Kol 1,15; Hebr 1,3). In dem von Paulus verkündigten Ev. kommt Gottes Kraft zur Geltung (1 Kor 2,4f; Röm 1,16); Gottes Wort ist wirksam und mächtig (1 Thess 1,5; 2,13; 1 Kor 1,18; vgl. Hebr 4,12). In der Gegenwart des erhöhten Kyrios Jesus Christus und im Wirken des Geistes (vgl. 1 Kor 3,16; 12; 14) Paulus bezieht den Kyrios Christus und das Pneuma sehr eng aufeinander (2 Kor 3,17; vgl. Joh 4,24) wird die Nähe Gottes, unseres Vaters (Röm 1,7; 1 Thess 1,3), für die Christen in bes. Weise erfahrbar. II. 5. In dem Spitzensatz bibl. Theol. Gott ist Liebe (Z ue<w Bg/ph Est2n; 1 Joh 4,8.16; vgl. Joh 3,16) wird das Wesen Gottes als sich hingebende, sich verschenkende Liebe bestimmt: Es ist das Sichverströmen der stets sie selbst bleibenden Unendlichkeit (W. Thüsing). Schon Paulus hatte das Moment der schenkenden Liebe Gottes als primäres Charakteristikum seiner Gottesverkündigung betont (1 Thess 1,4; Gal 5,22; 2 Kor 13,11; Röm 1,7; 5,1 11; 8,31 39; 9,13; 11,28). Als liebender Gott erweist der Vater sich in seinem Sohn, der wiederum aus Liebe für die Rettung und Versöhnung der Menschen sein Leben hingibt (Gal 2,20; Joh 3,16) und so die Einsetzung in die Sohnschaft ermöglicht (Gal 3,26; 4,4 7; Röm 8,14 17) bzw. die Gotteskindschaft der Menschen erneuert (Phil 2,15; Joh 1,12f; 8,39.41; 11,52; 1 Joh 3,1 5.10; 5,2). Zu den Kennzeichen Gottes, die ihn selbst näher bestimmen, gehören nach ntl. Aussagen sodann: Geist ( Gott ist Geist, Joh 4,24); Licht ( Gott ist Licht ; 1 Joh 1,5); Gerechtigkeit (Röm 1,17; 3,21 26; 10,3); die Macht, Tote lebendig zu machen (Röm 4,17.24; 8,11; 2 Kor 1,9; 4,14; Hebr 11,19; Mk 12,24 27); Gericht (Röm 1,18 32; End-Gericht); Versöhnung (2 Kor 5,18 21); Treue (1 Kor 1,9; Röm 11,1 10); Frieden (Röm 15,33; 2 Kor 13,11); Barmherzigkeit und Trost (2 Kor 1,3); Gnade (1 Petr 5,10). II. 6. Im ntl. Zeugnis ist Gottes Geist die hintergründige Wirkkraft allen Heilsgeschehens: Er ruht in bes. Weise auf Jesus (Mk 1,10f; Joh 1,32; vgl. Jes 11,2); er führt ihn auf seinem Weg zu den Menschen; er erweckt ihn von den Toten (Röm 1,4) und leitet die apostolische Verkündigung (Apg); er begabt und inspiriert die getauften Glieder der Ekklesia (1 Kor 12) und führt die Gemeinschaft der Glaubenden ( Kirche) in die ganze Wahrheit (Joh 14,16f.26; 15,26; 16,7 14). Die Reflexion auf die Gottesoffenbarung in Jesus Christus und die geistgeleitete Wegführung der christl. Ekklesia führt zu prototrinitarischen Aussagen im NT (1 Kor 12,4 6; 2 Kor 13,13; Mt 28,19; Joh; 1 Petr 1,2; vgl. die textkritisch sekundäre Erweiterung in 1 Joh 5,7), die Gottes beziehungsreiches Wirken im Kyrios und im Pneuma vielschichtig auszusagen vermögen. Zusammenfassend lassen sich die ntl. G. als Jhwhs liebende, eschatologische Hinwendung zu Israel in seinem Sohn Jesus Christus bestimmen, die als Antwort der Menschen Umkehr ( Vergebung), Glaube und Nachfolge fordert und sich nachösterlich auch für die Heiden öffnet. Ermöglicht, getragen und weitergegeben wird diese endzeitliche Gottesbotschaft vom Wirken des heiligen Geistes im irdischen und auferweckten Kyrios Jesus sowie in den Menschen, die sich im Glauben für Gottes Wirken öffnen. Bei allen konkreten Aussagen über den Gott Jesu Christi weiß die Gottesverkündigung der ntl. Schriften um den deus semper maior, dessen unauslotbare Größe sich bei aller Zuwendung zu den Menschen menschlicher Verfügung und intellektueller Erkenntnis entzieht (Röm 11,33 36). I. B. Janowski, Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999; ders., Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn 2003; ders. (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2005; O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Göttingen ; O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg u. a ; B. Lang, Jahwe der biblische Gott, München 2002; R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn II. G. Lohfink, Gott in der Verkündigung Jesu, in: ders., Studien zum Neuen Testament, Stuttgart 1989; N. Lohfink u. a. (Hg.), Ich will euer Gott werden, Stuttgart ; 27 44; H. Merklein, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus 2, Tübingen 1998, ; E. Peterson, Euw Ue3w, Göttingen 1926; W. Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes, Neukirchen-Vluyn 2002; T. Söding (Hg.), Der lebendige Gott, Münster 1996; W. Thüsing, Gott und Christus in der paulinischen So-
43 Kult 31 teriologie 1, Münster ; ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, Tübingen 1995; A. Yehoshua u. a., Der eine Gott der beiden Testamente, Neukirchen-Vluyn Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Kult (K.) Zugeordnete Begriffsartikel: Abendmahl/Eucharistie, Ahnen, Altar, Beschneidung, Bild, Buße, Fest, Gebet, Glaube, Heiligkeit, Klage, Lob/Dank, Opfer, Priester, Prophet, Reinheit/Unreinheit, Ritus/Ritual, Sabbat, Sühne, Taufe, Tempel/Heiligtum, Trauer. Kult Vorbemerkung: Der K. ist die praktische Seite der Rel. Das lat. Wort cultus, abgeleitet von dem Verbum colere, bezeichnet den Dienst für die Götter in allen seinen Vollzügen. Der Gottesdienst ist an feste Orte und Zeiten gebunden, äußert sich in ritualisierten Handlungen und Sprechakten und verlangt ein entsprechend ausgebildetes Personal. Das alles ist für den ao. Raum reichlich und anschaulich dokumentiert. Kultplätze und Tempel galten als die Wohnung der Götter, wo der Verkehr mit ihnen stattfinden und praktiziert werden konnte. Götterbilder repräsentierten die Gegenwart der Götter und waren Gegenstand der Verehrung. Auf Altären in Privathäusern und an den öffentlichen Kultplätzen wurden den Göttern zu bes. Anlässen und an den Festtagen Opfer dargebracht, um sie zu nähren und gnädig zu stimmen. In der Familie war das Familienoberhaupt, im Stamm der Stammesführer, im Staat der König oberster Priester. Letzterem unterstanden die verschiedenen Klassen der Priester, die an den Tempeln alle möglichen Dienste von der Tempelaufsicht bis zum Altardienst versahen. I. AT: Der K. in den vorexil. Monarchien Israels (ca bis 722 v. Chr.) und Judas (bis 587 v. Chr.) ist nicht ganz so breit dokumentiert. Aus den wenigen archäologischen, epigraphischen und ikonographischen Zeugnissen, die sich gefunden haben, geht jedoch hervor, dass er sich nicht wesentlich von dem seiner ao. Nachbarn unterschied, mit Ausnahme der Dimensionen. Anders als die Großreiche in Kleinasien, Mesopotamien und Ägypten oder die Großstadt Ugarit am Ende des 2. Jt. v. Chr. bildeten Israel und Juda wie die angrenzenden Nachbarn (Aram, Ammon, Moab, Edom, Philister), die sich im 1. Jt. im syrisch-paläst. Raum etablierten, nur verhältnismäßig kleine Stadt- oder Flächenstaaten. Dementsprechend waren auch die kultischen Einrichtungen und Aktivitäten eher bescheiden. I. 1. Der K. konzentrierte sich in der Regel auf nur eine Gottheit, allenfalls ein Götterpaar oder eine Trias von Vater, Mutter und Kind. In Israel und Juda waren dies der Gott Jhwh und seine Aschera, ein Götterpaar ( Göttin), von dem es vermutlich auch bildhafte Darstellungen gab. Jhwh war Dynastie- und Staatsgott und zugleich persönlicher Gott. Im familiären Rahmen und bei der kultischen Verehrung der verstorbenen Ahnen dürften neben Jhwh und seiner Aschera weitere numinose Wesen, unter aram. und ass. Einfluss zunehmend astrale Mächte, eine Rolle gespielt haben, worüber wir aber nur wenig wissen ( Gestirne). Auch die Götterbilder ( Bild) weisen eine große Vielfalt auf. Außer dem Hauptgott und dem Götterpaar waren theriomorphe, symbolische und anikonische Objekte, z. B. ein leerer Thron, Gegenstand kultischer Handlungen. An den über das Land verstreuten Kultstätten trat die Hauptgottheit in einer lokalen Manifestation in Erscheinung, als der Jhwh von Samaria, der Jhwh vom Zion usw. ( Gottesvorstellungen). Die Kultplätze und mit ihnen die gesamte vorexil. Rel. Israels und Judas lassen sich nach soziologischen Gesichtspunkten in drei Ebenen differenzieren: den staatlichen, den regionalen und den privaten K. Der vom König unterhaltene, überregionale Staatskult fand an zentralen Kultstätten mit Tempel, Altar und fester Priesterschaft statt. Hier waren neben den Priestern auch die Propheten und andere Kultbeamte tätig, gelegentlich auch Frauen, die man vor allem unter den Propheten und im Zusammenhang von Trauerzeremonien ( Trauer), hingegen nicht unter den Opferpriestern findet. Für regionale Kultveranstaltungen der Familien und Sippenverbände, etwa das Schlachtopfer mit dem dazugehörigen Kultmahl ( Opfer), waren die sog. Höhenheiligtümer mit oder ohne Altar und ohne feste Priesterschaft bestimmt. Der private Hauskult fand innerhalb der Familien und Sippen
44 32 Kult statt. Öffentlicher, regionaler und privater K. unterschieden sich in der Ausstattung und den Dimensionen, soweit wir sehen aber nicht in den rel. Praktiken oder theol. Vorstellungen. Die konkreten Kultpraktiken waren an bestimmte Anlässe und vor allem an feste Zeiten gebunden. An den Tempeln muss man zwischen dem Alltagskult und dem K. zu bes. Festtagen (z. B. Neumond und Sabbat) oder Festzeiten ( Fest) unterscheiden. Auch im regionalen K. bestimmten regelmäßige und außerordentliche Opferfeste und der agrarische Festkalender, im privaten K. die familiären und persönlichen Anlässe wie Hochzeiten, Todesfälle ( Trauer) oder andere Übergangsstadien mit entsprechenden Riten (z. B. die Beschneidung), den Rhythmus. Im Zentrum aller kultischen Handlungen stand das Opfer, die Gabe an die Gottheit, die auf vielfältige, im Ritus festgelegte Weise dargebracht wurde. Begleitet wurde das Opfer von Gebeten, die je nach Anlass Klagen und Bitten oder Lob und Dank enthielten, in der privaten Frömmigkeit und im Alltag allerdings auch ohne das Opfer auskamen. Insbesondere an den zentralen Heiligtümern, den Tempeln, an denen Priester den Altardienst versahen, herrschten strenge Regeln, was den Kontakt zur Gottheit und die göttlichen Bereiche anbelangt. Die Priester wachten über die verschiedenen Zonen der Heiligkeit und gaben Auskunft über rein und unrein ( Reinheit). Nur sie konnten den Kontakt zur Gottheit vermitteln, die diversen Anliegen der Kultteilnehmer vor Gott bringen und, wenn es nötig war, Sühne verschaffen. Außer der Kontaktaufnahme mit der Gottheit diente der von ihnen vollzogene und aufrechterhaltene K. der Stabilisierung der natürlichen und polit. Ordnung und mithin der Schaffung von Identität in dem von der Gottheit eingesetzten und vom König und seinen Beamten regierten Staatswesen. Der offizielle Tempelkult hatte somit auch eine Ausstrahlung in die anderen Bereiche der regionalen und privaten Frömmigkeit und das ganze Leben im israelit. und judäischen Gemeinwesen. Unter den archäologischen Zeugnissen für den vorexil. K. in Israel und Juda fehlt eine lit. Überlieferung so gut wie ganz: Priesterordnungen und Opferrituale, Hymnen und Gebete, im K. rezitierte Mythen und Epen, Vorschriften für Abgaben und Zuteilungen, Spendenlisten, Abrechnungen etc. sind kaum erhalten. Vieles dürfte in mündlicher Überlieferung als Priesterwissen oder Allgemeingut überliefert worden, anderes verloren gegangen sein. Reste sind jedoch in die Überlieferung der Bibel eingegangen. Es handelt sich um alte Opferrituale in der priesterlichen Überlieferung, Hymnen, Bitt- und Dankrituale in den Pss., Einzelsprüche in den Propheten sowie Angaben über die kultischen Einrichtungen und Verhältnisse der alten Zeit, z. B. den Altarbau oder den Festkalender, wie sie sich in einem alten Rechtsbuch (Ex 20,22 23,19), in der Erzählüberlieferung (bes. in Gen, Ri und 1 2 Sam) sowie vereinzelt in der Weisheit finden. Die Überlieferungssplitter können für die Rekonstruktion der vorexil. K.- und Religionsgesch. herangezogen werden, sofern sie mit den archäologischen Zeugnissen und den ao. Rahmenbedingungen übereinstimmen. I. 2. Das Gros der bibl. Überlieferung stammt jedoch nicht aus der vorexil. Königszeit. Es verdankt sich der schriftgelehrten Arbeit jüngerer Generationen, die auf den Trümmern des ersten Tempels und der 722 bzw. 587 v. Chr. beendeten israelit.-judäischen Geschichte einen neuen K. und im Laufe der Zeit eine neue Rel., die Rel. des Judentums, begründeten. Diese hat sich während der Zeit des zweiten Tempels von Jerusalem (520 v. Chr. 70 n. Chr.) formiert und war geeignet, auch die Krise des K. zu bewältigen, die durch die Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. und die damit einhergehende Einstellung des Opferdienstes entstanden war. Es ist das Verdienst des Alttestamentlers und Orientalisten Julius Wellhausen, den entscheidenden Wendepunkt in der Überlieferung entdeckt und in seinen Prolegomena zur Geschichte Israels anhand der Entwicklung der lit. Tradition die K.- und Religionsgesch. des Alten (vorexil.) Israel und des (nachexil.) Judentums in ihren Grundzügen zutreffend rekonstruiert zu haben. Den Wendepunkt in der Gesch. des K. markiert das Buch Dtn, und hier insbes. die Forderung der Kulteinheit in Dtn 12 (V. 13ff). Danach darf es in Israel und Juda nur noch ein zentrales Heiligtum geben, an dem die Opfer dargebracht werden und Jhwh kultisch verehrt wird. Schlachtungen in den
45 Kult 33 Ortschaften bleiben unter bestimmten Bedingungen, vor allem der Schonung des Blutes, erlaubt, verlieren aber ihre Bedeutung als Opfer für Jhwh. Der Einheit des Kultortes korrespondiert die Einheit Jhwhs in dem berühmten Höre, Israel in Dtn 6,4, das die lokalen Manifestationen der Hauptgottheit aufhebt. Die programmatische Forderung der Kultzentralisation wird aufgrund von 2 Kön 22f gerne in die Zeit des Königs Joschija in das ausgehende 7. Jh. v. Chr. datiert, setzt wahrscheinlich aber schon den Verlust des Königtums, d. h. das Datum 587 v. Chr. voraus. Die Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass es danach keine verbindliche Mitte mehr gab, die die verstreuten, orientierungslos gewordenen Glieder des Volkes in Israel und Juda zu einen vermochte. An die Stelle des Königs, der die Einheit des Volkes und den Zusammenhalt der an verschiedenen Orten praktizierten K. stiftete, tritt der eine Kultort, an dem nicht der König, sondern die eine Gottheit im Zentrum steht. Nach diesem Maßstab ist in Sam-Kön die Geschichte vom Aufstieg und Fall des israelit.-judäischen Königtums verfasst. In der vom Dtn inspirierten, daher dtr. genannten Lit. ist aus dem theol. Programm der Kulteinheit das Ideal der Kultreinheit geworden. Danach darf es außer dem einen Jhwh und dem einen Kultort auch keine anderen Götter mehr geben. Daraus wiederum folgt die Forderung der Zerstörung aller Heiligtümer, Gottesbilder und sonstigen Zeichen göttlicher Präsenz im Land, die, auch wenn sie Jhwh galten, als Requisiten eines kanaan. Fremdkults gedeutet und behandelt werden. Von der Reinigung ist auch der K. Jhwhs in Jerusalem betroffen. Sämtliche kultischen Installationen und Bräuche, die auch nur von Ferne an die anderen Götter erinnern, sollen abgeschafft werden. Das Ideal der Kultreinheit wird programmatisch wiederum in Dtn 12 (V. 1ff.29ff) u. ö. im dtn. Gesetz erhoben und an vielen Stellen in der erzählenden Lit. in Gen-Kön (bes. Ex 23,20ff sowie Ex 32 34; Jos 23f; Ri 2,6 3,6; 2 Kön 17 sowie 2 Kön 22f) und darüber hinaus im AT wiederholt. Es setzt das erste Gebot und mehr und mehr auch das davon abgeleitete Bilderverbot im Dekalog (Ex 20/Dtn 5) voraus. Nachdem die prophetische Überlieferung nach den Erfahrungen von 722 und 587 v. Chr. dem Verhältnis Jhwhs zu seinem Volk Israel den institutionellen und mithin auch den kultischen Rahmen genommen und es von der verpassten Umkehr abhängig gemacht hatte, ist im ersten Gebot in Anlehnung an das Höre, Israel positiv formuliert, worauf es nunmehr ankommt: auf die Bindung an den Gott, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat, unter Ausschluss der anderen Götter. I. 3. Das dtn.-dtr. Ideal der Kulteinheit und Kultreinheit bildet wiederum die Voraussetzung für die priesterliche Überlieferung im Pentateuch (Priesterschrift = P) und im übrigen AT (Ez, Chr, Esra-Neh). Sie geht davon aus, dass es nur einen einzigen Gott und ein legitimes, zentrales Heiligtum gibt. Viel Mühe wird auf die Beschreibung des dem einen und einzigen Gott angemessenen Heiligtums verwendet. In der P wird der Baubericht des in die Wüste projizierten Zeltheiligtums im weltgesch. Zusammenhang geboten. Das Heiligtum (Ex 25 40) krönt das Schöpfungswerk Jhwhs, das mit der Erschaffung von Himmel und Erde beginnt (Gen 1), und löst die Verheißung des Bundes an Abraham und seinen Samen ein (Gen 17). In Lev-Num schließen sich die Kultgesetze an, die auf älteren, aber neu interpretierten, stark überarbeiteten und fortgeschriebenen Ritualtexten basieren und in das theol. System des Sühnekults gebracht sind. In Ez ist die Vision des neuen Tempels von dem Gedanken des Wiedereinzugs der Herrlichkeit Jhwhs und späten Reinheits- und Heiligkeits-Vorstellungen beherrscht. 1 2 Chr und Esra-Neh stimmen ersten und zweiten Tempel aufeinander ab und rekapitulieren die in Gen-Kön vorliegende Geschichte Israels aus der Perspektive des zweiten Tempels und der hier (z. T.) praktizierten, in der bibl. Überlieferung bis dahin aufgestellten theol. Maßstäbe. Überall ist das Gesetz, die Tora des Mose oder Tora Jhwhs, die entscheidende Referenzgröße, an der sich die Sicht der Geschichte Israels (und der Welt), die Vorstellungen von persönlicher Frömmigkeit und Lebensführung und eben auch die Vorschriften für den K. orientieren. In der Überlieferung, auf der das Judentum basiert, wandelte sich die Rel. des Alten Israel in eine Rel. des Gesetzes. Sie war keineswegs für alle Teile des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels verpflichtend. Die harsche Kritik am Fremdgötterkult im Land,
46 34 die den vorexil. Propheten seit Mose in den Mund gelegt wird und bis in nachexil. Zeit nicht verstummt, und der jüd. Tempel auf der Nilinsel Elephantine, der seit dem 7./6. Jh. bestand, im Jahre 410 v. Chr. auf Betreiben der äg. Chnum-Priester zerstört und mit Wissen der Jerusalemer Priester wieder aufgebaut wurde, sprechen für sich. Wie der K. am zweiten Tempel wirklich ausgesehen hat, wissen wir nicht, es sei denn aus zweiter und dritter Hand. Unsere Kenntnis beruht nicht auf authentischen Quellen, sondern auch hier auf der lit. Tradition. Schon während der Zeit des zweiten Tempels und endgültig nach seiner Zerstörung setzte sich freilich der bibl. Kanon und mit ihm die mosaische Rel. als maßgebliche, sozusagen orth. Form des Judentums durch. I. 4. Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege war neben der Überlieferungsbildung, die den praktizierten K. und seine ihm inhärente Theol. in die lit. Tradition überführte, die Entstehung jüd. Gruppierungen. Zu einer regelrechten Abspaltung kam es in pers.-hell. Zeit unter den Samaritanern. Sie haben im Gebiet des ehemaligen Nordreichs auf dem Berg Garizim bei Sichem ein neues kultisches Zentrum gegründet und, folgt man der Datierung des Ausgräbers Y. Magen, bereits um 450 v. Chr. einen Tempel erbaut. Die Samaritaner erkannten ausschließlich die Tora des Mose, den Pentateuch, als heilige Schrift an. Andere, wie die Gemeinschaft von Qumran oder die frühchristl. Gemeinde, haben sich neben dem Jerusalemer Tempelkult oder als Alternative dazu formiert und auf der Grundlage der bibl. Schriften eine eigene Überlieferung hervorgebracht. Die Gruppenbildung wurde durch äußere Anlässe initiiert oder befördert. Nach dem Wiederaufbau des Tempels und der Restauration der Provinz Juda in pers. Zeit brachen in spätpers. und vor allem in hell. Zeit polit., soziale und theol. Konflikte zwischen rivalisierenden Interessengruppen inner- und außerhalb des Landes auf. Sie kulminierten in der Kultreform unter dem seleuk. König Antiochus IV. ( v. Chr.), der nicht ohne Unterstützung jüd. (Priester-)Kreise das jüd. Gesetz außer Kraft setzte und einen Aufsatz für den griech. Gott Zeus Olympius auf den Brandopferaltar im Jerusalemer Tempel anbringen ließ. Dagegen richtete sich der Widerstand der Makkabäer, eines Priestergeschlechts aus dem Kult nördlich von Jerusalem gelegenen Ort Modeïn, das in einem bewaffneten Kampf erreichte, dass die Reform rückgängig gemacht werden musste. Sowohl die Gruppe der Frommen (Chasidim), aus denen die späteren Pharisäer hervorgingen, als auch die Jerusalemer Priester aus zadokidischem Geschlecht, die späteren Sadduzäer, gaben sich mit dem Erreichten zufrieden. Nicht so die Makkabäer. Sie wollten mehr und kämpften erfolgreich weiter gegen die seleuk. Besatzungsmacht. Aus diesem Kampf ging das hasm. Königtum hervor, in dem der König gleichzeitig der Hohepriester war ( Amt). Nach Alkimus, dem 159 v. Chr. verstorbenen letzten Hohepriester aus zadokidischem Geschlecht, wurde im Jahr 152 v. Chr. Jonatan, der Bruder des Judas Makkabäus, der erste der hasm. Hohepriester. Die Hasmonäer hatten das Amt bis in herod. Zeit inne und bereiteten dem samaritanischen Tempel ein Ende; 128 v. Chr. wurde er von Johannes Hyrkan zerstört. Es spricht einiges dafür, dass in der Zwischenzeit auch ein Streit um die Besetzung des Hohepriesteramtes und um Fragen des Kultkalenders ausbrach, der zur Gründung der Siedlung von Qumran bzw. der in den Texten vom Toten Meer bezeugten Gemeinschaft führte. Möglicherweise handelt es sich bei dem geistigen Führer dieser Gemeinschaft, dem in den Schriften so genannten Lehrer der Gerechtigkeit, um einen zadokidischen Priester, der in dem Interim zwischen Alkimus und Jonatan die Würde des Hohepriesters einmal besaß oder Anspruch darauf hatte. Jedenfalls bildete sich mit der Gemeinschaft von Qumran, die vermutlich mit den in antiken Quellen genannten Essenern identisch ist, eine Art Gegenkult zu Jerusalem, in dem theoretisch am Tempelkult festgehalten und praktisch Alternativen entwickelt wurden, um fern vom Tempel am K. der Engel im Himmel zu partizipieren. II. NT: Vom Tempelkult in Jerusalem nicht getrennt, sondern eng mit ihm verbunden war die frühe christl. Gemeinde. Der äußere Anlass zu ihrer Bildung waren der Tod Jesu am Kreuz und die Erfahrung seiner Auferstehung. Beides brachte die frühen Christen in Konflikt mit ihrer eigenen Herkunft aus dem Judentum. Zwar nahmen sie wie selbstverständlich am Tempelkult teil oder hielten (durch Kollekte und Abgaben) die
47 Kultur und Mentalität 35 Verbindung dazu und sahen in dem Evangelium von Tod und Auferstehung Jesu noch keine Konkurrenz zum K. als der praktischen Seite der Rel. und hergebrachten Form der Gottesverehrung. Doch schon sehr bald wurde deutlich, dass das Evangelium in Konkurrenz zum Gesetz des Mose stand, insbes. dadurch, dass es sich nicht nur an die Juden, sondern auch an die Heiden wandte, für die das Gesetz des Mose keine Bindungskraft besaß. Dadurch entfernten sich die frühen Christen zunehmend vom jüd. K. und dem Judentum insgesamt. II. 1. Der Erste, der dies in aller Schärfe erkannt und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, war Paulus. An die Stelle des Gesetzes als Weg zu Gott setzte er den Glauben an Jesus Christus ( Glaube), in dem er als erfüllt ansah, was man sich vom Gesetz versprach. Der K. und seine Ordnungen werden nicht abgelehnt, aber in ihrer Bedeutung nivelliert. Die Evv. zeichneten diese theol. Einsicht in das Leben Jesu von seiner Geburt bis zum Tod ein. Als Jude geboren und nach dem Gesetz aufgewachsen, weiß sich der Jesus der Evv. als der Christus, der über dem Gesetz und den Ordnungen des K. steht und sich im Angesicht des kommenden Gottesreichs auch darüber hinwegsetzt, um zu erreichen, was Gesetz und K. wollen: die unbedingte und unmittelbare Nähe Gottes. Vom K. blieben einige wenige Riten ( Abendmahl; Taufe) sowie die theol. Sprachmuster und Vorstellungswelten, die als Bilder und Symbole Eingang in die ntl. Christologie ( Jesus Christus), Ekklesiologie ( Kirche) und Ethik sowie in die Eschatologie fanden. II. 2. Die Gruppenbildung im hell.-röm. Judentum bis einschließlich der frühen Christen bedeutete zwar eine Zersplitterung des Judentums. Dennoch trug sie zu dessen Profilierung und Überleben bei. Die Gemeinschaft von Qumran wie die frühe Christenheit machten zur Zeit des zweiten Tempels vor, was dem Judentum im ganzen noch bevorstand: die Transformation der jüd. Rel. in eine theol. Existenz jenseits des praktizierten K. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. stellte sich diese Aufgabe auch dem übrigen Judentum. Es schied verschiedene Richtungen, darunter die samaritanische, die essenische, die apokalyptische und die christl. Richtung, aus und machte sich an das Werk der Selektion und Auslegung seiner normativen Überlieferung. In ihr ist und bleibt die Tora, im weiteren der hebr. Kanon der bibl. Bücher, die Grundlage, die das Judentum mit allen seinen Gruppierungen teilt. Darüber hinaus geht die auf die mündliche Tradition zurückgeführte Überlieferung der Rabbinen, in der der K. nach wie vor einen zentralen Stellenwert einnimmt. Außer den praktischen Ordnungen für einen fiktiven oder zukünftigen Tempelkult behalten die kultischen Gesetze, Sprachmuster und Vorstellungen auch hier ihre Bedeutung für die Neugestaltung des Gottesdienstes wie des alltäglichen Lebens in tempelloser Zeit. I. H. J. Hermisson, Sprache und Ritus im Altisraelitischen Kult, Neukirchen-Vluyn 1965; J. Maier, Zwischen den Testamenten, Würzburg 1990; M. Weippert, Synkretismus und Monotheismus, in: ders., Jahwe und die anderen Götter, Tübingen 1997, 1 24; J. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer, Göttingen 1874; ders., Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin = II. A. Böckler, Jüdischer Gottesdienst, Berlin 2002; G. Delling, Der Gottesdienst im Neuen Testament, Göttingen 1952; I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst, Frankfurt/M = 1995; L. Trepp, Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart ; P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste, Stuttgart u. a Reinhard G. Kratz Kultur und Mentalität (K./M.) Zugeordnete Begriffsartikel: Alt/Neu, Angst/ Furcht/Mut, Besitz/Gut/Eigentum, Ehre, Ehrfurcht, Gedächtnis/Erinnerung, Geduld, Heimat, Leidenschaft, Liebe, Name, Person, Scham, Schicksal, Sicherheit. Kultur und Mentalität Vorbemerkung: Die Lebenswelt, in der die bibl. Schriften wurzeln, nämlich der antik-mediterrannahöstliche Kulturraum, unterschied sich fundamental von der westlich-neuzeitlichen, individualisierten, industrialisierten und fortschrittsorientierten K. Es handelte sich um eine aus unserer Sicht grundsätzlich als nichtindividualistisch und agonistisch zu bezeichnende K., die den Geschlechtergegensatz betonte, hierarchieund autoritätsfixiert, konservativ und konformistisch war, d. h. sich am Alt(hergebracht)en orientierte, in deren Wertekodex Ehre und Schande die zentrale Rolle spielten. Diese wesentlichen Züge der mediterranen K. und M., die die Viel-
48 36 Kultur und Mentalität zahl der Einzelkulturen des Mittelmeerraumes und des Vorderen Orients wie auch die hist. Entwicklungen übergreifen, werden im Folgenden näher dargestellt. Eine getrennte Behandlung von AT und NT ist dabei nicht sinnvoll. I. Agonismus (Challenge-Response-Prinzip): Typisch für die mediterrane M. ist eine agonistische Lebensauffassung (von griech. Bg5n = Wettstreit, Kampf). Das soziale Leben wird begriffen und erlebt als permanentes Kräftemessen, als stete Folge von Herausforderungen und Erwiderungen (engl. challenge und response/riposte). Herausforderungen können positiv (Gaben, Wohltaten) oder negativ (Provokationen, Drohungen) sein. Nur sozial Gleichgestellte können im eigentlichen Sinn miteinander konkurrieren und einander herausfordern. Wer eine Herausforderung nicht angemessen erwidern bzw. vergelten kann, erleidet einen Status- und Gesichtsverlust. Grundsätzlich ist jeder Challenge (aber ebenso der Verzicht auf jegliche Herausforderung) mit diesem Risiko behaftet. Tendenziell begünstigt die agonistische M. aggressives Verhalten (offensives Challenge-Verhalten) und eine Ideologie der Konkurrenz und der Herrschaft der Starken über die Schwachen, aber genau dies kann auch explizit abgelehnt werden. Das Konkurrenzdenken ist nämlich eher Folge als Ursache des Challenge-Response-Prinzips. Grundlegend ist vielmehr der Bühnencharakter des Lebens in den antiken Face-to-Face- Gesellschaften, in denen der Kreis der relevanten sozialen Akteure überschaubar war und sich gegenseitig kannte. Nicht anonyme Strukturen und Mechanismen, sondern die unmittelbaren persönlichen Beziehungen und Interaktionen waren entscheidend. Es gab auch keine vergleichbare Trennung von öffentlicher und privater Existenz, von Selbst und Rolle, wie sie für die modernen westlichen Gesellschaften typisch ist. Das Verhalten jedes/r Einzelnen unterlag permanent der sozialen Beobachtung, Kontrolle und Zensur, dem Vergleich mit anderen, dem Verdacht und dem Gerücht und somit dem Zwang zur Selbstbehauptung und Selbstdarstellung. Eine wichtige Rolle spielt auch noch die Vorstellung von den begrenzten Gütern ( Besitz), die besagt, dass der Vorrat an Ansehen, Ehre und Ruhm begrenzt ist, eine Vermehrung der eigenen Position oder Reputation also stets auf Kosten anderer geht. Eifersucht ( Leidenschaft) und Neid sind daher starke Triebkräfte. Unter diesen Voraussetzungen besteht in der Face-to-Face-Gesellschaft ein Zwang sowohl zur Kooperation wie zur Konkurrenz. Das Challenge-Response-Prinzip fördert einerseits Rivalität und Vorrangstreben ( andere übertreffen ), andererseits fordert es strikte Reziprozität ( anderen nichts schuldig bleiben ). Unverhülltes Gewinnstreben ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung gilt als antisozial, parasitär und unehrenhaft. Einseitige Profitmaximierung und Ehre schließen sich gegenseitig aus (Aristot. NE 8,14,3, 1163b; vgl. damit die Metapher vom Lohn in Mt 6,2.5.16). Kooperation und Konkurrenz können unterschiedlich gewichtet werden. Einige mediterrane Gesellschaften, bes. die griech. Polisgesellschaften, erhoben den Wettstreit der männlichen Bürger um den ersten Platz regelrecht zur Ideologie und institutionalisierten und dramatisierten den Agon in Veranstaltungen wie den olympischen Spielen; sie demokratisierten das zunächst in erster Linie aristokratische Streben nach Ehre/Ruhm und die Obsession, der Erste / Beste zu sein. Andernorts dagegen, gerade auch in den bibl. Schriften, wird das offene Konkurrieren um den ersten Platz und das Einander-Herausfordern verworfen (Mk 9,33 35par.; Gal 5,26; 6,3 4; vgl. auch die Mahnung zur Demut Spr 18,12; Sir 3,17 20; Phil 2,3; 1 Petr 5,5; Jak 4,6). Die Ächtung des Vorrangstrebens entspricht zwar zunächst eher der M. egalitärer Gesellschaften ohne institutionalisierte Herrschaft, doch auch in hierarchischen Gesellschaften, wie es Welt und Umwelt der Bibel spätestens seit der Etablierung der staatlichen Ordnungen waren, wird egalitäres und anti-agonistisches Gedankengut tradiert. Es spielt oft die Rolle einer kritischen oder utopischen Gegenideologie, deren soziale Funktion darin besteht, dass sie den persönlichen Ehrgeiz und damit den Konkurrenzkampf so weit eindämmt, dass diese nicht den sozialen Frieden oder gar die Existenz des Gemeinwesens gefährden. Gerade die griech. Polis illustriert, wie in derselben Gesellschaft agonistische und egalitäre Werte koexistieren. Egalitäre Werte kommen sowohl in der Verfassungsform der Demokratie zum Ausdruck wie auch in dem für die griech. Welt grundlegenden Ideal der Freundschaft (fil2a), dem zufolge Freundschaft Gleichheit
49 Kultur und Mentalität 37 (Xs3thw) bedeutet und Freunde alles gemeinsam haben (Diog. Laert. 8,10; Aristot. NE 9,8,2, 1168b; Xen. mem. 2,6,23). Umgekehrt ist Freundschaft nur zwischen Gleichen möglich (Aristot. NE 8,7,4, 1158b/1159a). Der Agonismus beschränkt sich dann zum einen darauf, Erster unter Gleichen zu sein, zum anderen prägt der Agonismus auch die Freundschaftsbeziehung selbst. Das Ethos der Freundschaft fordert nämlich, einander nichts schuldig zu bleiben (Aristot. NE 8,13,9, 1163a); sie ist ein regelrechter Wettkampf darin, einander Gutes zu tun (vgl. Aristot. NE 8,13,2, 1162b; Xen. mem. 2,6,35). Eine weitere Beschränkung des Agonismus bedeutet es, dass überall in der mediterranen Welt, zumindest der sozialen Ideologie nach, der Wettstreit um Ehre und Prestige nur die Interaktionen mit Personen bestimmen soll, die nicht der eigenen Familie oder Verwandtschaft angehören. Nach innen wird dagegen die (strukturierte) Einheit beschworen, z. B. mit dem Bild des Leibes (vgl. Liv. 2,32,9 12; 1 Kor 12,12 30). Allerdings ist der Agonismus habituell so tief verankert, dass in der Realität die Konkurrenz als universales Prinzip z. B. auch und gerade das Verhältnis von Brüdern und Verwandten untereinander bestimmt (vgl. Kain/Abel, Esau/Jakob, Josef und seine Brüder, Davids Söhne). Nichtsdestotrotz kann gleichzeitig im Verhältnis nach außen ein starker Zusammenhalt vorhanden sein. (Ein beduinisches Sprichwort sagt: Ich gegen meinen Bruder; ich und mein Bruder gegen meinen Vetter; ich, mein Bruder und mein Vetter gegen die Welt. ) Eine weitere Größe, die in der griech. Welt den Agonismus begrenzt und reguliert, ist die Tugend der Scham (axd5w), nämlich das Gefühl für die eigene ebenso wie die fremde Ehre Würde. Sie verbietet, andere unnötig oder in übertriebener Weise herauszufordern und gewährleistet die Balance zwischen konkurrenzorientierten und kooperativen Verhaltensweisen. Der mutwillige Angriff auf die Ehre eines anderen durch körperliche, verbale und sexuelle Gewalt heißt Hbriw (Überhebung, Gewalttätigkeit, Beleidigung) und gilt als schlimmer Frevel und schweres Verbrechen. In der athenischen Demokratie konnte Hbriw gerichtlich verfolgt werden; hier wurde sie bes. mit den Exzessen und mutwilligen Übergriffen der (betrunkenen) Reichen auf andere Bürger in Verbindung gebracht. (Dagegen gilt im röm. Recht, wo die vergleichbare Verfehlung iniuria heißt, als bes. schweres Vergehen der Mangel an Respekt gegenüber Höhergestellten.) Empfindlich reagiert die mediterrane M. auch darauf, dass jemand mehr Ehre beansprucht, als er wert ist. Das ist ebenso schlecht wie das gänzliche Fehlen von Ehrenbewusstsein (Aristot. NE 4,3,35 4,4,6, 1125a/b). Vor dem Hintergrund dieses höchst differenzierten antiken Diskurses über die Ehre ist die bibl. Mahnung zur Demut dann nicht als Negation, sondern als (defensive) Strategievariante des Challenge-Response-Prinzips zu verstehen. (Eine offensive Strategie liegt dagegen den zahlreichen im AT geschilderten Eroberungskriegen zu Grunde.) So wird vor unbedachter Selbstexposition und großspurigem Auftreten gewarnt, das schnell zur Blamage führen kann (Lk 14,7 11). Streitlust wird kritisiert (Spr 20,3) und es gibt Beispiele für den dezidierten Verzicht auf Herausforderung und Konkurrenz (1 Sam 24; 26). Gleichwohl wird die Bereitschaft zur (notwendigen) Response jederzeit vorausgesetzt. Dabei kann es eine bewusste Response-Strategie sein, Provokationen der Gegenseite ins Leere laufen zu lassen (vgl. bshab 30b/31a über die Unmöglichkeit, den demütig-friedfertigen Rabbi Hillel zu provozieren; ähnlich im AT schon Moses als Vorbild der Demut, Num 12,3; vgl. Mt 5,38 41). Die gänzliche Unfähigkeit zur Response bedeutet hingegen eine Blamage, die im Extremfall (für den Gekränkten, aber auch für den Herausforderer) tödliche Folgen haben kann (vgl. die Unfähigkeit zur Antwort in der gelehrten Diskussion, bbq 117a/b; bbm 84a). Tödlicher Zorn über eine erlittene Kränkung ist schon im AT keine ungewöhnliche Reaktion (vgl. 1 Sam 25) und auch das NT setzt keineswegs undifferenziert das widerstandslose Hinnehmen von Demütigungen voraus (Joh 18,23; Apg 16,37). II. Ehre und Schande/Scham (engl. hono[u]r and shame): Im Wertkodex der mediterranen Gesellschaften sind Ehre und Scham bzw. Schande die zentralen Größen (vgl. Cic. Tusc. 2,14). Ehre kann ererbt sein, d. h. auf Geburt beruhen ( zugeschriebene Ehre), oder erworben werden, z. B. durch kriegerische Heldentaten. Sie hat immer eine kollektive Dimension, d. h. der/die Einzelne partizipiert stets an der Ehre der sozialen Gruppe,
50 38 in die er/sie eingebettet ist, den Klischees und Vorurteilen ihr gegenüber (Familie, Clan, Dorf, Stadt, Volk; vgl. Ez 16,44; Joh 1,46; Tit 1,12), ebenso wirkt sein/ihr Verhalten auf das Ansehen der Gruppe zurück. Bekannt war, dass die verschiedenen Völker in vielem gegensätzliche Auffassungen über Ehre und Schande hatten (Dissoi logoi 2,9 18). Auf die Ehre/Reputation, die permanent auf dem Prüfstand stehen, fokussiert sich in der Face-to-Face-Arena die gesammelte Aufmerksamkeit der sozialen Akteure. Dabei gelten für das Verhalten von Männern und Frauen entgegengesetzte Normen: Von Männern wird Stärke, Durchsetzung und Behauptung in der Öffentlichkeit erwartet, von Frauen Zurückhaltung und Scham (Sir 26,15; 42,11f; Tit 2,9 12; Thuk. 2,45,2; Philo spec. 3, ). Männliche Ehre wird symbolisiert durch den Phallus bzw. die Testikel, die sowohl für Potenz und Eroberungskraft wie für Zeugungskraft und Fruchtbarkeit stehen, weibliche Ehre ( Unberührtsein, sexuelle Reinheit ) durch die Verhüllung vor dem Blick fremder Männer. Dem entspricht die räumliche Trennung von Männer- und Frauensphäre (öffentlicher Raum vs. Haus, vgl. Philo spec. 3, ; 2 Makk 3,19). Männliche Ehre/Reputation wird bewährt oder verloren, vermehrt oder vermindert im beständigen Wechselspiel von Challenge und Response. Ehre kann sich dabei sowohl im Sinne von Tugend wie von Status entfalten: Der kooperativen Reziprozität entspricht Ehre als Ehrbarkeit / Verlässlichkeit (engl. honor-virtue), dem Konkurrenzagonismus Ehre als Ruhm / Vorrang (engl. honor-precedence). Die Ehre eines Mannes hängt darüber hinaus entscheidend von der Ehre der ihm angehörigen Frauen (Mutter, Ehefrau, Schwester, Tochter) ab. Den Männern obliegt es also, diese Frauen zu überwachen, ihre Ehre/ Reinheit zu verteidigen oder ihre Entehrung zu rächen, die sie selbst stets mitbetrifft (vgl. die differenzierten atl. Regelungen und die nicht unkritischen Erzählungen Gen 34,25 31; 49,5f; Lev 20,10; Dtn 22,13 29; 2 Sam 13). Da verlorene weibliche Ehre (Unberührtheit) im Gegensatz zu männlicher Ehre (Ansehen) nicht wieder hergestellt werden kann, sind die Frauen der verwundbarste und darum bes. angstbesetzte Teil jeder sozialen Gruppe. Im Rahmen dieser Geschlechterasymmetrie ist jede Kultur und Mentalität Verkehrung und Aufweichung des Geschlechtergegensatzes schandbar, d. h., wenn ein Mann sich wie eine Frau benimmt und umgekehrt, wobei auch und gerade das sexuelle Verhalten einbegriffen ist: Von Männern wird erwartet, dass sie oben und aktiv sind, Frauen haben unten und passiv zu sein. Ebenfalls als männlich gelten aber auch die Regierungstugenden Selbstbeherrschung, Mäßigung und Weisheit, unbeherrschte Leidenschaft dagegen als weiblich. Darum wird nicht nur Impotenz, sondern vielfach auch zügellose Sinnlichkeit als Schande für einen Mann betrachtet. Die definitive und irreversible Entehrung eines Mannes ist seine Vergewaltigung (vgl. Gen 19,4 8), denn dies bedeutet, ihn zur Frau zu machen, seine (symbolische) Kastration. Von hier erklären sich die bibl. Invektiven gegen die Vertauschung der Geschlechterrollen (Lev 18,22; 20,13; Dtn 22,5; Röm 1,26f). III. Hierarchisches Denken: Die antiken Gesellschaften waren auf allen Ebenen der sozialen Organisation hierarchisch strukturiert (Herren/ Sklaven, Herrscher/Beherrschte, Alte/Junge bzw. Eltern/ Kinder, Männer/Frauen, vgl. Gen 3,16; Dtn 21,18 21; Spr 13,24; 29,17; Eph 5,21 6,9; Kol 3,18 4,1). Wo solch klare Verhältnisse der Über- und Unterordnung bestehen, ist kein Konkurrieren und Herausfordern im eigentlichen Sinn möglich, höchstens Ungehorsam und Auflehnung. Der agonistischen M. entspricht hier die demonstrative Zur-Schau-Stellung und autoritäre Ausübung von Macht, die als Zeichen von Stärke galt ( Gottesbilder). Auch der bibl. Gott wird in Analogie zur irdischen Sozialordnung selbstverständlich als Vater, Herr und Patron seiner Kinder und Anhänger oder als König seines Volkes vorgestellt. Nichthierarchische Beziehungen sind vor allem Freundschaftsbeziehungen (vgl. bibl. die ideale Freundschaft von David und Jonatan). IV. Dyadische Persönlichkeit, konstellativer Personenbegriff : Da im moralischen Diskurs der Antike nicht Schuld und Gewissensqualen, sondern Ehre und (Vermeidung von) Schande die entscheidende Rolle spielen (vgl. Aristot. rhet. 2,6,26, 1385a), hat man die antiken Gesellschaften als Schamkulturen und die Menschen der Antike als außengeleitet bezeichnet. Die modernen in-
51 Kultur und Mentalität 39 dividualisierten Gesellschaften wurden dagegen als Schuldkulturen bzw. als innengeleitet etikettiert. Doch wurde auch in der Antike die Internalisierung moralischer Imperative entschieden angestrebt (vgl. Dtn 5,1; 6,4f; Mt 6, ; vgl. auch die Figur der Scham vor sich selbst, Demokr. Frgm. 264 DK, und die Opposition gut sein wollen vs. gut scheinen wollen, Plat. rep. 360b). Besser ist daher die Bezeichnung dyadische Persönlichkeit (von griech. dz/w = Zweiheit), die darauf abzielt, dass der einzelne Mensch zur Bildung und Aufrechterhaltung seiner Identität ( Person) immer auf das Urteil der anderen (eines Zweiten ) angewiesen ist und nicht aus sich selbst heraus weiß und wissen kann, wer er ist. Das heißt auch, dass der Antike moderne psychologische Kategorien und Fragestellungen ganz fremd sind. Nicht die individuelle und unverwechselbare Persönlichkeit mit ihrer Biographie, sondern die sozialen Rollen konstituieren die Identität eines Menschen. Menschen werden daher als Rollenträger identifiziert und beschrieben, d. h. mithilfe von Stereotypen. Auch in der Antike gab es aber Individualismus in dem Sinn, dass Menschen ihren eigenen, (mindestens z. T.) auf freier Wahl beruhenden Lebensentwürfen und Ansichten folgten und sich als eigenständige und eigenwillige Persönlichkeiten verstanden und stilisierten und keineswegs nur monoton und unausweichlich vorgegebene Verhaltens- und Rollenmuster reproduzierten. Die agonistische M. zumal der Griechen mit ihrem Kult des Ersten/Besten konnte solche Tendenzen in gewisser Weise sogar begünstigen (paradigmatisch in Athen; anders die anti-individualistische Gesellschaft Spartas, das Militärkollektiv der Gleichen ). Diese Selbststilisierung und -thematisierung bleibt im AO zunächst ein aristokratisches bzw. königliches Privileg, erst deutlich später, zumal in griech.-hell. Zeit, wird auch das nichtaristokratische Individuum fassbar in seiner Reflexion über sein individuelles Dasein und Geschick (im AT vgl. Ijob, Koh). Allerdings erwächst daraus nirgendwo eine dem neuzeitlichen Individualismus vergleichbare zusammenhängende ideologische Konzeption. Nicht das individuelle Subjekt ist Grundlage und Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen, moralischen und polit. Reflexion, vielmehr ist das Ganze (die Polis, der Abb. 6: Mythologische Repräsentation der Rekonstellation des Verstorbenen: Der Totengott Anubis setzt aus den verstreuten Gliedern den Mumienleib des Osiris zusammen. Vignette aus dem spätäg. Papyrus Jumilhac. Quelle: J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 32. Kosmos, der Logos ) das Primäre und der Einzelne empfängt seinen Wert als Teil davon und mit Beziehung darauf. So kennt die Antike keine abstrakten (von konkreten Beziehungen losgelösten) Menschenrechte, sondern nur konkrete Sozial- und Rechtsbeziehungen, aus denen sich jeweils spezifische und unterschiedliche Rechte und Pflichten gegeneinander ergeben. Auch praktisch ist es für einen antiken Menschen nahezu ausgeschlossen, als Individuum zu (über)leben. Nur als Teil und Glied eines sozialen Ganzen, eines Beziehungs- und Solidaritätsnetzes (meist familiäre oder Patron-Klient-Netzwerke), kann der Einzelne existieren (vgl. das in btaan 23a überlieferte jüd. Sprichwort Gefährtenschaft oder Tod ). Dieser Tatsache trägt in bes. Weise der sog. konstellative Personenbegriff Rechnung, der darauf verweist, dass für die antiken K. Menschsein oder Leben im Vollsinn die Einbindung des Einzelnen in soziale Lebenszusammenhänge ( Konstellationen ) bzw. die Verknüpfung mit anderen (Prinzip der Konnektivität ) voraussetzt ( Anthropologie). Mit dem Begriff der konstellativen Persönlichkeit soll zunächst und primär die altäg. Auffassung des Menschen und des menschlichen Selbst beschrieben werden, die in doppelter Weise konstellativ ist: Menschsein bzw. Lebendigsein setzt hier sowohl die koordinierte Konstellation der verschiedenen Körperteile ( Körper) voraus wie auch die soziale Integration des Menschen, seine Einbindung in bestimmte soziale Konstellationen. Von bes.
52 40 Wichtigkeit sind dabei (aus männlicher Perspektive) die Mann-Frau- bzw. Bruder-Schwesterund die Vater-Sohn-Konstellation. Beide werden jeweils mit einem spezifischen Aspekt der Person in Verbindung gebracht, insbes. mit deren Restitution, Reintegration und Rehabilitation in den Totenritualen (Abb. 6), nämlich die männlichweibliche Beziehung mit dem Körperselbst und die Vater-Sohn-Beziehung mit dem Sozialselbst (Status, Würde, Ehre, Nachruhm) des Menschen (= des Mannes). Diesem doppelten Selbst entspricht eine doppelte Seele und eine gewissermaßen doppelte Form des Fortlebens nach dem Tod. Nur ein im Diesseits wie in der Götterwelt bleibend konstellativ integriertes Selbst hat Aussicht auf solches Fortleben. Leben im Vollsinn ist also Eingebundensein und Zusammenhang. Der Tod bedeutet dementsprechend das Prinzip des auflösenden und isolierenden Zerfalls, der Disjunktion. Auch ein Lebender kann in diesem Verständnis schon todesbetroffen ( lebendig tot ) sein. Umgekehrt ist Leben als die belebende Kraft der Verknüpfung ein die Generationen und auch die Todesgrenze übergreifendes Prinzip, das durch die inschriftlich vielfach bezeugte Sentenz ausgedrückt wird: Einer lebt, wenn sein Name genannt wird. Diese Beobachtungen lassen sich wegen der Besonderheiten des äg. Menschenbildes zwar nicht allgemein auf die bibl. oder generell die mediterrane Welt übertragen, aber das grundsätzliche Prinzip der konstellativen Vertäuung, der Einbindung des Einzelnen in Solidaritätsnetzwerke, ist für alle antiken K. grundlegend. Die Bibel teilt mit der übrigen antiken Welt darüber hinaus das konstellative Ideal des Patriarchen (vgl. Gen 25,8f; Ps 128,3; 1 Tim 3,2 4), der Ehefrau und Mutter (Spr 31, 10 31; 1 Tim 2,15) und insgesamt der einträchtigen Familie (Ps 133). Zum neuzeitlichen Individualismus steht dieses konstellative Denken in diametralem Gegensatz. Die neuzeitliche (disjunktive) Ideologie des Individualismus wäre der Antike im höchsten Maße asozial und zerstörerisch erschienen. Individualismus über den jeweils gesellschaftlich akzeptierten Grad an persönlichem Ehrgeiz hinaus konnte nur als destruktiv und als Grund oder Symptom von Niedergang und moralischem Verfall begriffen werden (vgl. ein kabylisches Sprichwort: Nur der Teufel sagt ich ). Kultur und Mentalität Individualistische Fragestellungen und Reflexionen tauchen vor allem da auf, wo sich der einzelne Mensch über seine soziale Rolle und seinen Platz im Ganzen der Welt nicht (mehr) gewiss ist. In der Bibel geschieht dies in der sog. Krise der Weisheit (Koh, Ijob), als erkennbar die alten Gewissheiten und Plausibilitäten in Bezug auf den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Wohlergehen brüchig werden und die Frage nach dem individuellen Geschick des Menschen und der individuellen Vergeltung von Gut und Böse und damit das Problem der Theodizee in zuvor nicht da gewesener Weise aufkommen (Ijob, vgl. auch Ez 18). Wirkungsgesch. ist die wichtigste Antwort darauf der Glaube an die Auferstehung der Toten bzw. das Fortleben der Seelen, verbunden mit der Vorstellung vom End-Gericht, das den Tun-Ergehen-Zusammenhang nach dem Tod bzw. außerhalb der Zeit wieder herstellt (vgl. Dan 12,2f; 2 Makk 7, ; Weish 3,1 9; Eschatologie). V. Soziale Konformität und Konservativismus, High-Context-Gesellschaften: Individualismus im Sinne einer Wahlfreiheit in Fragen der Lebensführung bleibt in der Antike das Privileg einer sozialen Elite. Für die Masse der einfachen Bevölkerung war dagegen stets die Einbindung in die jeweilige soziale Gruppe ( Familie, Clan, Dorf, Polis, Volk) und der daraus resultierende Konformitätsdruck das Entscheidende, dem eine am Alt(hergebracht)en ( Alt/Neu) orientierte sozialkonservative M. entsprach. Es ging nicht um Selbstverwirklichung und Neuerungen, sondern darum, den Erwartungen und sozialen Normen der Gruppe zu entsprechen. Die antiken Gesellschaften waren (trotz der Existenz so entwickelter Systeme der methodischen Selbst- und Problemreflexion wie der antiken Philos.) High-Context- Gesellschaften, in denen eine sehr weitgehende Übereinstimmung über das bestand, was als normal und natürlich galt und unausgesprochen vorausgesetzt wurde (auch in den bibl. Texten!). VI. Rel. als kulturelles Symbolsystem: Ein wichtiger und integraler Bestandteil antiker K. ist die Rel., die sich nicht wie in der Moderne losgelöst von den übrigen Elementen und Vollzügen der K. als eigenständiger Erfahrungsbereich und autonomes kulturelles Subsystem mit spezifischer Funk-
53 Kultur und Mentalität 41 tion (z. B. Kontingenzbewältigung) verstehen lässt. Antike Rel. ist grundsätzlich eingebettet in andere Lebensvollzüge und Lebenskontexte, in soziale Institutionen (Familie, Verein und Polis) und Performanzen (Theaterspiele, Eröffnung und Beendigung von Feindseligkeiten, wirtschaftliche Unternehmungen, Bankette). Die rel. Vollzüge (wie Opfer und Gebete) sind deren integraler und oft sogar konstitutiver Bestandteil ( Kult) ohne dass man sie selbst deshalb genuin rel. nennen dürfte. Wegen der Einbettung der Rel. in die K. ist auch die Wahrnehmung von Judentum, Christentum und Paganismus primär oder ausschließlich als Religion(en) ein Anachronismus. Für die eingebettete Rel. geht der soziale und kollektive (oftmals ethnische) Aspekt dem individuellen voraus. Zugehörigkeit und Loyalität (gegenüber dem eigenen Volk, der eigenen Polis oder Familie und deren Tradition und Gottheiten) ist das Primäre, die individuelle rel. Erfahrung und Überzeugung (engl. commitment und faith) das Sekundäre. Gerade diese Dinge (wie der persönliche Glaube), die für uns das eigentlich Religiöse sind, spielen in der antiken Rel. vielfach nur eine nachgeordnete Rolle oder sind anderen Größen zugeordnet. So sind Ethik, Lebensführung und innere Überzeugung in der griech.-röm. Welt viel mehr eine Sache der Philos. als der Rel.; entsprechend können sich das hell. Judentum und frühe Christentum selbst als Philos. bezeichnen. Auch die für den modernen Religionsdiskurs grundlegende kategoriale Entgegensetzung von empirischen und transzendentalen Aussagen hat in der Antike keine Entsprechung und ist nicht mit der antiken Unterscheidung zwischen natürlich und übernatürlich identisch. Neuere Versuche, ein Konzept der Rel. zu entwickeln, das nicht einseitig und normativ am (neuzeitlichen) Christentum orientiert ist, schlagen vor, Rel. als symbolisches System oder als kulturelles Zeichensystem zu betrachten, nämlich als ein kulturspezifisches System von aufeinander bezogenen Mythen, Ritualen und Symbolen, das wie andere kulturelle Zeichensysteme (z. B. Sprache) der sinnhaften Orientierung des Menschen in der Wirklichkeit dient, indem es die Welt mit einem Netz sinnhafter Strukturen und Bezüge überzieht. Auf dem Wege der Symbolisierung werden konkrete Begriffe, Gegenstände und Vorgänge zu Trägern einer weit über sie hinausgehenden Bedeutung (z. B. die Wolken als Gefährt Jhwhs, Ps 104,3). Dieser Vorgang spielt im AT wie insgesamt im AO für die sinnhafte Ordnung und Durchdringung der Welt eine herausragende Rolle. Das Spezifische an rel. Symbolsystemen ist dabei, dass sie die Vorstellung einer umfassenden (die alltagsweltliche Erfahrung transzendierenden) Seinsordnung und einen bestimmten Lebensstil bzw. ein Ethos miteinander verknüpfen ( Ethik). Weltbild und alltägliche Wahrnehmung wirken in komplexer Weise aufeinander ein und färben wechselseitig aufeinander ab. So stützen sich Weltbild und Ethos, Sein und Sollen, Wissen und Erleben gegenseitig und bestärken einander in ihrer Plausibilität (oder auch in ihrer partiellen Fragwürdigkeit). Alle wichtigen Elemente der mediterranen M. (Agonismus, Bedeutung des Ehre-Schande-Diskurses, Geschlechterasymmetrie, Hierarchiefixierung, autoritärer Herrschaftsstil, Rolle von sozialen Netzwerken und Patron- Klient-Beziehungen, soziale Konformität) sind dementsprechend in vielfacher Weise mit der Welt der Mythen, Riten und heiligen Symbolen verwoben, ohne dass in dieser Hinsicht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen paganer Antike und bibl. Tradition bestünde. J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001; P. Bourdieu, Ehre und Ehrgefühl, in: ders., Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, 11 47; S. Burkes, God, Self, and Death, Leiden u. a. 2003; P. Cartledge, Die Griechen und wir, Stuttgart u. a. 1998; K. Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Neukirchen-Vluyn 2004ff; N. R. E. Fisher, Hybris, Warminster 1992; C. Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung, Frankfurt/M. 1983, 44 95; C. Giordano, Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum, in: L. Vogt/A. Zingerle (Hg.), Ehre, Frankfurt/M. 1994, ; B. Janowski, Das biblische Weltbild, in: ders./b. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001, 3 26; B. Lang (Hg.), Anthropological Approaches to the Old Testament, Philadelphia u. a. 1985; L. J. Lawrence, For truly, I tell you, they have received their reward (Matt 6:2): CBQ 64 (2002), ; H. Lloyd-Jones, Ehre und Schande in der griechischen Kultur: AuA 33 (1987), 1 28; B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart u. a. 1993; J. J. Pilch/B. J. Malina (Hg.), Handbook of Biblical Social Values, Peabody ; J. Rüpke, Die Religion der Römer, München 2001; W. Stegemann, Kulturanthropologie des Neuen Testaments: VF 44 (1999), 28 54; ders., Religion als kulturelles Konzept, in: ders. (Hg.), Religion und Kultur, Stutt-
54 42 gart 2003, 43 69; G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh Klaus Neumann Schrift (S.) / Schriftverständnis Zugeordnete Begriffsartikel: Einheit/Vielheit, Evangelium, Exegese, Gotteswort, Hermeneutik, Intertextualität, Kanon, Mitte, Normativität, Offenbarung/Inspiration, Schreiben/Schrift, Tora, Tradition, Wahrheit. Schrift / Schriftverständnis Schrift / Schriftverständnis Vorbemerkung: Eine getrennte Behandlung von AT und NT legt sich im Sinne einer gesamtbibl. Perspektive nicht nahe. I. Zum Begriff Schrift : Für die christl. Theologen ist S. die zweigeteilte Bibel (griech. bibl2a Bücher, Schriften ), d. h. die normative Sammlung der heiligen S. Israels (als AT) und die in den christl. Kirchen entstandene Sammlung (NT). Ihr Umfang ist im Christentum, aber auch im Judentum umstritten. In Israel war die Aktualisierung der göttlichen Offenbarung im gesprochenen Wort viel wichtiger als die geschriebene, wie der Begriff hammiqra ( Lesung ; vgl. Neh 8,8) als Bezeichnung für die S. im nachbibl. Judentum belegt. Erst hier bürgert sich auch die Bezeichnung miqra ( S. ) oder kitbe haqqodœš ( heilige Schriften ) ein, letzteres bereits in 1 Makk 12,9 und 2 Makk 8,23 vorgeprägt. Ansonsten erhält beim Fehlen des Adjektivs die S. kontextuell ihre theol. Dignität durch Syntagmen wie Buch der Weisung des Herrn (Neh 9,3; 2 Chr 17,9; Dtn 28,61; 30,10) oder Buch, die Weisung Gottes (Jos 24,26); vgl. Dtn 17,18: Der König soll sich eine Abschrift dieser Weisung in ein Buch/auf einer Schriftrolle aufschreiben. Hier wird das Dtn bereits lit. fixiert und als normativ vorausgesetzt (vgl. auch die Fixierformeln in Dtn 4,2; 13,1), weil Gott es durch Mose gebot (Neh 8,14). Es ist das Buch der Weisung: sefœr hattora (Jos 8,32.34; vgl. Dtn 28,61; 29,20; Jos 1,8; 23,6; 24,26; 1 Chr 16,40; Dan 9,11). S. bedeutet in der Regel die einzelne Schriftstelle, der Plural Ketubim kann aber auch alle heiligen Schriften bedeuten, bezeichnet nach der Fixierung von Tora/Gesetz und Nebiim/Propheten ( Prophet) aber nur die im dritten Teil gesammelten Schriften (Ps, Ijob, Spr, Rut, Hld, Koh, Klgl, Est, Dan, Esr, Neh, 1 2 Chr). Im NT ist der Plural die Schriften vielfach belegt, noch häufiger der Singular die Schrift. Wie die Wendung die ganze S. (2 Tim 3,16) unterstellen die Begriffe ein Einverständnis über Umfang und Akzeptanz. Dies gilt auch für die beliebte Formel Gesetz und Propheten (Mt 5,17; 7,12; 11,13; 22,14; Lk 24,44; Apg 13,5; Röm 3,21 u. a.) bzw. für Mose und die Propheten (bevorzugt von Lukas, vgl. Lk 16,29.31; 24,27; vgl. 24,44; Apg 28,23). Wie viele S. und welche Edition jeweils gemeint sind, bleibt jedoch unklar, da erstens der Umfang der Ketubim bis in die talmudische Zeit (ca. 4. Jh. n. Chr.) umstritten war und zweitens variierende Textüberlieferungen selbst der Tora, wie die Texte aus Qumran belegen, im Umlauf waren. Zudem wurden in der jüd. Theol. Texte (wie die Jubiläen- und Henochbücher u. a.) wie heilige S. zitiert, ähnlich auch im NT (vgl. Hen 1,9 in Jud 14; vgl. auch die im AT nicht belegbaren Zitate in 1 Kor 2,9 und Mt 1,23). Während Tora/ Gesetz und Nebiim/Propheten zur Zeit Jesu und der ntl. Verfasser der Anzahl nach unbestritten waren, galt dies für die S. nicht; allein die Psalmen mit David als ihrem inspirierten Dichter (vgl. 2 Makk 2,13) galten als prophetische S. II. Zur theol. Dignität der S. als Kanon: Aufgrund der Überzeugung, die durch die obigen Wendungen wie Weisung/Gesetz, Wort Gottes u. a. bestätigt wird, demzufolge die S. auf den Tafeln Gottes Schrift war (Ex 31,18; 32,15f), die Tora insgesamt Gottesworte enthält, hat sie für jüd. Gläubige normative Bedeutung. Daher wurde die Tora von allen jüd. Gruppen (einschließlich der Samaritaner und Sadduzäer) anerkannt. Ihr wurde eine weit höhere Offenbarungsqualität zuerkannt als den prophetischen S. (Nebiim), die als Aktualisierung der absolut verbindlichen Tora gedeutet wurden. In der Hierarchie an letzter Stelle standen die S. (Ketubim), über deren Anzahl und Akzeptanz erst in einem mehrere Jh. dauernden Prozess der Sammlung (2. Jh. v. bis 2. Jh. n. Chr.) entschieden wurde. Trotz der Sonderstellung der Tora und einer erkennbar hohen Textstabilität um die Zeitenwende lag auch bei ihr der genaue Wortlaut der Texte nicht fest (wie die vorntl. Belege aus Qumran bestätigen), zumal Schriftgelehrte zur Zeit Jesu wie auch dieser selbst kei-
55 Schrift / Schriftverständnis 43 neswegs die Tora nur kommentierten und auslegten, sondern deren Themen für die eigene Situation fortschrieben, aktualisierten und umschrieben. Nur so bleibt Offenbarung lebendiges Wort Gottes. Christen haben sich klarzumachen, dass hier ein anderes Verständnis von heiliger S. und damit von Offenbarung vorliegt. Nicht erst das II. Vatikanische Konzil verpflichtet die kath. Exegeten zwar auch auf eine hist.-kritische Auslegung der einzelnen S., bindet diese aber sofort zurück an den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift (DV 12) und an die verbindliche Auslegung der S. durch das lebendige Lehramt der Kirche (DV 10). Demgegenüber betont ref. Schriftverständnis eher die Klarheit der S. und deren richterliche Funktion gegen lehramtlich vorgetragene Traditionen. Beide Sichtweisen haben vor allem mit dem Begriff Kanon zu tun, den es im strengen Sinn des Wortes in der jüd. Theol. nicht gibt. Entsprechendes gilt für bibl. Theol. und kanonische Auslegung. Als christl. terminus technicus aus dem Rechtswesen und für liturgische Rubriken im 4. Jh. n. Chr. entstanden, wurde er erst im 18. Jh. auf die heiligen S. der Bibel übertragen, setzte sich dann aber rasch durch. Kanon im späteren Sinn des kodifizierten unabänderlichen Wortlauts auf die Zeit des NT oder gar der damaligen jüd. Theol. zu übertragen, ist nicht nur anachronistisch, sondern auch sachlich unangemessen, da so christl. Begrifflichkeit anderen aufoktroyiert wird. Dies spricht nicht nur gegen die hist. Wahrheit, sondern vor allem auch gegen jüd. und urchristl. Glaubensüberzeugungen. An den S. aus Qumran kann man studieren, dass dort weder die spätere dreiteilige Sammlung normativer heiliger S. der Rabbinen bekannt war noch ist eine Diskussion um den exakten Umfang eines evtl. Kanons belegt. Hinsichtlich des jüd. Schriftverständnisses ist festzuhalten, dass dies vor 70 n. Chr. alles andere als einheitlich war. III. Zur Vorgeschichte des christl. Kanons: Für ein angemessenes Schriftverständnis unter Christen ist es nicht unerheblich, auf den unterschiedlichen Umfang des Kanons in der röm.-kath. sowie orth. Tradition und der reformatorischen, v. a. ref. Kirchen hinzuweisen. Es gibt einen unterschiedlichen Umfang zwischen der jüd. Sammlung heiliger S. und dem christl. Kanon. Die jüd. Sammlung in hebr., teils auch in aram. Sprache (22 bzw. 24 Bücher je nach Zählung) wurde durch Akzeptanz, nicht durch einen Synodenbeschluss festgelegt, und zwar erst nach der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem (70 n. Chr.) in der Zeit von Jabne ( n. Chr.) und der von Uscha ( n. Chr.). Dies geschah in bewusstem Rückgriff auf die traditionelle grund-legende Basis jüd. Glaubens zur Wahrung der Identität der Offenbarung an Mose (wohl auch gerichtet gegen die griech. Sprache der röm. Besatzermacht und begründet in den traumatischen Erfahrungen der erzwungenen Hellenisierung in der Makkabäerzeit im Kampf gegen den syrischen König Antiochus IV. in den Jahren v. Chr.). Die Besinnung auf das genuine, an Mose ergangene Gotteswort war der theol. Grund, dass pharisäisch-rabb. Theologen die heiligen S. der Juden in griech. Sprache ablehnten. Übersetzungen der Tora gab es seit dem frühen 3. Jh. v. Chr., der prophetischen S. ab dem 2. Jh. und zwar nicht nur in der Diaspora (Alexandrien), sondern auch im Mutterland. Die bekanntesten sind die später von Christen gesammelte Septuaginta (LXX) und als Verbesserung vorliegender griech. Übersetzungen im 2. Jh. n. Chr. die Editionen von Aquila, Theodotion und Symmachus. Als originale griech. S. wurden in den christl. Kanon des AT aufgenommen: Tob, Jdt, Bar, Weish, Sir, 1 2 Makk u. a. nicht als Teile eines jüd. Kanons von Alexandrien, den es nicht gab, wie man früher annahm, sondern als jüd. S., die durch ihre normative Funktion in der Akzeptanz durch christl. Gemeinden zu kanonischer Gültigkeit gelangten. Wichtig wurden sie bes. für das Gottesbild, die Christologie ( Jesus Christus), für Schöpfungsund Auferweckungsglauben ( Schöpfung, Auferstehung). Zur reichen jüd. Lit. aus griech. Zeit gehören auch die Werke des jüd. Historikers Flavius Josephus und Philos von Alexandrien, der bei einigen Kirchenvätern fast kanonische Geltung genoss. Die Geschichte dieser zweifachen Sammlung jüd. heiliger S. in hebr. und griech. Version ist für das christl. Schriftverständnis von entscheidender Bedeutung, da zwar Jesus und seine Jünger die hebr. Schriftrollen lasen, alle Verfasser der ntl. S. jedoch die griech. heiligen S., auch wenn bei ntl. Zitaten
56 44 aus der S. nicht immer klar ist, ob eine aktuelle Übersetzung vorliegt bzw. welche der keineswegs einheitlichen Handschriften der griech. Juden zitiert wird. Generell gilt, dass für die christl. Theol. die griech. heiligen S. schlechthin als normativ galten und später kanonisiert wurden. IV. Der Umfang der christl. Bibel: An diesem Stand der Bibelüberlieferung änderte grundsätzlich auch die schriftgelehrte Arbeit des Origenes im 3. Jh. nichts, der in seiner sechsspaltigen Hexapla die Unterschiede der hebr. und griech. Überlieferungen der heiligen S. verdeutlichte. Konsequenter ging Hieronymus vor, der ab 391 die Vetus Latina, eine altlat. Übersetzung aus dem 2./3. Jh. wegen ihrer mangelnden Qualität gemäß den hebr. Vorlagen überarbeitete und bei der Auslegung des AT dem hebr. Text den Vorrang einräumte (veritas hebraica). Die von ihm geschaffene Vulgata war seit dem 8. Jh. im weström. Reich kanonisch anerkannt, während die oström./orth. Kirchen bis heute an der LXX festhalten. Die Reformatoren im 16. Jh. komplizierten den Befund, da sie aus humanistischen Gründen gemäß der Devise Zurück zu den Quellen! und demzufolge zur veritas hebraica, aber auch aus kirchenkritisch-dogmatischen Motiven (sie bevorzugten einseitig die pln. Theol.) einerseits allein den hebr. Text des AT als heilige S. anerkannten, im NT gemäß der dogmatischen Norm Luthers was Christum treybet, odder nit zwar keine S. ausschlossen, sie aber nicht mitzählten und folglich nicht zu den Heubtbüchern des newen Testaments rechneten; ihre Position als Anhang legt ihnen eine deutlich geringere theol. Normativität zu. Betroffen waren Hebr, Jak, Jud, Offb (vgl. die Vorrede Luthers zu seiner ersten vollständigen Bibelausgabe von 1534). Analog werden von Luther im AT Tob, Jdt, Bar, Weish, Sir sowie 1 2 Makk als Apocrypha gewertet mit der Begründung: Das sind Bücher, so nicht der hl. Schrift gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind. Heute differenziert man angemessener zwischen apokryphen S., die nicht in der Liturgie der damaligen Gemeinden eingesetzt und daher nicht in die Bibel aufgenommen wurden, und deuterokanonischen S., die nur in der LXX stehen. Es ist also nüchtern festzuhalten, dass die Anzahl der heiligen S. in den christl. Kirchen bis heute Schrift / Schriftverständnis ungeklärt ist. Das Konzil von Trient kanonisierte in Reaktion auf die Reformatoren 1546 die LXX- Sammlung, der sich die orth. Kirchen etwa 1672 anschlossen. In der kath. Bibel sind im AT gemäß der Vorlage der LXX mehr Texte enthalten als in der Bibel der Reformierten gemäß der hebr. Vorlage, während die Lutheraner die deuterokanonisch genannten S. des AT als solche sind sie auch deklariert immerhin drucken. Allerdings: Auch die deutschen kath. Bibelausgaben des AT (etwa die Einheitsübersetzung) bieten die Übersetzung des hebr. AT, also nicht die Übersetzung derjenigen Texte, die die Verfasser der ntl. S. lasen. Für ein angemessenes Schriftverständnis ist dieses Faktum nicht ohne Probleme. Was für das christl.-jüd. Gespräch einerseits von Vorteil ist, erweist sich andererseits als großer Nachteil, da das im hell. Frühjudentum sich entwickelnde differenzierte Gottesbild (mit Wirkweisen, Personifikationen bzw. Hypostasen wie Geist, Weisheit, Logos, Wort verbunden mit der Vorstellung ihrer Präexistenz, aber auch der der Tora, des Messias u. a.) absolute Voraussetzung ist für die hell. Konzepte der Christologien im NT. Sie können nur über die griech. Texte der LXX und der Theol. Philos verstanden werden. Was sprachgesch. für die christl. Theol. zunächst einfach aussieht, wird verkompliziert durch die Tatsache, dass Jesus von Nazaret selbst, seine ersten Jünger und ein Teil der Jerusalemer Urgemeinde (vgl. Apg 6,1) Aramäisch sprachen, ihre theol. Vorstellungen demnach der hebr.-aram. Theol. und ihren S. verdankten. Auch nach Ostern verkündeten die christl. Missionare in dieser Tradition, wie die vor-mk. und die Belege aus der Logienquelle bestätigen, die mündliche Heilsbotschaft Jesu weiter. Da lit. Zeugnisse für die urchristl. Gottesdienste fehlen, ist die Verwendung der liturgischen Sprache umstritten (zum aram., in griech. Transskription belegten Maranatha vgl. 1 Kor 16,22 und Offb 22,20; zur griech. Homologie Herr ist Jesus vgl. etwa Röm 10,9; 1 Kor 12,3; Phil 2,11). Es ist wohl von verschiedenen sprachlichen Entwicklungen auszugehen, je nach der Herkunft der Schreibenden. Im Übrigen hat sich die in dieser vielfältigen Kanondiskussion vorliegende theol. Problematik als Frage nach der Funktion und Normativität bestimmter Kanonteile im Sinne des hebr. AT neu
57 Schrift / Schriftverständnis 45 gestellt. Zu erinnern ist an die Vorrangstellung der Tora, des Pentateuch, und ihrer Offenbarungsqualität ( Gotteswort, Offenbarung). Die ntl. Theologen hielten an dieser Vorgabe fest, auch wenn die Gesamtstruktur des griech. AT mit der hebr. Vorlage nicht übereinstimmt. Für ein angemessenes Schriftverständnis, erst recht im jüd.-christl. Dialog, sei eigens daran erinnert. V. Zur Struktur der hebr. und griech. heiligen Schriften Israels: Im Kontext des christl. Schriftverständnisses kommt es nicht auf Details, sondern auf die Grobstruktur an. Die Ketubim enden im hebr. AT programmatisch mit 2 Chr 36,22f, dem Erlass des Perserkönigs Kyrus, dem zufolge die exilierten Juden nach Jerusalem zurückkehren konnten, da Gott mit seinem Volk geht, seine Treue unerschütterlich ist, er am Bund und an Zion als Jhwhs Wohnsitz festhält. Es geht um jüd. Identität, zugleich um Zentrierung auf Jerusalem hin (vgl. die Fort- und Umschreibung von 2 Chr 36,22f im Manifest Mt 28,18 20, allerdings von Jerusalem weg zu allen Völkern). Bis ca. 400 n. Chr. hielten die christl. Theologen auch in ihrer griech. und lat. Bibelüberlieferung an der hebr. Anordnung fest. Erst in der von christl. Autoren erstmals so benannten LXX findet sich eine andere Struktur, die als innere Erweiterung der älteren Struktur von Tora und Propheten angesehen werden kann (C. Dohmen), was u. a. für ihre christl. Entstehung sprechen dürfte: Hier endet die heilige S. prophetisch mit Mal 3, Die Stelle enthält zwar einen Rückverweis auf die Tora des Mose, aber zugleich eine Ankündigung der Sendung des Propheten Elija und des dann kommenden Tages Jhwhs. Überhaupt entwirft jetzt der gesamte prophetische Teil (anders als in der hebr. Vorlage: dort gehörten die Bücher von Josua bis 2 Könige zur prophetischen Lit.) eine positive Vision der zukünftigen Geschichte Israels und der Völker, die nach Jerusalem ziehen (so schon programmatisch in Jes 2,1 5; entsprechend wird der Gott Israels schon seit Am 9,7 als der Gott für alle geglaubt, der Knecht Gottes nach Jes 42,1 9 u. a. als Licht für die Völker gedeutet). Ntl. Theologen konnten an diese Hoffnungsvorgaben nahtlos anknüpfen (vgl. die Einspielung von Mal 3,22ff in Mt 17,10 13; Mk 9,11f; Lk 1,17), indem sie Johannes den Täufer als den für die Endzeit verheißenen Elija deuteten (so v. a. Mt 3,4; 11,10.14), Jesus entsprechend als Immanuel, d. h. übersetzt: Gott ist mit uns (Mt 1,23). Bedenkt man die sonstigen christologischen Lesarten der heiligen S. Israels, ist nachvollziehbar, dass erstens Aram. und Griech. sprechende Juden nach 70 weder den Aufbau noch den Text der LXX als heilige S. akzeptierten und dass zweitens die Reformatoren zwar auf den hebr. Text zurückgriffen, aber an der Struktur der LXX festhielten. VI. Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel? Mit Blick auf die Zeit Jesu und des Paulus kann man diese Frage schon allein im Hinblick auf die variierenden Überlieferungen der heiligen S. Israels in Hebr. und Griech. sowie im Hinblick auf die unterschiedliche Akzeptanz ihrer Offenbarungsqualität in den verschiedenen rel.-polit. Richtungen global nicht beantworten, da wir den exakten hebr., aram. und griech. Text der als heilig anerkannten S. nicht genau kennen. Gelten für Jesus und für den Aram. sprechenden Teil der urchristl. Gemeinden die heiligen S. in Hebr. als vorgegebenes Glaubens- und Lebens-Buch, so für den Griech. sprechenden Teil die heiligen S. in Griech. Verschärft wird die Frage durch die Schwerpunktverlagerung von der theozentrischen Verkündigung der Herrschaft Gottes durch Jesus, durch die Boten der Logienquelle und durch die Theol. der vor-mk. Traditionen zur Christologie, genauer zur Christologisierung des Gottesglaubens, der ohne die Vorgabe der Denkkategorien des hell. Judentums (bes. in der LXX und in den S. Philos) nicht zu denken ist, geschweige denn zu glauben. Durch diese Verlagerung entsteht eine zweite Leserichtung aufgrund der neuen Glaubens-Erfahrungen. Dabei ist gegen alle christologischen Engführungen (bes. in liturgischen Texten und in vergangenen system. Traktaten) festzuhalten, dass alle Theologen des NT streng theozentrisch denken (zum JohEv vgl. die Gesandten-Christologie ). Vom jüd. Grundbekenntnis Gott ist Einer entwirft auch Paulus seine gesamte Theol. (zur Auferweckung Jesu vgl. 1 Thess 1,10; Gal 1,1; 1 Kor 6,14; 15,15; 2 Kor 4,14; Röm 4,24; 8,11; 10,9, zur Versöhnung vgl. 2 Kor 5,19, zur Rechtfertigung vgl. Röm 4,5, zur Vollendung der Zeiten vgl. 1 Kor 15,23 28; Röm 11, ; 15,9 13). Der jüd. Glaube an die dynamische Hinneigung Jhwhs zur Welt, zu Israel
58 46 Schrift / Schriftverständnis und zu allen Menschen (im Hinblick auf die Christologie wäre auch von jüd. Seite das Sprechen und Handeln Gottes durch Propheten verstärkt neu zu bedenken) erfährt in der Christologisierung zwar eine Radikalisierung und Konkretisierung (in Anknüpfung und Weiterführung des jüd.-hell. Gottesbildes), aber Gott bleibt auch für alle ntl. Theologen die Mitte ihres Glaubens und ihrer S. (woran die pln. Präpositionen-Christologie mit durch Christus und in Christus den Leser durchgehend erinnert). Diese christologische Radikalisierung des Gottesglaubens liefert analog zu den Glaubensüberzeugungen der anderen rel. und polit. Gruppen im Frühjudentum eine neue Leseweise der heiligen S. Israels. Die Rede vom doppelten Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum (K. Koch) kann nur in einem ersten Anlauf heuristisch dienlich sein, denn erstens identifiziert es zumindest in der Überschrift anachronistisch die heiligen S. Israels mit dem christl. AT, zweitens setzt es eine kanonische Perspektive des Jh. n. Chr. voraus und drittens beachtet es nicht die vielfältigen sonstigen Ausgänge der hebr. heiligen S. Genauer ist vom doppelten Ausgang der heiligen S. Israels in die jüd. Bibel einerseits und in das christl. AT andererseits zu sprechen. Aber auch dies ist noch idealtypisch. Denn: Die vielfältigen, in sich differenten theol. Konzeptionen und ihre jeweilige, sehr unterschiedliche Nachgeschichte (etwa in der Toratheol. und in den eschatologischen Erwartungen bis hin zur Apokalyptik) werden ebenso idealtypisch vereinheitlicht, wie die Nachgeschichte der hebr. heiligen S. Israels. Diese wurden seit dem Exil ins Aram. übersetzt (Targumim =Erklärungen, Übersetzungen), in die syrische Peschitta (= Übersetzung) und in die Lit. des rabb. Judentums, früher schon in die griech. Übersetzungen des hell. Judentums, in deren Tradition die ntl. Theologen stehen. Selbst im Blick auf das NT kann nicht im Singular vom Ausgang gesprochen werden, da selbst bei Paulus aufgrund einer biographischen Wende verschiedene Lesarten nachweisbar sind (vgl. in Gal 1f seine strenge tora-/sinaizentrische Theol. vor seiner Berufung und die dazu im Widerspruch stehende Haltung zur Zeit des Jerusalemer Apostelkonvents mit der reinen Gnaden- und Glaubenstheol. gemäß dem Vorbild Abrahams nach Gen in Röm 1,16f). Dennoch hat auch die undifferenzierte Rede vom doppelten Ausgang hermeneutisch nicht nur für die hist.-kritische Exegese bzw. für religionswiss. Forschungen, sondern auch für die Grundstruktur der christl. Theol. überhaupt grundlegende Bedeutung, wenn die pharisäischrabb. Lesart in ntl. Zeit als theol. gleichwertig angesehen wird. So im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 2001, die die jüd. Interpretation nicht nur als Verstehens-Hilfe für christl. Exegeten interpretiert, sondern feststellt: Die Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift in der Zeit des zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar. (Nr. 22) Die Rezeption von S. als heilige und normative durch eine Glaubensgemeinschaft gehört zum Wesen dieser S. selbst, wie hier zum ersten Mal durch ein offizielles Dokument des Vatikans festgestellt wird. Auf der Basis dieser elementaren Erkenntnis lassen sich die vielfältigen innerjüd. und innerchristl. Lesarten einordnen. Hist.-kritische Exegeten des AT fragen produktionsorientiert und entstehungsgesch. nach dem Ursprungssinn der Texte (ohne deren Rezeption im NT). Im kanonischen Wechselspiel der beiden Testamente in der einen christl. Bibel gibt es für sie eine zweifache Leserichtung: vom AT zum NT und vom NT zum AT. Hermeneutisch sind beide gleichberechtigt, der erste Teil der christl. Bibel ist jedoch unaufhebbare Voraus-Setzung für alle ntl. Theol., die Wurzel, die uns trägt (Röm 11,18). Für Theologen u. a. in Qumran, der Pharisäer, der Jesusgruppe, der Reformatoren im 16. Jh. gilt eine grundsätzliche hermeneutische Regel ( Hermeneutik): Verstehen heißt lesen, was da steht. Doch der Sinn selbst steht nicht da. Der Text kann also nicht nur betrachtet werden, sondern ist im Akt der Rezeption auszulegen und v. a. bei theol. Texten sich anzueignen. So offen der Akt des Lesens ist, eine absolute Willkür subjektiver Aneignungen verhindert der Text auf-
59 Schrift / Schriftverständnis 47 grund seiner Leserlenkungen. Dennoch gilt auch im Hinblick auf bibl. Texte eine Grunderkenntnis aller Rezeptionstheorien: Auch ein offener Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation. (U. Eco) Text und Leser stehen in einem unaufhebbaren Wechselspiel, was aber voraussetzt, dass es auch bei den heiligen S. Israels nicht nur faktisch ein sehr unterschiedliches Schriftverständnis gab, sondern dass dies gar nicht anders sein konnte. Hier ist nicht der im 20. Jh. von christl. Theologen vielstrapazierte Sinnüberschuss bzw. Tiefensinn der heiligen S. Israels zu bemühen (im Rückgriff auf den sensus plenior der Kirchenväter), um deren christologische Auslegung zu begründen. Es sind vielmehr die Voraussetzungen einer Glaubensgemeinschaft, die nicht nur bestimmte Texte als heilig und normativ, im christl. Bereich als Kanon behauptet, sondern damit auch die die Identität dieser Glaubensgemeinschaft bestimmenden Überzeugungen nicht in die tradierten Texte hineinliest, aber doch die eigene aktualisierende Aneignung der heiligen S. von ihnen sich eröffnen lässt. Dies ist ein kompliziertes Wechselspiel ( Hermeneutik), bei dem reformatorische Traditionen mehr die Klarheit der Schrift und ihre Selbstauslegung betonen, die keiner externen Auslegungsinstanz bedarf, da der heilige Geist, der die heiligen Schriften hervorgebracht hat, im Herzen der Glaubenden wie in der kirchlichen Verkündigung zur Wahrheit führt (M. Luther), während die kath. und die orth. Kirchen die regulative Funktion des Glaubenssymbols, die Traditionen und das unter dem Wort Gottes stehende (DV 10) Amt betonen. Beim Prozess der Rezeption kann es sich jeweils nur um einen sehr selektiven Vorgang handeln, was für ein angemessenes Schriftverständnis elementar ist. VII. Einheit der Schrift? Dass nach Abschluss einer normativen Sammlung heiliger S. für eine Glaubensgemeinschaft (Samaritaner, Sadduzäer, Pharisäer, christl. Juden, christl. Heiden ) die These von der Einheit der S. eine angemessene, die eigene Identität als regula fidei stärkende Funktion hat, ist unbestritten. Diese Rede darf nur nicht anachronistisch auf frühere Situationen übertragen werden, wie es üblicherweise bei den Begriffen Kanon, Bibel, AT, NT geschieht. In hist. bzw. entstehungsgesch. Perspektive ist sowohl bei den heiligen S. Israels wie bei den ntl. S. nicht nur eine spannungsreiche, kontrastive Einheit festzustellen, sondern es zeigen sich auch Widersprüche, die sich nicht ausgleichen lassen ( Einheit). Dennoch kann man letztlich von einer Mitte aller vielfältigen theol. Konzeptionen sprechen, da alle Verfasser der Bibel die Wirklichkeit Gottes zur Sprache bringen wollen. Ihre Antworten, wie sie sich in den atl. und ntl. Texten finden, sind jedoch unaufhebbar unterschiedlich, da alle ob Juden oder Christen die Offenbarung, die Anrede Gottes (DV 6), die Gottesworte anders hören. Die Konsequenz lautet: Die je andere Lesart ist zu akzeptieren, die eigene nicht als objektiv richtig zu deklarieren (was linguistisch nicht möglich ist): Die Geschichte des Heiles liegt, von heiligen Verfassern vorausverkündet, als wahres Wort Gottes in den Büchern des Alten Bundes vor; darum behalten diese von Gott eingegebenen Schriften ihren unvergänglichen Wert. (DV 14 mit Verweis auf Röm 15,4) Diesen theol. Eigenwert der heiligen S. Israels als Sammlung (etwa der 150 Psalmen), aber auch jeder einzelnen S. (etwa jeden einzelnen Psalm), haben Bibelausleger synchron und diachron zu erheben. Da eine bestimmte Sammlung heiliger S. für die christl. Kirchen, ob definiert oder nicht, zum Kanon geworden ist, haben die Exegeten nicht nur den einzelnen Text auszulegen, vielmehr erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens (DV 12). Nicht eine einzelne Schrift aus der Bibel ist Maßstab, sondern ihre Summe ist bleibendes Fundament und Seele der Theologie (DV 24). Da gemäß röm.-kath. Überzeugung der Grundgestus der Kirche darin besteht, auf das Wort Gottes zu hören (so der Anfangssatz von DV: Dei verbum audiens), bildet die Bibel als Einheit für diese Glaubensgemeinschaft trotz ihrer vielfältigen und disparaten theol. Konzeptionen den einzigen theol. Maßstab. Dies impliziert eine ökum. Herausforderung, bes. für die lat.-röm.-kath. Kirche, für eine Ökumene nach innen: Der ungeheure Wille zur grundsätzlichen Einheit im Prozess der Kanonisierung ist der
60 Soteriologie 48 ntl. Maßstab für die Offenheit der christl. Kirchen und für ihre Ökumene nach außen. Die reformatorischen Kirchen leben aufgrund ihrer gesch. Entwicklung diese Vielfalt, leiden aber an der Einheit. Ziel wäre nicht eine Wiedervereinigung der Kirchen mit Rom, sondern die Wiederherstellung der Gemeinschaft der christl. Kirchen auf der Basis der heiligen S. Die Vielfalt, die koinvn2a, ihre communio, ist anzustreben. Nimmt man das NT als Maßstab, dann gehört ekklesiologisch zur koinvn2a wesentlich die Vielfalt dazu. Man kann nicht die Einheit der ganzen Schrift als kanonischen Maßstab postulieren und gleichzeitig die konfessorische Spaltung der Kirchen aus dem 1. und 2. Jt. mit der theol. Vielfalt eben dieser S. legitimieren. Bei einem angemessenen kanonischen Schriftverständnis ist nicht die Vielfalt der Kirchen zu beklagen, wohl aber ihr Mangel an koinvn2a. VIII. Heutige Bibelauslegung: Im obigen Kontext kann es Bibelauslegung im Sg. nicht geben. Nur mühsam hat sich die röm.-kath. Kirche vom Anspruch auf ein Lese- und Perspektivenmonopol befreit und zwar in einer sehr leidvollen Geschichte der Exegese bis ins 20. Jh. Heute sind ein Perspektivenpluralismus sowie ein wiss. abgesichertes Methodenensemble auch von der kath. Kirche anerkannt (Text-, Literar-, Form-, Gattungs-, Motiv-, Traditions-, Überlieferungs-, Kompositions- und Redaktionskritik). In den letzten Jahrzehnten sind weitere Aspekte aus der (Sozio-)Linguistik, Semantik, Psychologie, Rezeptionstheorien, Sozialgeschichte, feministischer Theol., Befreiungstheol., populärer Lektüre u. a. hinzugekommen und offiziell anerkannt. Allerdings fehlte in den hist.-kritischen Methoden vielfach die hermeneutische Dimension. Nicht nur die Auslegung ist Sache der Exegeten, sondern auch die Aneignung der bibl. Texte auf der Basis einer reflektierten Hermeneutik. Für ein angemessenes Schriftverständnis heute müsste eine integrative, umfassende Auslegung Ziel sein, wobei nicht jeder Exeget alle Schritte zu gehen hat. Textorientierte, lit. Methoden haben ihren Eigenwert, ebenso religionsgesch. wie archäologische Aspekte, aber auch rezeptionsorientierte Zugänge, seien diese individuell oder gruppensoziologisch (ekklesiologisch) orientiert. Alle diese Leseweisen haben letztlich das Ziel, die Soteriologie Normativität der heiligen S. Israels und der Gemeinden im NT, die an Gottes Handeln in Jesus von Nazaret glauben, als Gotteswort, als Ev., als Offenbarung für damalige Menschen zu ergründen, sie aber auch heutigen Menschen neu zu erschließen. Dabei ist jede Aktualisierung gebunden an die je unterschiedliche Glaubensgemeinschaft (jüd., kath., orth., prot.), weil diese für die spezifische Anerkennung als hl. Schrift konstitutiv ist. Im Mittelpunkt gegenwärtiger Bemühungen stehen hermeneutische Fragen, vor allem das Bemühen um ein angemessenes Verhältnis von jüd. und christl. Lektüre der heiligen S. Israels und ihrer Relevanz für die christl. Theol. C. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, München 1998; ders. (Hg.), In Gottes Volk eingebunden, Stuttgart 2003; ders./ G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996; U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1992; H. Frankemölle, Evangelium, Stuttgart ; W. Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels und die doppelte Leseweise des christlichen Alten Testaments, in: ders. (Hg.), Das Judentum, Mainz 2001, 9 25; F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift?, Freiburg 2001; H. Karpp, Schrift, Geist und Wort Gottes, Darmstadt 1992; Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Stuttgart 1995; dies., Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, Bonn 2001; W. Pannenberg/ T. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Freiburg u. a ; L. Schottroff u. a., Feministische Exegese, Darmstadt 1995; dies./m. T. Wacker (Hg.), Kompendium feministischer Bibelauslegung, Gütersloh 1998; J. Schreiner, Das Alte Testament verstehen, Würzburg 1999; P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, Göttingen 1979; M. Weinrich, Prinzipien protestantischer Schriftauslegung, in: W. Langer (Hg.), Handbuch der Bibelarbeit, München 1987, ; E. Zenger, Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: ders. u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart Hubert Frankemölle Soteriologie (S.) Zugeordnete Begriffsartikel: Entrückung/Himmelfahrt, Erlösung, Fürbitte, Gerechtigkeit, Heil, Jesus Christus, Jungfrau, Kreuz, Messias, Passion, Rechtfertigung, Rest, Rettung, Seele, Vergebung, Versöhnung, Wunder. Vorbemerkung: Die Bezeichnung S. hängt mit den griech. Begriffen svt1r ( Retter ) und svthr2a ( Rettung ) zusammen und bedeutet Lehre von
61 Soteriologie 49 der Rettung, Erlösung. Im christl.-theol. Sprachgebrauch wird damit in einem engeren Sinne die Lehre von der Erlösung durch Jesus Christus bezeichnet. In einem weiteren Sinne meint S. alle Konzepte darüber, was Heil ist und wie es zu finden ist. Auch wenn die ganzheitliche Ausrichtung als Konsens bibl. S. festzuhalten ist (das Heil des Leibes gerät nie ganz aus dem Blick), ist die Bibel doch auch im Bereich der S. eine Schule der Pluralität. Die bibl. S., die heutige Heilserwartungen eindeutig normieren könnte, gibt es nicht. Die Vielfalt der bibl. Konzepte ist schwer zu systematisieren, aber die Frage nach dem jeweiligen Ort der Heilserfahrung erlaubt eine zumindest grobe Unterscheidung, wobei freilich zeitliche und inhaltliche Überlagerungen und Verknüpfungen vorliegen. I. AT: 1. Die individuelle Biographie und die Geschichte des Volkes. Im AT wird (wie auch sonst im AO) unter Heil oft das Gelingen des diesseitigen Lebens verstanden, und zwar auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene. Es geht dabei um Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit innerhalb der (Groß-)Familie, zwischen den Sippen und dann im königlichen Staat. Der Durchbruch zur persönlichen Frömmigkeit (in Ägypten ca. 13. Jh. v. Chr.) wird generell vorausgesetzt. Zahlreiche Texte, v. a. Psalmen, bezeugen eine persönliche Gottesbeziehung (vgl. Ps 23), sprechen von Unheilserfahrungen, die aus der Ordnung gelingenden Lebens herausreißen, z. B. Verfolgung durch Feinde (Ps 3f u. a.) oder Gefährdung durch Chaosmächte ( Ordnung) wie Krankheit und Tod (Ps 38; 41; 91 u. a.). Die Überwindung solcher Nöte wird der Rettungsmacht Jhwhs zugetraut. Er schenkt Lebensdauer und Lebensfülle. Er gibt Kinderlosen Nachwuchs, unerwartet (Ri 13: Mutter des Simson) oder auf ein Gelübde hin (1 Sam 1: Hanna). Er ruft auf die Fürbitte des Elija hin ein totes Kind zurück ins Leben (1 Kön 17,17ff). Er befreit von Schuld (Ps 6; 32 u. a.; Vergebung), die nicht nur ein innerliches Problem ist, weil sie die göttliche Ordnung stört und so zu konkret erfahrbarem Unheil führt. Das individuelle Geschick ist stets mit dem Geschick der Gemeinschaft verbunden: Unheil auf der kollektiven Ebene beeinträchtigt das Leben der Einzelnen und umgekehrt. So hat das Vertrauen auf die Rettermacht Gottes immer auch eine kollektive Dimension. Jhwh kann Israel retten vor jeder Gefahr (vgl. den Katalog in 1 Kön 8,33ff: Dürre, Hungersnot, Pest, Getreidebrand, Rost, Heuschrecken und Ungeziefer, innere und äußere Feinde, Exil). Dabei kann er sich erwählter Menschen bedienen: z. B. Mose (Ex Dtn), Debora (Ri 4f), Gideon (Ri 6 8), Simson (Ri 13 16), David (1 Sam 17; als König: 2 Sam 3,18), Ester und Judit. In der Exodustradition wird die Retterqualität Jhwhs zur Erinnerungsikone verdichtet. Der Exodus wird zum identitätsstiftenden Mythos: Israel ist das befreite Volk und Jhwh ist der Gott der Befreiung. Wo er Gehorsam fordert, wird auf diese Heilstat verwiesen (vgl. z. B. Dtn 6,4ff). Aus dem Zusammenhang von Ungehorsam/Schuld und Unheil macht die dtr. Geschichtsschreibung ein universales Erklärungsmuster für das Ergehen Israels und knüpft so das Heil an das Festhalten an Gottes Willen. I. 2. Die Endzeit. Eine entscheidende Transformation der S. im AT hängt zusammen mit der Erfahrung des Exils und des Zusammenbruchs der königlich-staatlichen Ordnung (722 v. Chr. Zerstörung des Nordreiches, 597/587 v. Chr. bab. Eroberung Judas, Deportation der judäischen Oberschicht, Zerstörung Jerusalems und des Tempels). Diese Katastrophen erschüttern das Vertrauen, dass die Ordnung stiftenden Institutionen Heil (individuell und kollektiv) garantieren können und dieses sich in der Gegenwart realisieren lässt. Die Erwartung einer heilvoll geordneten Welt wird mehr und mehr auf die Zukunft verlagert. Von einer eschatologisch orientierten S. ( Eschatologie) ist dort zu sprechen, wo die Zukunft, für die das Heil erwartet wird, nicht einfach nur eine kommende Zeit ist, sondern den Rahmen dessen, was nach menschlichem Ermessen möglich und erwartbar ist, deutlich übersteigt. Die exil.-nachexil. Tendenz zum Transzendieren des Möglichen zeigt sich z. B. bei Ez. Dort wird das neue Heil mit dem göttlichen Geschenk eines neuen Herzens und eines neuen Geistes verbunden (Ez 36,26) und die Befreiung Israels aus dem bab. Exil als Wiederbelebung von Toten beschrieben (Ez 37,1 14). Und auch in der Jes-Schule wird das angekündigte Heil als etwas völlig Neues ( Alt) verstanden und dem Früheren gegenübergestellt (Jes 43,18f). Inhaltlich ist
62 50 das Heil v. a. kollektiv verstanden, wobei die Erneuerung Israels (z. T. unter Einbeziehung der Völker) natürlich auch individuelles Heil bedeutet. Jerusalem wird zum Zentrum der universalen Herrschaft Gottes, der entweder direkt oder durch seinen Messias regiert. Die Fülle des Lebens knüpft an den paradiesischen Urzustand der Schöpfung an und dokumentiert sich z. B. in zahlreicher Nachkommenschaft (Jes 49,19ff; 60,22), hoher Lebenserwartung (Jes 65,20ff), der Beseitigung von Krankheit und Tod: Taube hören, Blinde sehen, Lahme gehen, Stumme reden (Jes 29,18; 35,5f) und Tote erstehen zum Leben (Jes 26,19; auch 25,8). Der Friede der Gottesherrschaft ist so umfassend, dass er auch die Tierwelt einbezieht, wie Jes 11 mit seinen paradoxen Bildern deutlich macht. All das geht über die Logik der Alltagserfahrung deutlich hinaus, zielt aber nicht auf ein jenseitiges Heil, sondern auf einen neuen Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17; 66,22). Der Rahmen erfahrungsweltlicher S., die sich auf Individual-Biographie und Israel- Geschichte bezieht, wird hier zwar überstiegen, aber nicht aufgegeben. Die endzeitliche S. wird in der Apokalyptik radikalisiert. Die gegenwärtige Welt scheidet als Ort der Heilsverwirklichung aus. Das Heil wird mehr und mehr das ganz Andere, das in Opposition zu dieser Welt steht und deren Ende voraussetzt. Diese S., wie sie im AT durch das Buch Daniel (ca. 165 v. Chr.) vertreten ist, bearbeitet die Erfahrung andauernder Fremdherrschaft, welche mit der Gefährdung rel. und kultureller Identität durch die zunehmende Dominanz der hell. Weltkultur einhergeht. In den frühjüd. Apokalypsen wird der Unheilszustand der bösen Gegenwart der Heilsfülle der Endzeit diametral gegenübergestellt. Im Äthiopischen Henochbuch (1Hen 72,1) und der Sektenregel von Qumran (1QS 4,25) wird sie als Neuschöpfung erwartet. Die erhofften Heilsgestalten (Messias, Sohn Gottes, Menschensohn) dienen der Durchsetzung der göttlichen Heilsordnung und stehen immer in Opposition zu den Herrschern dieser Welt, die Gottes Volk unterdrücken. Das Heil ist das Gegenteil des polit. Status quo und setzt dessen Vernichtung voraus. Das End-Gericht hat insofern Heilsqualität, als es das Böse vernichtet und gerechte Ordnung als Basis für das Heil des Gottesreiches schafft. Soteriologie I. 3. Der innere Mensch. Wo die vorexil. Rel. den inneren Menschen thematisiert, sind entsprechende S.-Konzepte kollektiv eingebunden. Wird diese Bindung schon durch die Krise des Exils erschüttert, so führt der hell. Individualisierungsschub zusätzlich zu einer Verinnerlichung, die als Psychologisierung oder Vergeistigung der S. gefasst werden kann. So kreist die Frömmigkeit der späten Weisheitslit. (Ijob; Spr 1 9; Sir; Weish) um Glaube und Erkenntnis des Einzelnen, um Trost und Sicherheit in Lebenskrisen. In Sir bietet die göttliche Weisheit geistig-geistl. Speise und Trank an (Sir 24,19f, vgl. Joh 6,35!). In erotischer Metaphorik wird die Beziehung zwischen der Weisheit und dem Weisheitssucher als Hingabe und Vereinigung beschrieben. Es geht darum, den Durst der Seele (Sir 51,24) zu stillen und Ruhe (Sir 51,27) zu finden. Die lebensweltliche Orientierung wird dabei aber nicht aufgegeben. Die Weisheit führt zur Beachtung des göttl. Gesetzes, welches der Schöpfung zugrunde liegt, und ermöglicht so ein gelungenes Leben hier und jetzt. Dies gilt auch für Philo von Alexandrien (in etwa ein Zeitgenosse Jesu). Diesem hell.-jüd. Theologen geht es v. a. um die Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott. Seine Seele muss zur reinen Jungfrau werden, frei von allen irdischen Bindungen, empfänglich für die göttliche Wirklichkeit, welche durch den Logos vermittelt wird, der seine Würde als königlicher Gottessohn an die Weisen weitergibt. Diese rel. Transformation beschreibt Philo z. T. mit der Sprache paganer Mysterien, die die Statusveränderung der Eingeweihten (z. B. Horus-Werden) z. T. mit der Würde königlicher Gottessohnschaft umschreiben. I. 4. Das Leben nach dem Tod. Im AT ist die Rettung vor dem Tod wichtiger als das Leben nach dem Tod. Auch wenn es Ahnen-Kult ( Ahnen) gab, ist die Schattenexistenz in der Unterwelt nicht vergleichbar mit der Lebensfülle der äg. Jenseits-S. Die Bestattungsriten zeigen keinen Versuch zur Erhaltung des Leibes als Basis jenseitigen Lebens ( Grab). Wo die Knochen bes. behandelt werden, steht der Glaube an die Auferstehung dahinter, keine Jenseits-S. Auch die Wiederkehr des Vaters im Sohn (Sir 30,4ff) ist eine Unsterblichkeitshoffnung ohne Jenseits. Zum zentralen Thema wird die jenseitige Existenz im Hellenismus, v. a. in der populären Philos. Die
63 Soteriologie 51 Seele ist unsterblich, weil sie einen göttlichen Geist in sich trägt. Das Weisheitsbuch kombiniert solche Vorstellungen mit jüd. Eschatologie. Die paradiesische Unsterblichkeit der S. ist zwar durch den Sündenfall verloren gegangen, aber die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand (Weish 3,1) und werden zu königlichen Gotteskindern und Endzeitrichtern eingesetzt. Auch Philo sieht die naturgemäße Unsterblichkeit als verloren an. Aber die Seelen der Weisen, die dem Körperlichen und seinen Begierden absterben, erlangen bei Gott das unkörperliche und unvergängliche Leben (Philo gig. 14). II. NT: 1. Die individuelle Biographie und die Geschichte des Volkes. Die S. des NT steht ebenso wie die der frühjüd. Schriften in Übereinstimmung und Abgrenzung unter dem Einfluss der hell.- röm. Weltkultur. In Griechenland und Rom ist die Erwartung eines gelungenen Lebens zunächst auch an die existierende Ordnung der Gesellschaft und ihrer Götter gebunden. Das Zerbrechen dieser Ordnung im Hellenismus führt zu neuen, individuellen Religionsformen (Votivrel., Mysterienkulte). Deren S. zielt überwiegend auf das Diesseits ab: Menschen wenden sich in einer Notlage an ihre Gottheit, machen Gelübde und bedanken sich für erfahrene göttliche Zuwendung, wie Tausende von Votivgaben bezeugen. Den Herrschenden geht es um Erfolg im Krieg, die Themen der anderen sind: berufliche Risiken, Hungersnot, die Gefahren auf Reisen (vgl. auch Apg 27,14 26), Probleme von Schwangerschaft, Geburt oder Kinderlosigkeit (vgl. auch Lk 1: Elisabet; Kind) und immer wieder Krankheiten und Gebrechen. Heiltempel von wirkmächtigen Gottheiten ziehen Tausende an, die das Wunder der Genesung suchen. In dieser Welt ist die christl. Botschaft nur kommunizierbar, weil sie die Sehnsucht nach Heil und Heilung aufnimmt und sie mit dem Christus Jesus verbindet. Heilung ist ja schon bei Jesus ein wichtiges Element der S. Im Rahmen der Reich- Gottes-Botschaft bezeichnen Exorzismen und charismatische Heilungen die Gegenwart als Ort des Heils. Auch für Paulus sind Heilung und Heil eng verbunden: Krankheit weist auf eine Störung des Gottesverhältnisses hin (1 Kor 11,30), Genesung auf göttliches Erbarmen (Phil 2,26; vgl. Jak 5,14f). Von den (erschließbaren) alten Wundersammlungen bis hin zu den Evv. ist das Heilen vieler Kranker ganz wesentlich für das Jesusbild. Lk lässt darüber hinaus die Apostel das heilende Wirken Jesu fortführen. Selbst der Schatten des Petrus besitzt Heilsmacht (Apg 5,15). Die Vielzahl der ntl. Wundererzählungen lässt eine frühkirchliche Praxis charismatischer Heilungen erschließen. Zwar wird die S. im NT vorwiegend eschatologisch akzentuiert, da allerdings die Lebensfülle der Endzeit in die Gegenwart hineinragt und ganzheitlich verstanden wird, wird das gegenwärtige Leben als Ort der S. wiedergewonnen; Eschaton und Erfahrungswelt nähern sich einander an ( Eschatologie). Individuell-biographische und kollektive Ebene können verbunden werden durch die Konzeption der Kirche als Ort der Erweiterung der Heilsgeschichte Gottes mit Israel (vgl. Röm 1,2; Apg 3,1 10, heilsgesch. gedeutet durch Apg 3,12ff). II. 2. Die Endzeit. Im NT ist die apokalyptische S. durch Johannes den Täufer vertreten. Johannes sieht ganz Israel als Unheilskollektiv an (ähnliche Vorstellungen gibt es u. a. auch in Qumran), welches das Zorngericht Gottes verdient hat ( End-Gericht). Dieses vernichtende Strafgericht steht unmittelbar bevor, die Axt ist schon an die Wurzel gelegt (Lk 3,9). Israel kann sich auf nichts mehr berufen, Gott könnte selbst aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen (Lk 3,8). Wenn es überhaupt noch eine Heilschance gibt, dann ist es die radikale, tatkräftige Umkehr. Die Heilswirksamkeit der Bußtaufe, zu der Johannes aufruft, ist streng an die Umkehr gebunden ( Vergebung). Jesus von Nazaret steht unter dem Einfluss der Botschaft des Johannes, von dem er sich taufen lässt. Wie Johannes geht Jesus davon aus, dass Israel Gottes Zorn verdient hätte, sieht aber die Heillosigkeit sogar noch radikaler: Die Bosheit der Menschen lässt Umkehr gar nicht mehr zu. Gott selbst muss umkehren, sich neu seinen Geschöpfen zuwenden und ihnen ganz unverdient seine Gnade schenken. Der apokalyptische Heilspessimismus wird so radikalisiert, dass er umschlägt: In einer ungeheueren Wende wird deshalb nicht das Gericht betont, sondern die Nähe der basile2a toq UeoQ (Königsherrschaft Gottes; Herrschaft). Für Jesus ist das Heil der Endzeit jetzt schon als Lebenschance gegenwärtig. Die Spannung von doch schon und
64 52 noch nicht kennzeichnet seine S. und durchbricht damit das lineare Nacheinander von Unheil und Heil. Auch wenn die Vollendung des Heils noch aussteht, ist es doch schon gegenwärtig (vgl. das Senfkorngleichnis Mk 3,31f). Deshalb können jetzt schon Arme, Hungrige und Trauernde selig gepriesen werden. In seinen charismatischen Heilungen und Exorzismen ( Wunder) wird das ganzheitliche Heil der gegenwärtigen Gottesherrschaft für die Einzelnen punktuell und situativ erfahrbar (Lk 11,20). Die neuere Forschung betont wieder, dass das Gericht untrennbar zur Gottesreich-Botschaft Jesu gehört, auch wenn es in den Hintergrund tritt. Wer das letzte Angebot der Versöhnung ablehnt und die Umkehr als angemessene Reaktion verweigert, verfällt dem Vernichtungsgericht (vgl. Lk 10,13 15; End-Gericht). Ist die S. Jesu ganz auf Gott als den eigentlichen Handelnden konzentriert, so tritt in der christl. Jesustradition ein christologisches Moment hinzu. Es gilt, die Rolle Jesu im Heilshandeln Gottes zu klären. Die Logienquelle versteht den erhöhten Jesus als Menschensohn, der als endzeitlicher Richter wiederkommen wird. Weil die Worte des irdischen Jesus der Maßstab im Gericht sind, müssen seine Worte gesammelt und verkündet werden. Durch die Übertragung der endzeitlichen Richterrolle auf Jesus nähert die Logienquelle die Heilserwartung wieder stärker an apokalyptische Muster an, ohne freilich den präsentischen Aspekt der jesuanischen S. aufzugeben. Das gilt auch für die synopt. Evv., welche sich aber stärker auf Jesus als Messias und Gottessohn konzentrieren. Sie betonen die Errettung aus der Macht der Sünde (vgl. z. B. Mt 26,28; Lk 1,77), doch bleibt ihre S. ganzheitlich. Kirchengesch. von bes. Bedeutung (Paulusrezeption Luthers und anderer Reformationstheologen!) ist die S. des Paulus. Sie kreist um den Sühnetod Jesu am Kreuz, der die Vergebung der Sünden, die Versöhnung des Menschen mit Gott bewirkt. Das Heil besteht in der von Gott geschenkten Gerechtigkeit (d. h. in der Rechtfertigung der Sünder) und kann auch als In-Christus-Sein, als Freiheit oder Gotteskindschaft umschrieben werden. Paulus durchbricht damit ebenfalls das lineare apokalyptische Schema. Für ihn leben die Glaubenden schon in einer neuen Welt, sind neue Schöpfung (2 Kor 5,17; Gal 6,15), Soteriologie auch wenn die Getauften noch im alten Zeitalter (Äon, Zeit) leben müssen und entsprechende Bedrängnis erfahren. Im Glauben ist ihnen die Heilswirksamkeit von Tod und Auferstehung Jesu Christi schon zugänglich geworden. Gleichwohl betont Paulus, dass die daraus resultierende rel. Statusveränderung noch nicht die Fülle des Heils ist. Deshalb kritisiert er jene, die behaupten, dass sie im Glauben den Existenzwechsel vom Tod zum Leben schon vollendet haben. Dagegen hält Paulus an der endzeitlichen Auferstehung des Leibes bei der (baldigen) Wiederkunft ( Parusie) Christi fest. II. 3. Der innere Mensch. Auch für Paulus sind Heil und Unheil des inneren Menschen ein Thema (z. B. Röm 7,22). Allerdings ist die heilsame Wirkung des Glaubens nicht nur innerlich. Gotteskindschaft und Sein in Christus beziehen sich auf die gesamte Existenz. Das Konzept des unsterblichen, pneumatischen Leibes (1 Kor 15,44) zeigt zwar hell. Einfluss ( Fleisch), aber die S. des Paulus bleibt ganzheitlich und eschatologisch. Eine radikal vergeistigte S. vertreten dagegen Gegner in Korinth, die behaupten, eine Auferstehung der Toten gibt es nicht (1 Kor 15,12). Dabei deuten sie ihren Glauben enthusiastisch als inneren Übergang vom Tod zum Leben, als rel. Transformation. Darin wird die Fülle des Heils als Steigerung der Lebensqualität gegenwärtig ( realized eschatology ), was die endzeitliche Totenerweckung, die im Rahmen hell. Anthropologie ohnehin sinnlos ist, überflüssig macht. Strukturell ähnlich ist die S. der joh. Tradition, die hell.-jüd. Weisheitstraditionen aufnimmt. Die Stunde des End-Gerichts ist mit Jesus schon gekommen. Wer sich jetzt für den menschgewordenen Logos entscheidet und ihn annimmt, wird Kind Gottes und erhält Anteil am Leben, das der Christus in Person ist: Wer glaubt, hat das ewige Leben (Joh 6,47; vgl. auch Joh 3,36 u. a.). Diese gegenwartsorientierte S. birgt die Gefahr einer radikalen Spiritualisierung des Heils. Dagegen geht die joh. Redaktion an, indem sie korrigierend die Ganzheitlichkeit des Heils (1 Joh 3,14) und die Zukünftigkeit der Vollendung betont: [ ] und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag (Joh 6,44; vgl. auch 6,39 u. a.). II. 4. Das Leben nach dem Tod. Wenn im NT Jen-
65 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution Sozialstatus / Gesellschaft und Institution 53 seits-s. thematisiert wird, dann in Kombination mit eschatologischen Mustern. I. Allg. ist das Leben nach dem Tod nur ein Zwischenzustand bis zur endzeitlichen Vollendung ( Auferstehung; Entrückung). So rechnet Paulus damit, nach dem Tod bei Christus zu sein (Phil 1,23). So sieht die Offb die Seelen der Blutzeugen (Offb 6,9f) im Himmel auf das Ende warten. Und Lk erzählt, dass der reuige Sünder am Kreuz heute noch mit Jesus im Paradies sein wird (Lk 23,43; vgl. auch das Lazarusgleichnis, Lk 16,19 31). I. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Göttingen 1992; G. Fischer/K. Backhaus, Sühne und Versöhnung, Würzburg 2000; J. Schreiner, Theologie des Alten Testaments, Würzburg 1995; S. Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, Mainz 1996; W. Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes, Neukirchen-Vluyn II. I. Broer u. a. (Hg.), Auf Hoffnung hin sind wir erlöst (Röm 8,24), Stuttgart 1987; G. Fischer/K. Backhaus, Sühne und Versöhnung, Würzburg 2000; H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament, Freiburg u. a. 1996; H. Kessler, Erlösung als Befreiung, Düsseldorf 1972; R. Kieffer, Reich Gottes, Rechtfertigung und Heil: Conc. 33 (1997) ; J. Kügler, Der Sohn als Abbild des Vaters: BN 107/108 (2001) 78 92; ders., Denen aber, die ihn aufnahmen, (Joh 1,12): JBTh 17 (2002) ; H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, Stuttgart ; D. Strahm/R. Strobel (Hg.), Vom Verlangen nach Heilwerden, Luzern 1992; B. Studer/ B. Daley, Soteriologie in der Schrift und Patristik, Freiburg u. a Joachim Kügler Sozialstatus / Gesellschaft und Institution (G./I.) Zugeordnete Begriffsartikel: Abgabe/Steuer/ Zehnt, Amt/Charisma, Apostel/Jünger, Armut/ Reichtum, Bote/Sendung/Mission, Ehe, Erstgeburt/Erbe, Erziehung/Schule, Familie/Eltern, Feind, Fremder, Gemeinschaft/Individuum, Gericht, Heer/Militär, Kind, Kirche/Gemeinde, König, Sklave/Sklavin, Staat, Volk, Witwe. Vorbemerkung: Die Schriften des AT und des NT sind von Menschen und für Menschen geschrieben worden, die im Vorderen Orient und antiken Mittelmeerraum gelebt haben. Die Welt der Personen, von denen sie handeln und die an ihrer Schaffung, Sammlung, Überarbeitung und Überlieferung beteiligt waren, ist nicht nur in einem geographischen Sinn in diesen Regionen zu suchen. Die Protagonisten, Autoren, Redaktoren und Traditionsträger der bibl. Texte waren Kinder ihrer G. und fühlten, dachten, urteilten und handelten in Übereinstimmung mit den Strukturen und kulturellen Leitfäden derselben. Das Wertegefüge ihrer Kultur und ihrer Zeit war der Referenzrahmen, der ihnen und ihren zeitgenössischen Lesern/Hörern selbstverständlich war ( Kultur und Mentalität). Wenn die atl. oder ntl. Autoren bzw. Redaktoren daher in ihren Schriften von Familie, Ehe, Feind oder Staat etc. sprechen, dann verbinden sie implizit mit diesen Begriffen Bedeutungen, die ihnen als Angehörige ihrer Kultur und ihrer Zeit schon von Kindheit an (durch Enkulturation) vermittelt worden sind. Das komplexe Ganze von kulturellen Werten, inneren Einstellungen, Vorstellungswelten und I. ihrer eigenen Kultur wird von ihnen als selbstverständlich und beim Leser/Hörer als bekannt vorausgesetzt. Ihr Referenzrahmen ist nicht zwangsläufig mit dem unseren (d. h. dem europäischen des 21. Jh. n. Chr.) identisch! I. AT: In Palästina hatten sich aus den bäuerlichen Stammesgesellschaften mit lokalen Häuptlingen (so besser statt Richter, z. B. Gideon Ri 6 8) der vorstaatlichen Zeit über vereinzelte Stammesstaaten (z. B. Sauls Häuptlingstum über die Stämme Gilead, Benjamin, Efraim; Davids Häuptlingstum über Juda 2 Sam 2,1 11) spätestens im 9. Jh. v. Chr. das Nordreich (= Israel) und im 8. Jh. v. Chr. das Südreich (= Juda) zu zentralen Staaten entwickelt. Dies lässt sich archäologisch am Auftreten von Monumentalarchitektur, Luxusgütern und der Häufigkeit von Schriftdokumenten ablesen. Damit war nicht mehr der Stamm (= die polit. Organisationsform nicht-urbaner G., nicht zu verwechseln mit der Abstammungsgemeinschaft Familie), sondern der Staat (= die polit. Organisationsform urbaner G.) machtpolit. bestimmend. Im Rahmen dieser Umgestaltung vollzog sich der Wandel von dem lokalen Handel wie der Tausch- und Subsistenzwirtschaft zum Außenhandel und zur Geldwirtschaft (Silber und Gold als Wertmesser, ab der Perserzeit Münzgeld). Weiter wurde neben dem Unterhalt des Königs zunehmend ein differenzierter (und teurer) Verwaltungsapparat notwendig
66 54 (1 Sam 8,10ff), der das Zusammenleben der Menschen regelte. Die Abgaben, die benötigt wurden, um den Staatsapparat mit den I. Palast und Tempel (hier anzusiedeln: Archive und Schreiberschulen) funktionieren zu lassen, belastete die Bauern und die ländliche Bevölkerung u. U. bis zum Absturz in die Schuldknechtschaft. Mit der Einführung des Rentenkapitalismus, der zur Folge hatte, dass die Mehrheit der Bauern das Land als Pächter eines Grundbesitzers bewirtschaftete, der von deren Erträgen profitierend selbst in der Stadt lebte (und den das Land nicht mehr als konkreter, unveräußerlicher Ackerboden, sondern als Ertragsgrund seiner Rente, als sein Kapital und seine Geldanlage interessierte), wurde die Entwicklung in eine sozial zerklüftete G. beschleunigt, was sich auch durch die sozial- und gesellschaftskritische Prophetie eines Amos (2,6 8; 5, ) oder legislative Einschränkungen des Bankgeschäftes (Ex 22,25; Lev 25,36f) nicht aufhalten ließ. Darlehen waren Verbrauchsdarlehen (keine Investitionsdarlehen) und führten damit beim Darlehensnehmer allenfalls zum Kontoausgleich, oft jedoch in Verschuldung, keinesfalls zur dauerhaften Verbesserung seiner Lage. Trotz der Entwicklungen, die die Umwandlung in einen territorialen Staat ( Israel/Juda) mit einem Königshaus an der Spitze mit sich brachte, blieben die vorstaatlichen Stammesstrukturen mit Sippenoberhäuptern, die sich zur ländlichen Elite an der Spitze von Ortschaften (und später zur Feudalelite) entwickelten, auf dem Land intakt. Wer von diesen Bauern und Herdenhaltern für den städtischen Markt Überschuss produzierte, wurde zu einem Großbauern und Großherdenhalter (s. Am 1,1; 7,14; 1 Sam 25,2; Ijob 1,3) und damit z. T. einer ländlichen Oberschicht, die sich zunehmend in ihrem Marktzentrum eine Niederlassung zulegte, jedoch aufgrund ausgeprägter Eigeninteressen eine ständige Quelle des Widerstands gegen das Königtum (Ri 9,7 15) und der Stärkung des Regionalismus gegen den zunehmenden Zentralismus der Hauptstädte war. Neben diesen sesshaften Bevölkerungsteilen sind in Palästina Nomaden, also nicht-sesshafte Viehzüchter, nachgewiesen, die in Familien- (seit dem 6. Jt. v. Chr.), Sippen- (z. B. die Schasu-Lokalnomaden des 2. Jt. v. Chr. im paläst. Bergland) oder Stammesverbänden (z. B. die Kamelnomaden der Sozialstatus / Gesellschaft und Institution syr.-arab. Wüste seit der 1. Hälfte des 1. Jt. v. Chr.) organisiert waren. I. 1. Die Veränderungen der Königszeit änderten nichts daran, dass die antike G. der Levante eine Agrargesellschaft war, d. h. eine Ansammlung von Dörfern, die von Landwirtschaft oder Fischfang lebten und mit den Städten ihrer Region in sozialer Hinsicht verbunden waren. Die Städte dienten den Dörfern, die jeweils unter ihrem Einfluss standen, als administratives, rel. und wirtschaftliches Zentrum, d. h. als Markt- und Umschlagplatz für Waren aller Art (Güter, Informationen etc.; Stadt). Die Hauptstadt des territorialen Staatsgefüges, Samaria (in Israel), Jerusalem (in Juda), war das Zentrum, das als imperialer Mittelpunkt fungierte und mit dem alle anderen Städte (und durch diese die dazugehörigen Dörfer) polit. verbunden waren. Dörfer, Städte, Hauptstadt und Staaten waren jeweils in sich geschlossene, funktionierende Systeme, die jedoch aufeinander bezogen waren, da sie zur selben Zeit denselben Raum (den Vorderen Orient) teilten, miteinander in sozialer Interaktion standen, sich wechselseitig beeinflussten, voneinander profitierten, miteinander zusammenarbeiteten oder konkurrierten. Nach der Auslöschung der Staaten Israel (722 v. Chr.) und Juda (587 v. Chr.) gab es zwar keine Hauptstädte mehr, jedoch blieben Samaria und Jerusalem Zentren der Region, was sich weder in pers. Zeit mit den Provinzen Samaria und Jehud, noch in hell. Zeit mit den Hyp- oder Eparchien Samaria und Judäa änderte. Die alte Rivalität zwischen Israel/Samaria und Juda/Jerusalem verband sich in nachexil. Zeit mit der Ablehnung der ansässig vorgefundenen Bewohner des Landes (}am ha{arær) durch die judäischen Rückwanderer aus dem bab. Exil (Ez 33,24 29; Hag 2,10 14) und konkretisierte sich u. a. im Neubau des Jerusalemer Tempels ( v. Chr.) als rel. Zentrum der von ehemaligen (und von Persien unterstützten) Exulanten dominierten Gemeinde in Juda unter Ausschluss der Landeseinwohner (Esra 4,1 5; 6,7). Die zunehmenden Spannungen führten zur Spaltung in Samaritaner (seit 450 v. Chr. mit einem eigenen Heiligtum auf dem Garizim bei Sichem, 2 Makk 6,2) und Juden. Der Wandel von Israel/Samaria und Juda/Jerusalem als rivalisierenden Staaten der vorexil. Zeit in ebensolche Kultgemeinden in
67 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution 55 der nachexil. Zeit war damit vorläufig abgeschlossen. Entsprechend dieser Transformation von polit. in rel. Einheiten spielt die I. Palast gegenüber der I. Tempel in den späteren Schriften des AT eine immer kleinere Rolle (vgl. 1 Kön 6f; Ez 40 48; Ex 25 31; 35 40; Hag; Sach), wobei es jedoch vereinzelt zu Kritik an der Fixierung auf das Menschenwerk Tempel und der veräußerlichten Begrenzung der Jhwh-Gemeinde kam (Jes 66,1f). Seit der exil. Zeit war der Familie immer größere Bedeutung zugewachsen, da die Gemeinden in Babylonien anscheinend nach Abstammungsgemeinschaften in Vaterhäuser/Familienbünde mit Ältesten an der Spitze (Esra 2; Neh 7,5ff) organisiert waren. Die Bedeutung der verwandtschaftlichen Kontinuität spielte eine große Rolle und wurde in der nachexil. Konstruktion der eigenen Identität als Volk zur Grundlage des Neubeginns. In nachexil. Zeit vollzog sich die Restauration auf der Grundlage der Vaterhäuser/Familienbünde, und die Familienhäupter des ganzen Volkes (Neh 8,13) spielten als Leitungsgremium des ganzen Volkes (Neh 8, f) eine herausragende Rolle. I. 2. Nur der kleinere Teil der Gesamtbevölkerung lebte im 1. Jt. v. Chr. in Städten. Diese waren eher klein: In der Mitte des 8. Jh. sind nur 8 Orte nachgewiesen, die größer als 10 ha sind und deren Einwohnerzahl (bei 250 Menschen pro Hektar Stadtfläche) zwischen 2500 (Dor) und (Samaria) anzusetzen ist. Erst nach der Zerstörung des Nordreichs 722 v. Chr. wuchs Jerusalem von ca. 30 ha zur größten Stadt der Region auf ca. 70 ha = Einwohner. Innerhalb der urbanen Bevölkerung herrschte eine klare soziale Trennung, die sich u. a. in den Wohnbezirken ausdrückte. So wohnte die geringe Zahl der Angehörigen der urbanen Elite (= polit., administrative und/oder rel. Führungsschicht; Großgrundbesitzer, nicht mehr als ca. 1 2 % der Bevölkerung) in eigenen Vierteln. Diese gebildete Stadt-Elite, in die man im Regelfall nur hineingeboren werden konnte, war die Trägerin der Normen und Werte, die den Idealen der G. Kontinuität und Substanz verliehen. Sie hatte Vorbildcharakter, wirkte Trend-setting und orientierte ihre Lebensbedürfnisse an den geltenden internationalen Standards (z. B. sichtbar an Luxus-, Prestige- und Importgütern; vgl. die Elfenbeine aus Samaria Abb. 7, 29 und 33), wodurch ein starkes soziales Gefälle von der Hauptstadt und den städtischen Zentren hin zu den Dörfern und Gehöften entstand. Diese Elite dominierte die Innen- (die Eintreibung von Abgaben/Steuern, Organisation, Verwaltung, Aufrechterhaltung von offiziellem Kult) wie die Außenpolitik (Bündnisse, Kriege, Tributzahlungen). Eine Mittelschicht im heutigen Sinn gab es nicht, sodass Händler, Handwerker und Tagelöhner zur Unterschicht zu zählen waren, von der nochmals die Sklaven und Bettler abgegrenzt wurden. Von diesen urbanen Gesellschaftsschichten sind die nichtstädtischen Bevölkerungsteile der ländlichen Ortslagen zu unterscheiden, die die vereinfachte und veraltete Form der gesellschaftlichen Normen und Werte tradierten (u. a. Aufrechterhaltung des Gewohnheitsrechts oder des lokalen Kults) und außerhalb der städtischen Lebenswirklichkeit und ihrer Ideale und Trends standen, an der sie sich nichtsdestotrotz orientierten, die aber jeweils vereinfacht und verspätet an sie vermittelt wurden. Aus dieser Diskrepanz konnten sich zwischen den städtischen Zentren und der ländlichen Peripherie überall da Konflikte ergeben, wo sich die Interessen und Wertvorstellungen kreuzten und unvereinbar waren ( Kultur und Mentalität). Dies war z. B. in Bezug auf das Bodenrecht der Fall, da es einerseits noch sippenbäuerlich denkende Kleinbauernfamilien gab, denen das Land als unverkäufliche Gabe galt, während mit dem Königtum der Gedanke des staatlichen Grundeigentums Einzug hielt (1 Kön 21) und in den Hauptstädten Samaria und (später) Jerusalem (bereits ab dem 8. Jh. mit steigender Tendenz) Großgrundbesitzer saßen, die in ihrem Land (nur) eine Kapitalanlage sahen. I. 3. Die verschiedenen Groß- (Städter, Bauer und Nomade) und Kleingruppen des sozialen Systems (= der G.) wie Familie oder Sippe und seine Einzelbereiche wie Wirtschaft, Erziehung und Rel. interagierten im Idealfall auf kooperative Weise, sodass sich die G. in einem Gleichgewicht befand. Der einzelne Mensch wurde durch seine Geburt Mitglied einer bestimmten Familie und eines Volkes sowie in einen bestimmten sozialen Kontext platziert, der ihm soziale Rollen, Rechte und Verpflichtungen anderen gegenüber zuteilte. Diese überindividuell vorgegebenen, gesellschaft-
68 56 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution Abb. 7: Die Elfenbeine aus Samaria (8. Jh. v. Chr.), Luxusware des israelitischen Königshauses, zeigen den typischen Mischstil, der syr.-phön.-äg.-paläst. Elemente kombinierte (s. auch Abb. 33). Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb lich zugewiesenen und unterschiedlich bewerteten Rollen setzten den einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, gaben ihm einen bestimmten sozialen Status (= das Ensemble der Rechte und Pflichten eines Menschen) und wiesen ihm einen Platz in der Statusleiter der Gemeinschaft zu. Eine G. (= ein soziales System) stellt sich so als ein strukturiertes Arrangement von Rollen dar, von verschiedenen Status (und damit auch Hierarchien), die innerhalb dieser G. anerkannt, vergeben und praktiziert werden. Die Bewahrung des ererbten (= zugeteilten) sozialen Status eines Menschen war zugleich sein Lebensziel, an Veränderungen bestand kein Interesse. Aufstiegsmöglichkeiten durch eigene Leistungskraft oder -steigerung (etwa vom Pächter zum Kleinbauern) gab es innerhalb dieser G. der sozialen Immobilität kaum. Auch in Zeiten erheblichen sozialen Unfriedens und der Destabilisierung des sozialen Systems, wie es z. B. durch die Rückwandererwellen der Exulanten aus Babylonien in pers. Zeit geschah, hatten soziale Reformen (Neh 5) oder auch die späteren Aufstände der traditionalistischen Kleinbauern gegen die hell. akkulturierte Oberschicht der Stadt (1 Makk) nur den Sinn, zum alten Standard und sozialen Status zurückzukehren, nicht etwa einen neuen zu erreichen. I. 4. Die sozialen Strukturen einer G. gestalten das alltägliche Leben des Einzelnen. Sie bringen Menschen zusammen (z. B. Angehörige einer Familie oder Sippe) oder halten sie voneinander fern (z. B. Verbot der Mischehe Esra 9f; Neh 13; Ehe), sie definieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ermöglichen Interaktionen, geben ihnen bestimmte Abläufe vor (z. B. die Aufnahme eines Gastes im Rahmen der Gastfreundschaft) oder schränken sie ein. Diese Strukturen und die Zuweisung sozialer Rollen, die ihrerseits mit der Geschlechtertrennung verbunden waren, bestimmten das Leben und Verhalten der Männer und Frauen ( Frau) im vorchristl. Palästina. Geschlechterrollen und der dazugehörige geschlechtsspezifische Status referieren (auch heute noch) auf das, was laut geltendem gesellschaftlichen Konsens von einem Mann bzw. einer Frau erwartet wird. Die paläst. G. war wie alle ao. G. patrilokal, patrilinear und patriarchal organisiert. Innerhalb der geltenden geschlechtlichen Trennung der Arbeitsbereiche waren Frauen mit Aufgaben innerhalb der privaten Sphäre des Hauses betraut ( Kind, Altenversorgung, Haushalt), während die Männer die Pflichten außer Haus übernahmen (Vertretung von Ehre und Interessen vor Gericht; Verhältnis der Familie zum König bzw. Hof; Aufbau und Aufrechterhaltung des sozialen Netzwerks; Voran- und Einkommen [ Amt]). Die Lebensbereiche von Mann und Frau waren daher weitgehend voneinander getrennt. In der ao. patriarchalischen G. war ausschließlich der (männliche) Hausvorstand für den Namen, das Ansehen und die Ehre (= Anspruch auf sozialen Rang und dessen gesellschaftliche Anerkennung) verantwortlich. Eine Frau konnte ihre Ehre oder Interessen nicht selbstverantwortlich vertreten: Vor ihrer Ehe war das Sache ihres Vaters bzw. Hausvorstandes, nach der Heirat die ihres Gatten. Prostituierte galten als ehrlos. Sie respektierten keine Grenzen, besaßen keine Scham und symbolisierten Chaos und Gefahr. Sie lebten im Grenzbereich zwischen geordneter und chaotischer Welt (u. U. konkretisiert als Stadtmauer, Jos 2,15). Vor Gericht (ausgeübt von der lokalen Elite = Ortsvorsteher am Tor, s. Rut 4,1 11) waren sie in Ermangelung eines männlichen Vormunds selbständig rechtsfähig (1 Kön 3,16ff). I. 5. Ehre und Ansehen wurden primär durch Geburt zugeschrieben und durch Blut(sverwandt-
69 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution 57 schaft) oder Namen symbolisiert ( Kultur und Mentalität). Die Ehrenhaftigkeit der Eltern machte die Kinder ehrenwert und wurde in der Erblinie weitergegeben (Ez 16,44). Eine Angabe der Herkunft ist zugleich eine Information über den sozialen Status und den Ehrenwert einer Person. Der angeborene Status und Ehrenwert konnte durch eine Person in Machtstellung (König) oder Gott verändert werden (Beförderung/Erhöhung z. B. David; Aberkennung/Verwerfung z. B. Saul). Die Kultur der Mittelmeerwelt gilt als eine agonistische Kultur, d. h. jede soziale Interaktion außerhalb der Familie oder der Ersatzfamilie (Freundes-, Schüler-, Jüngerkreis) wurde als Wettbewerb um Ehre verstanden, also als Versuch, die Ehre eines sozial Gleichgestellten (nicht eines Höheren oder Unterlegenen!) zu erwerben (nur für Männer möglich). Indem sich einander ebenbürtige und sozial gleichgestellte Personen in Wort und/oder Tat herausforderten (= challenge) und anschließend eine entsprechende Reaktion (= response) eintrat, gewann oder verlor der Herausforderer oder der Herausgeforderte an Ehre. Die Übertragung von Ehrentiteln von einer Person auf eine andere ist ein Transfer von Ehre und Status, zu beobachten bei der Übertragung verschiedener kulturell gängiger Hoheitstitel auf den Perser Kyrus (Jes 45,1; Gesalbter) oder den erwarteten Messias (Gottessohn, Sohn Davids, Hirte, Herr etc.). II. NT. In ntl. Zeit war fast der gesamte Mittelmeerraum Teil des Imperium Romanum, wobei die Römer je nach polit. Stabilität, Hellenisierungs- und Urbanisierungsgrad der Gebiete verschiedene Formen der direkten und indirekten Machtausübung wählten und in unterschiedlichem Maße einheimische I. bestehen ließen. Nebeneinander bestanden senatorische Provinzen (keine Legionen stationiert, geleitet im Auftrag des Senats von einem jährlich wechselnden proconsul mit administrativem Stab; Paulus traf z. B. nach Apg 18 in Korinth auf den proconsul der Provinz Achaia Lucius Iunius Gallio Annaeanus), Provinzen des Kaisers (der von diesem auf unbestimmte Zeit benannte legatus pro praetore hatte neben der Statthalterschaft auch den Oberbefehl über die Legion; Lk 2,2 nennt Quirinius, den Legaten von Syrien), ferner tributpflichtige Klientelfürsten-/königtümer (z. B. Teile Palästinas), Stadtrepubliken und röm. Kolonien (urspr. Garnisonen, Neugründungen oder Städte, in denen Veteranen und andere röm. Bürger angesiedelt wurden, z. B. Philippi und Korinth). Der von Augustus nach Beendigung des Bürgerkrieges ausgerufene Friede (pax Romana oder pax Augusta) sollte den gegenüber der röm. Herrschaft loyalen Bewohnern des Imperiums Sicherheit nach außen und Frieden nach innen garantieren, ungestörten Handel, wirtschaftlichen Wohlstand, rechtliche Sicherheit und kulturelle Entfaltung ermöglichen. Seine Aufrechterhaltung war oberste Priorität der röm. Autoritäten und der mit ihnen zusammenarbeitenden lokalen Eliten, sei es durch Verleihung von Privilegien und ostentative Wohltätigkeit (sog. Euergetismus), sei es durch rücksichtslosen Einsatz von Militär ( Heer) und Justiz ( Gericht). Was jeweils aufgeboten wurde, entschied sich an den lokalen Gegebenheiten oder an der Persönlichkeit des Amtsinhabers. II. 1. Palästina und seine Teilgebiete wurden im 1. Jh. n. Chr. im röm. Auftrag teils indirekt durch Klientelkönige und -fürsten der idumäischen Dynastie der Herodäer regiert (Archelaos, Ethnarch von Judäa und Samarien 4 v. 6 n. Chr.; Herodes Antipas, Tetrarch in Galiläa und Peräa 4 v. 39 n. Chr.; Agrippa I n. Chr. König über ganz Palästina), teils direkt durch röm. Präfekten bzw. Prokuratoren aus dem Ritterstand (z. B. Pontius Pilatus in Judäa und Samarien); ab 44 kam ganz Palästina unter röm. Verwaltung. Jüd. I. besaßen auf lokaler Ebene und in kultischen Fragen eine gewisse Autonomie ( Tempel, Gericht). Um diese auszuüben, waren die einheimische Führungsschicht (Landadel, Tempelaristokratie und Hohepriester) und ihre Gefolgsleute (Soldaten, Beamte, Zöllner, Schriftgelehrte) auf die Zusammenarbeit mit den Römern angewiesen und kompromittierten sich dadurch in den Augen des Volkes fortwährend, denn weder die von Roms Gnaden abhängigen Herodäer noch die Römer selbst wurden von der Bevölkerungsmehrheit als legitime Machthaber angesehen. Die in bäuerlichen Traditionen wurzelnde, theokratische Grundüberzeugung, dass alle Herrschaft im Einklang mit Jhwh, dem einzigen Gott und Herrn, dem eigentlichen Besitzer des Landes, ausgeübt werden musste, dass daher Anerken-
70 58 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution nung der röm. Herrschaft und Steuerzahlung an sie ( Abgabe) letztlich als Götzendienst ( Götze) zu gelten habe, war durch Judas Galilaios anlässlich der Erhebung des Zensus unter Quirinius 6 n. Chr. formuliert worden und blieb auch nach der Niederschlagung des Aufstands durch Quirinius die ideologische Basis des jüd. Widerstands. Palästina befand sich im 1. Jh. n. Chr. in einer rel. motivierten, permanenten Verfassungskrise ( Staat), die durch sozio-ökonomische, rel. und sozio-kulturelle Spannungen verschärft wurde (wachsende Armut; ein Gefühl kultureller Überfremdung durch die von Herodäern und Römern forcierte Hellenisierung im eigenen Land und die Sogwirkung der großen hell. Städte [ Stadt] in unmittelbarer Nachbarschaft). Dadurch war das gesellschaftliche Gleichgewicht über Jahrzehnte gestört. Dieser Zustand brachte lange bevor er im jüd. Aufstand (66 70 n. Chr.) kulminierte und die Verwüstung des ganzen Landes einschließlich Jerusalems und des Tempels zur Folge hatte mehrere jüd. Widerstands- und Erneuerungsbewegungen hervor, die alle eine Wiederherstellung Israels unter der Herrschaft Gottes oder eines einheimischen Herrschers ( Messias, Eschatologie) erhofften, unter ihnen die (pazifistisch orientierte) Jesusbewegung. Diese Bewegungen boten für den Einzelnen auch eine Alternative zur patriarchalen Familie als primärer Institution und zu den Rollenangeboten und Statuszuschreibungen der G. Die im paläst. Milieu beheimateten Jesusüberlieferungen haben darum oft einen stark familien- und gesellschaftskritischen Zug. Die sich um den von Römern gekreuzigten Charismatiker Jesus sammelnde jüd. Erneuerungsbewegung entstand im polit. instabilen und wirtschaftlich ausgebeuteten ländlichen Palästina; die daraus hervorgehende (für Nichtjuden offene) hell. Kultbewegung breitete sich dann aber in den prosperierenden, polit. stabileren Städten der Mittelmeerwelt aus und profitierte dabei von der Stabilität und reichsumspannenden Administration und Infrastruktur des röm. Imperiums (Straßen etc.). II. 2. Außerhalb von Palästina war es den Römern meist besser gelungen, die lokalen Eliten in ihre Machtausübung einzubinden und die als Klientel von ihnen abhängige Bevölkerung durch sie zu kontrollieren. Das als Regulativ sozialer Beziehungen eingespielte Patronatssystem basierte auf dem Prinzip der Reziprozität (des Austauschs) verschiedenartiger Güter zwischen rang- bzw. statusungleichen Personen. Patrone gewährten ihren Klienten (meist Einzelnen, aber auch Gruppen wie Vereinen, selbst Städten oder Provinzen) so genannte Wohltaten (beneficia) wie finanzielle Zuwendungen, Sachleistungen (Land, Bauwerke), Vertretung vor Gericht, Unterstützung bei beruflichen Belangen etc. und verpflichteten diese im Rahmen eines fest etablierten Verhaltenskonnexes zu Dank- und Loyalitätsbezeugungen (morgendliche salutatio, Begleitung in der Öffentlichkeit, bei Freigelassenen auch vertraglich festgelegte Dienstleistungen aller Art), die das Sozialprestige und die Macht des Patrons erhöhten. Zu den Oberschichten (honestiores, d. h. Ehrenwerteren im Vergleich zu den humiliores, den Niedrigeren) im röm. Reich (unter 5 % der Bevölkerung) zählten neben der röm. Reichsaristokratie (Kaiserhaus und Senatoren, Ritter = ordo senatorius/equester) und den Angehörigen der Herrscherhäuser in Vasallenstaaten und Provinzen auch die nicht dem Ritterstand angehörende lokale Elite, bestehend aus den Inhabern polit. Ämter (nach den Dekurionen = Stadträten ordo decurionum genannt) und Menschen, die aufgrund großen Reichtums oder familiärer Verbindungen die Privilegien der Oberschicht genossen, polit. Einfluss ausüben konnten und Ansehen besaßen. Schließlich sind als Anhang der Oberschicht deren Gefolgsleute ( retainers ) zu nennen, d. h. Freie, Freigelassene und Sklaven in herausgehobenen polit., administrativen, militärischen oder kultischen Funktionen, bes. Angehörige der familia Caesaris (Phil 4,22). Während die Oberschichten in den Städten lebten, ihren Reichtum aber meist durch Großgrundbesitz auf dem Land erwirtschaften ließen, sind ländliche und städtische Unterschichtgruppen zu unterscheiden (plebs rustica/urbana). Auf dem Land hatten die Landessprache, regionale Kulte, alte Rechtsbräuche etc. einen größeren Stellenwert als in der Stadt, wo Griech. die Verkehrssprache war. Dort partizipierten die (wegen der Bevölkerungsmobilität) ethnisch oft inhomogenen Unterschichten an der durch die Eliten vermittelten, internationalen hell. Kultur. Dies ermöglichte z. B. die Verbreitung neuer, überregional organisierter
71 Sozialstatus / Gesellschaft und Institution 59 Kultbewegungen (wie der Dionysos- oder Isismysterien, des Christuskultes). Innerhalb der Unterschichten sind nach rechtlichem Status Sklaven, Freigelassene und Freigeborene (servi, liberti, ingenui) zu unterscheiden, wobei die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen keinerlei Aussage über die ökonomische Situation zulässt. Angehörige aller drei Gruppen fanden sich unter den Bettelarmen, die unterhalb des Existenzminimums lebten; sie konnten es jedoch im Einzelfall zu Wohlstand und Ansehen bringen, in die Retainer- oder selbst die Oberschicht aufsteigen. Keine antike G. ließ so viel soziale Mobilität nach oben zu wie die röm. der Prinzipatszeit, keine produzierte so häufig das Phänomen der Statusinkonsistenz, das eine Inkongruenz von verschiedenen statusbestimmenden Elementen beschreibt. Dies trat bes. häufig bei Freigelassenen und reichen Frauen auf. So führte der kaiserliche Freigelassene (Antonius oder Claudius) Felix n. Chr. als Prokurator das Imperium über Judäa (als solcher behandelte er die Anklage gegen Paulus: Apg 24). Er heiratete nach Suet. Claud. 28 drei Königinnen (u. a. die Herodäerin Drusilla, Schwester Agrippas II., vgl. Ios. ant.iud. 20,143), doch der Geschichtsschreiber Tacitus spielt auf den bleibenden Makel seiner unfreien Geburt an, wenn er ihm die Ausübung von Königsrecht in Sklavengesinnung vorwirft (hist. 5,9). Reiche Frauen konnten als Wohltäterinnen, Inhaberinnen von Ehren- und hohen Priesterämtern oder als Haushaltsvorstand, wenn sie z. B. als Witwe verantwortlich für die angestammte Klientel einer Familie wurden, gesellschaftlichen und selbst polit. Einfluss gewinnen, der ihnen durch die Beschränkungen, die ihnen die Geschlechterrolle auferlegte, eigentlich vorenthalten war. II. 3. Zwischen der Hausgemeinschaft ( Familie, Ehe, Kind) als primärer sozialer Institution und den übergeordneten polit. Organen, gewann die freiwillige, oft vertraglich geregelte Mitgliedschaft in Vereinigungen aller Art eine zunehmende Bedeutung für die Gestaltung des sozialen Lebens (z. T. als Ersatz für polit. Mitwirkungsrechte), für Identitätsfindung und Statuserhöhung (durch Mitgliedschaft, Übernahme von Ämtern und Patronatsfunktionen). Hier sind im 1. Jh. n. Chr. u. a. zu nennen: Vereinigungen von Handwerkern und Händlern (collegia opificium/ mercatorum), landsmannschaftlich getragene Vereine, Begräbnisvereine (collegia funeraticia), Kultgenossenschaften (cultores) bestimmter Gottheiten, im weiteren Sinne auch Philosophenschulen (Epikureer, Neopythagoreer) und jüd. Religionsparteien (Pharisäer, Sadduzäer, Essener usw.; Weltbild). II. 4. Ein wichtiges statusverleihendes Element war nicht zuletzt in den Provinzen das röm. Bürgerrecht, das in vielen administrativen und zivilrechtlichen Angelegenheiten (z. B. Eheschließung, Grunderwerb, Testamente, Steuerrecht) Vorteile verschaffte, in Strafrechtsverfahren vor entehrender Behandlung und Strafe schützte (Fesselung, Geißelung, Kreuzigung, damnatio ad bestias waren ausgeschlossen) und die Appellation an den Kaiser ermöglichte (Apg 25,10f). Es wurde vererbt und konnte in der frühen Kaiserzeit auf verschiedenen Wegen erlangt werden: nach Ableistung des 25-jährigen Dienstes im röm. Heer, von Sklaven röm. Bürger durch Freilassung, vom Kaiser durch Verleihung an Kolonien oder an einzelne für Dienste am röm. Staat vergeben, gelegentlich wohl auch durch Kauf (Apg 22,28) erworben. Doppelbürgerschaft für Provinzialen war seit dem 1. Jh. n. Chr. möglich, Inschriften lassen einen beständigen Anstieg der Zahl führender Familien mit röm. Bürgerrecht in den lokalen Eliten der Provinzstädte erkennen. Ob Paulus tatsächlich, wie die Apg behauptet, röm. und tarsisches Bürgerrecht besaß (Apg 16,37f; 22,25 59; 23,27), wird angesichts der Häufigkeit, mit der röm. und jüd. Instanzen Prügelstrafen gegen ihn verhängten (2 Kor 11,24 25; Apg 16,22f), von vielen bezweifelt. Andere halten es für möglich, dass die Behörden den Bürgerstatus mangels Unterstützung durch andere Statusindikatoren (wie Reichtum, ein mächtiger Patron) ignorierten oder dass Paulus ihn aus missionsstrategischen und theol. Erwägungen heraus nicht ins Spiel brachte. Zweifelsohne ist es ein hervorstechendes Merkmal der christl. Gemeinden ( Kirche), die innerhalb eines agonistischen, rang- und statusbewussten Gemeinwesens existierten, dass in ihnen alle gesellschaftlich relevanten Statusmerkmale, seien es Reichtum, Macht, Bildung, aristokratische und ethnische Abkunft ( Volk), freie Geburt, Geschlecht, Bürgerrecht, relativiert wurden
72 Weisheit / Gesetz 60 zugunsten der neuen Einheit in Christus und des durch Gott zugewiesenen, allen gemeinsamen Status als Kinder Gottes (1 Kor 1,18 31; Gal 3,28; Phil 3,20; Kol 3,11; Jak 2,1 9). I. P. L. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1998; M. Häusl, Geschlechterordnung, symbolische Ordnung, Götterordnung, in: B. Heininger (Hg.), Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen, Münster 2003, 15 25; R. Kessler, Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda, Leiden u. a. 1992; E. A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart 1994; D. E. Oakman, Das Verhältnis von Kultur, Gesellschaft und eingebetteter Religion in der Antike, in: G. Gelardini/P. Schmid (Hg.), Theoriebildung im christlich-jüdischen Dialog, Stuttgart 2004, 13 33; J. Oesch, Sozialgeschichtliche Auslegung des Alten Testaments: Protokolle zur Bibel 1 (1992) 3 22; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994; ders., Kontinuum und Proprium, Wiesbaden 1996; D. Schloen, The House of the Father as Fact and Symbol, Winona Lake 2001; W. Schottroff, Arbeit und sozialer Konflikt im nachexilischen Juda, in: F. Crüsemann/ R. Kessler u. a. (Hg.), Gerechtigkeit lernen, Gütersloh 1999, 52 93; R. de Vaux, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen 1 2, Freiburg u. a / II. K. Erlemann/J. Zangenberg u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 1 4, Neukirchen-Vluyn 2004ff; H.-J. Klauck, Religion und Gesellschaft im Frühen Christentum, Tübingen 2003; B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart u. a. 1993; W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993; T. Schmeller, Hierarchie und Egalität, Stuttgart 1995; J. E. Stambaugh/D. L. Balch, The New Testament in Its Social Environment, Philadelphia 1986; E. W. und W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart u. a. 1995; G. Theißen, Die Jesusbewegung, Gütersloh Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Weisheit / Gesetz (W./G.) Zugeordnete Begriffsartikel: Dekalog, Einsicht, Erkennen, Klugheit, Ohr/Hören, Rat, Recht, Schönheit, Torheit/Irrtum, Weg, Weisung, Zweifel. Vorbemerkung: Unter W. versteht man die Fähigkeit zu einer erfolgreichen Lebensführung auf der Grundlage handlungsleitenden Orientierungswissens über Tatsachen, Werte und Regeln des menschlichen Handelns wie der Abläufe in der sozialen und der natürlichen Welt; auch dieses Orientierungswissen selbst kann als W. bezeichnet werden. G. sind rechtliche Regeln für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, insbes. für die Bereinigung von Konfliktfällen, die für alle Weisheit / Gesetz Angehörigen der Gemeinschaft gelten und deren Nicht-Einhaltung durch Sanktionen geahndet wird. (Daneben spricht man auch von moralischen oder von Natur-G., was hier außer Betracht bleiben soll.) W. und G. vermitteln also auf je verschiedene Weise Regeln und Orientierung für die Lebensführung des Menschen und zielen beide auf gelingendes Leben. Das G. hat v. a. das Zusammenleben in der Gemeinschaft und sein Konfliktpotential im Blick; es stellt dafür Regeln auf, die für alle Angehörigen der Gemeinschaft verbindlich sind, und versucht deren Einhaltung durch Strafandrohung durchzusetzen. Demgegenüber zielt die W. in erster Linie auf die Lebensführung des einzelnen Menschen in der Gemeinschaft; sie vermittelt ihm dafür hilfreiche Einsichten auf der Grundlage von Traditionen und Erfahrungen und versucht, ihn von diesen Einsichten zu überzeugen, was ihr aber nicht bei allen Menschen gelingt, sondern nur bei den Weisen oder den für W. empfänglichen Einfältigen (im Gegensatz zu den Toren oder den Spöttern ). Im AT entwickeln sich W. und G. zunächst als eigene theol. Traditionen nebeneinander in der Weisheitslit. der Hebr. Bibel und im Pentateuch (das schließt aber keineswegs aus, dass hinter beiden Traditionen dieselben Tradenten und Rezipienten stehen). Im Zuge der Entwicklung der beiden Traditionen werden zunehmend auch Verbindungen zwischen ihnen hergestellt; in den jüngeren Schriften des griech. AT werden W. und G. in Sir 24 und Bar 3f ausdrücklich miteinander identifiziert. I. AT: 1. Der gewöhnlich mit W. übersetzte hebr. Ausdruck gokma (vgl. gkm weise sein, gakam geschickt, kunstfertig, erfahren, weise ) bezeichnet nicht nur W., sondern auch das Geschick, die technische Fertigkeit und das Berufswissen von Handwerkern, Klagefrauen, Kriegern, Magiern oder Mantikern sowie die Klugheit von Herrschern und ihren Ratgebern, die es ihnen erlaubt, ihre Ziele zu erreichen, selbst wenn diese moralisch verwerflich erscheinen (vgl. Ex 1,10; 2 Sam 13,3). Als Lebenshaltung, die nicht nur die Wahl der Mittel sondern auch die der angestrebten Ziele bestimmt, begegnet gokma v. a. in der sog. Weisheitslit. des AT, den Büchern Sprüche Salomos (dessen Einleitung in Spr 1 9 wohl erst aus dem 3. Jh. v. Chr. stammt, während die Spruch-
73 Weisheit / Gesetz 61 sammlungen in Spr 10ff älteres Material enthalten), Ijob (das wahrscheinlich auf die pers. Zeit zurückgeht, aber jüngere Nachträge wie die Elihu-Reden Ijob enthält), Koh (Ende 3. Jh. v. Chr.), Jesus Sirach (Anfang 2. Jh. v. Chr.) und Weisheit Salomos (vielleicht um die Zeitenwende, jedenfalls aber nach Sir entstanden), aber auch in anderen Textbereichen des AT aus der pers. und hell. Zeit wie der Josefsgeschichte, den Danielerzählungen, den Büchern Tob und Bar oder in den Pss. (z. B. Ps 37; 49; 73). Formal zeigt die Weisheitslit. eine große Variationsbreite von kurzen Weisheitssprüchen über längere Lehrgedichte, Dialoge und Reflexionen bis hin zu ausführlichen Abhandlungen. Darin eingebettet finden sich autobiographische Abschnitte, Beispielerzählungen und Allegorien, Gebete und Hymnen oder Midrasch -ähnliche Kommentare zu bibl. Texten. Als soziale Institutionen im Hintergrund der Weisheitsschriften sind die familiäre Erziehung, die Ausbildung von Beamten und Priestern, aber auch die Diskussionen bei Gastmählern wohlhabender Bürger zu vermuten. Für regelrechte W.- Schulen finden sich in Israel erst relativ spät eindeutige Hinweise (vgl. Sir 51,23). Thema der Weisheitslit. ist zunächst die alltägliche Lebensführung im Umgang mit anderen Menschen, vom König (Spr 16,12ff) über den Nachbarn (Spr 25,17f), die Ehefrau (Spr 31,10ff) und die Kinder (Spr 13,24) bis zu den Armen und Hilfsbedürftigen (Spr 17,5). Dabei werden die Menschen typisiert als Weise und Toren (Spr 10,1), Gerechte und Frevler (Spr 10,3), Reiche und Arme (Spr 10,15), Faule und Fleißige (Spr 10,4) u. a. Die empfohlene Lebenshaltung der W. schließt Gerechtigkeit (Spr 15,21) und Frömmigkeit ( Jhwh-Furcht : Spr 10,27) ein, aber auch Tugenden wie Fleiß (Spr 12,24), Zurückhaltung (Spr 12,16), Bescheidenheit (Spr 11,2), Verlässlichkeit (Spr 20,6) und die Bereitschaft, Belehrung und Kritik anzunehmen (Spr 10,17). In diesem Sinne empfehlen die Spr eine Lebensführung mit Respekt vor Gott und vor den Mitmenschen (aber auch den Tieren: Spr 12,10), in Orientierung am traditionellen Ethos (Spr 15,5), aber auch im Bewusstsein der Grenzen menschlicher Lebensgestaltung (Spr 21,30f). Dabei sind sie getragen von dem Vertrauen, dass in der Regel gutes Handeln ( Ethik) dem Menschen auf lange Sicht Wohlergehen (langes Leben, Gesundheit, Reichtum, Ansehen, zahlreiche Nachkommen) verschafft, während schlechtes Handeln ihm Unglück bringt (Spr 10,24ff). Bei der Sicherung dieses Tun-Ergehen-Zusammenhangs wirken Jhwh und die Sozialgemeinschaft zusammen (vgl. z. B. Spr 11,25 27: gutes Handeln wird einem Menschen durch seine Mitmenschen mit einem entsprechenden Handeln bzw. mit Segenswünschen vergolten und sichert ihm zugleich das Wohlgefallen Gottes). Gegebenenfalls sind aber W., Gerechtigkeit und Frömmigkeit wertvoller als äußerer Wohlstand (Spr 28,6). Während Spr 1 9 das Vertrauen auf den Tun- Ergehen-Zusammenhang bekräftigt und entsprechende Erwartungen der Weisen gegenüber Spr 10ff noch steigert (vgl. Spr 3), konfrontiert das Ijobbuch seine Leser mit der Erfahrung des unverschuldeten Leidens ( Leid) eines exemplarischen Gerechten. Damit stellt sich die sog. Theodizeefrage: Wie ist die erfahrbare Ungerechtigkeit der Welt mit der Annahme der Gerechtigkeit Gottes vereinbar? Das Buch Ijob diskutiert verschiedene Erklärungsansätze: Gott lässt Menschen leiden, um ihre Frömmigkeit unter Beweis zu stellen (Ijob 1f); vor Gott ist kein Mensch völlig gerecht (sodass es letztlich gar kein ungerechtes Leiden geben kann: Ijob 4,17ff); Gott ist ein grausamer Sadist (Ijob 9,22f); Gott erzieht den Menschen durch Leiden (Ijob 33,14ff); Leiden ist ein Bestandteil der Welt als Schöpfung Gottes (Ijob 38ff) u. a. Letztlich wird aber keine dieser Erklärungen als Lösung des Ijobproblems präsentiert. Vielmehr bewegt am Ende Ijob durch seine Klagen und Anklagen Gottes oder durch seine Kapitulation vor dessen Übermacht? Gott dazu, sein Leiden zu beenden. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Welt und Gottes wird dann bei Koh im Rückgriff auf die Urgeschichte (Gen 1 11) in dem Sinne beantwortet, dass kein Mensch wirklich gerecht ist (Koh 7,20) und deshalb alle Menschen dem Zufall und der Vergänglichkeit als dem Gericht Gottes ausgesetzt sind (Koh 3,16ff). Statt sich darüber zu beklagen oder vergeblich dagegen anzukämpfen, sollte der Mensch die Möglichkeiten zur Freude und zum Genuss, die Gott ihm gleichwohl gewährt, ergreifen (Koh 5,17f) und auch andere Menschen an diesem höchsten und einzigen
74 62 Gut teilhaben lassen (Koh 11,1f). Demgegenüber hält Sir an der Gerechtigkeit Gottes und der Welt im Sinne einer unterschiedlichen Behandlung von Gerechten und Frevlern fest, die im Laufe der Zeit (Sir 39,12ff), spätestens aber beim Tod eines Menschen zu Tage tritt, der das gesamte Leben noch einmal umwerten kann (Sir 11,25ff). Während Ijob (14,7ff; anders 19,25ff?), Koh (3,19ff) und Sir (41,3f) die Möglichkeit einer Vergeltung nach dem Tode ausdrücklich ausschließen, wird eine solche in Ps 49 und 73 und dann im Buch der Weisheit (3,1ff) zur Lösung des Theodizeeproblems. Damit muss dann allerdings die von Koh und Sir verteidigte Güte und Schönheit der irdischen Schöpfung Gottes (Koh 3,11; Sir 39,16) problematisch werden. Die kritische Reflexion weisheitlicher Traditionen führt bei Ijob und Koh auch zur Einsicht in die Grenzen der Erreichbarkeit von W. für den Menschen (Ijob 28; Koh 3,11; 7,23f; 8,16f). Aufgrund dieser Einsicht wird die dem Menschen zugängliche W. hier von der W. Gottes unterschieden. Demgegenüber rechnen Sir und Weish damit, dass Gott den Frommen Anteil an seiner W. gibt (Sir 1,1 10; Weish 7 9). Spr 1 9 stellt die W. (nach dem Vorbild der äg. Göttin Isis?) als Person in der göttlichen Sphäre dar, die den Menschen direkt selbst anspricht und belehrt. Weil sie schon bei der Schöpfung anwesend war (Spr 8), ist ihr nichts in der Welt unbekannt oder unzugänglich. Als Gegenbild zur W. kann dann auch die Torheit als Frau personifiziert werden (Spr 9,13ff). Unter den theol. Traditionen des AT zeichnet sich die Weisheitstradition aus durch ihren Bezug auf das alltägliche Leben des einzelnen Menschen, ihren internationalen, nur wenig durch spezifisch israelit. kulturelle Traditionen geprägten Charakter (vgl. Spr 30f; Ijob und die Parallelen zu Spr 22,17 24,22 in der äg. Weisheitslehre des Amenemope) und durch ihre Bereitschaft, das traditionelle Ethos im Lichte neuer Erfahrungen und vernünftiger Überlegungen kritisch zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Im Zuge dieser Entwicklung nehmen die späteren Weisheitsschriften (Sir und Weish) dann allerdings zunehmend Elemente aus anderen theol. Traditionen (G., Geschichte, Prophetie, Kult) auf und entwickeln (verschiedene!) Entwürfe einer spezifisch Weisheit / Gesetz israelit. W., die das gesamte kulturelle Erbe des Alten Israel zu integrieren versuchen. I. 2. Das AT kennt eine Reihe von Termini zur Bezeichnung von G., die bereits einen Eindruck von der Vielfalt ihrer Funktionen geben (tora Weisung, Lehre, G., goq Maß, Verpflichtung, Anspruch, Schranke, G., Ordnung, Bestimmung, Regel, Vorschrift, mišpat Schiedsspruch, Rechtsentscheid, Rechtsbestimmung, Rechtsanspruch, Recht, mirwa Auftrag, Gebot, Anrecht ). Kasuistische G. nennen für verschiedene Fälle und Unterfälle die entsprechenden Rechtsfolgen ( wenn, dann, z. B. Ex 21,18ff). Davon unterschieden werden die sog. apodiktischen G. wie z. B. Todesrechtssätze (z. B. Ex 21, ) oder Ge- und Verbote ohne Strafbestimmungen ( du sollst [nicht] ). Der Pentateuch enthält eine Reihe von Gesetzessammlungen wie etwa das Bundesbuch (Ex 20,22 23,33), das Privilegrecht (Ex 34,17 24); das dtn. G. (Dtn 12 26) oder das Heiligkeitsgesetz (Lev 17 26), die z. T. ihrerseits ältere Teilsammlungen enthalten. In ihnen sind Recht und Ethos eng miteinander verbunden. Sie fungierten wahrscheinlich nicht als kodifiziertes, direkt anzuwendendes Recht, sondern als Rechtsbücher, die anhand exemplarischer Urteile, Regeln und Grundsätze die Kompetenz zu eigenständiger Rechtsprechung vermitteln sollten (vgl. Ex 18,13ff; Dtn 1,9ff). Dies gilt jedenfalls für den Pentateuch als Ganzes, der z. T. unübersehbar widersprüchliche Bestimmungen enthält (z. B. über das Pascha in Ex 12 und Dtn 16 oder über Schuldenerlass und Sklavenfreilassung in Ex 21; Lev 25 und Dtn 15). Im vorliegenden Textzusammenhang sind nahezu sämtliche G. des Pentateuch (sekundär) als Offenbarung Jhwhs am Sinai/Horeb verstanden. Anders als die ethischen Grundbestimmungen des Dekalogs, die Gott dem gesamten Volk verkündet hat, sind die G. dem Volk aber durch Mose übermittelt worden. Zumindest das Bundesbuch und das dtn. G. wurden nach Ex 24,3ff; Dtn 26,16ff; 28,69 dem Volk zur Annahme vorgelegt und durch einen Bundesschluss in Kraft gesetzt. Damit wird unterstrichen, dass Israel das G. nicht aus Zwang befolgen soll, sondern aus Einsicht (vgl. Dtn 30,11ff). Dass Israel dies nicht getan hat, wird in Dtn 29,3 (vgl. 31,21.29; 32,6) rückblickend auf die staatliche Zeit damit erklärt,
75 Weisheit / Gesetz 63 dass es zu dieser Einsicht erst von Jhwh befähigt werden muss, was Dtn 30,6 für die Zeit nach der Katastrophe von 587 v. Chr. ankündigt. Das entspricht prophetischen Erwartungen wie der von Jer 31,31ff, nach der Jhwh den Israeliten das G. auf ihr Herz schreiben wird, oder Ez 36,26f, wonach Jhwh ihnen ein neues Herz und einen neuen Geist geben wird, sodass sie seine G. befolgen können und werden. Wenn die Sprecher von Ps 37,31; 40,9 das G. in ihrem Herzen bzw. in ihrem Inneren zu haben behaupten, nehmen sie für sich damit vielleicht nicht nur in Anspruch, das G. den Anweisungen von Dtn 6,6 entsprechend verinnerlicht zu haben, sondern auch, dass sich die Verheißung von Jer 31 an ihnen erfüllt hat. Die sog. G.-Psalmen Ps 1; 19; 119 dokumentieren eine G.-Frömmigkeit, die das G. nicht nur als Rechtsordnung für Israel, sondern als umfassende Lebensorientierung ( Weisheit ) für den Einzelnen versteht und die mit dem G. verbundenen Erwartungen von Segen und Fluch (Lev 26; Dtn 28) auf den einzelnen Menschen bezieht. Die Entstehung der mosaischen Tora wird im Pentateuch als ein längerer Prozess dargestellt. Jhwh übermittelt Mose das G. auf dem Sinai in mehreren Etappen (vgl. Ex 20,21; 24,12; 34,1ff). Danach empfängt Mose weitere Bestimmungen im Zeltheiligtum (Lev 1,1; Num 1,1), z. T. ad hoc angesichts konkreter Problemfälle (Lev 24,10ff; Num 15,32ff; 36). Im Dtn verkündet Mose nach vierzigjährigem Aufenthalt in der Wüste einer neuen Generation von Israeliten noch einmal die ganze Tora. Dabei wird in Dtn 5 wie in Ex 20 der Dekalog als grundlegende ethische Orientierung den ausführlichen und detaillierten Rechtsbestimmungen vorangestellt. Die sog. Kanonformel (Dtn 4,2; 13,1) schreibt dann zwar das mosaische G. fest; Jos 24,25f scheint demgegenüber aber mit der Möglichkeit einer weiteren Fortschreibung des G. zu rechnen. Im vorliegenden kanonischen Kontext des AT stellen prophetische Aussagen wie Jer 7,22; 8,8; Ez 20,25 aber auch Ez 40ff klar, dass die Tora nicht nur der Auslegung und Fortschreibung, sondern einer kritischen Rezeption bedarf. Sir 24,23 und Bar 4,1 identifizieren W. und G. miteinander. Während Sir 24 das G. als unausschöpfliche Quelle der W. für alle daran Interessierten betrachtet, ist nach Bar 3f W. nur für Israel und für Israel nur im G. zu finden. Eine Verbindung von W. und G. bahnt sich in der Weisheitslit. schon vorher an (vgl. Spr 3,1; 3,3 mit Dtn 6,8; Spr 30,5f; Koh 12,13). Im Pentateuch ist sie angelegt in Aussagen über die Vernünftigkeit und Einsichtigkeit des G. (Dtn 4,6ff; 30,11ff) und über die für seine Anwendung (Dtn 1,13) und Lehre (Dtn 34,9) erforderliche W. Auch in den sog. G.- Psalmen Ps 19 und 119 werden G. und W. eng miteinander verbunden. II. NT: 1. Im NT ist mehrfach von der W. (sof2a) Gottes (Röm 11,33; 16,27; Offb 7,12) oder Jesu (Lk 2,40.52; Mk 6,2; vgl. Offb 5,12) die Rede. Nach den Evv. wirkte Jesus u. a. als Weisheitslehrer, der seine Hörer mit Weisheitssprüchen, Gleichnissen und Lebensregeln belehrte. Nach Mt 12,42par. übertraf er dabei den exemplarischen Weisen Salomo. Mt 11,19par. betrachtet wahrscheinlich Jesus als die personifizierte W. (vgl. 1 Kor 1,24.30; Kol 2,3 und die Deutung Jesu als inkarnierter göttlicher Logos in Joh 1). Ihr kritisches Potenzial zeigt die von Jesus gelehrte und verkörperte W. darin, dass sie die (vermeintlich) Einfältigen überzeugt, während sie den (vermeintlich) Weisen und Klugen unzugänglich bleibt (Mt 11,25par.). Entsprechendes gilt nach 1 Kor 1 3 für die am Geschick Jesu zu gewinnenden Einsichten, die in der (vermeintlich törichten ) Predigt vom Kreuz vermittelt werden ( Torheit). Jak 3,13ff stellt die von Gott zu erbittende (Jak 1,5) W. von oben, die zu einem guten Lebenswandel führt, der irdischen W. gegenüber, die Neid und Eifersucht verursacht. Hier wird mit je verschiedener Zuspitzung der kritische und selbstkritische Zug der atl. Weisheitstradition (bes. bei Ijob und Koh) im NT aufgenommen und weiter entwickelt. An anderen Stellen des NT ist eher ungebrochen von der W. der Christen die Rede (vgl. Apg 6,3.10; 1 Kor 3,10; 6,5). Lk 21,15 verheißt ihnen für den Fall der Verfolgung W., mit der sie ihre Gegner überzeugen können. 1 Kor 12,8 rechnet die Weisheitsrede zu den Gnadengaben Gottes (vgl. 1 Kor 2,6f). Die von Gott geschenkte W. (Eph 1,8.17; Kol 1,9) vermittelt nicht nur ein Verständnis des Heilshandelns Gottes in Christus, sondern leitet auch an zu einer weisen Lebensführung (Eph 5,15ff). Spezielle W. ist nach Offb 13,18;
76 64 17,9 für das Verständnis der Visionen der Johannesapokalypse erforderlich. 2 Tim 3,15 weist auf die weise machende Kraft der heiligen Schriften hin, 2 Petr 3,15f auf die (offenbar: begrenzte) W. des Paulus, die dazu führt, dass seine Schriften z. T. schwer verständlich sind. II. 2. Jesus hat, soweit dies aus den Evv. noch zu erkennen ist, dem mosaischen G. (n3mow) und seinen Geboten (Entola2) nicht grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden, sie aber im Rahmen der Bandbreite des damaligen Judentums vergleichsweise liberal interpretiert. Die Evv. überliefern verschiedene Versuche einer knappen Zusammenfassung der göttlichen Gesetzesforderungen, die ihre Grundintention herausstellen: das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28ff.par.; vgl. Dtn 6,5; Lev 19,18), die sog. goldene Regel (Mt 7,12), eine Auswahl von Geboten (der sog. zweiten Tafel ) des Dekalogs (Mk 10,17ff.par.) oder Recht, Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23). Die ethische Bedeutung des G. wird gegenüber den Reinheits- und Kultbestimmungen ( Kult) betont (Mk 7,15ff.par.). Auf dieser Linie werden einerseits Ausnahmen von der Sabbatruhe im Interesse des Wohles der Menschen zugestanden (Mk 2,23ff; 3,1ff.par.), andererseits wird im Blick auf die Ehescheidung das G. verschärft (Mk 10,2ff.par.). Mt lässt Jesus in der Bergpredigt dezidiert die Geltung des G. verteidigen (Mt 5,17ff), dieses aber zugleich auch in den sog. Antithesen in eigener Vollmacht neu interpretieren (Mt 5,21ff). Nach Mt 28,20 hat Jesus die Apostel nach seiner Auferstehung beauftragt, alle Völker zu lehren, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Das mosaische G. wird so für Mt in der jesuanischen Lebensweisung im doppelten Sinne aufgehoben (erfüllt und überboten). Lukas sieht die christl. Lebensführung in Kontinuität mit dem mosaischen G.: Das Tun des G. führt zum (ewigen) Leben (Lk 10,28). Paulus wird als gesetzestreuer Jude dargestellt (Apg 16,3; 21,18ff). Hingegen sind die Heidenchristen nicht verpflichtet, die gesamte Tora zu befolgen (Apg 15). Demgegenüber steht Joh dem atl. G. distanziert gegenüber (vgl. Joh 1,17). Jesus setzt sich über das Sabbatgebot hinweg (Joh 5) und spricht den Juden gegenüber von eurem G. (Joh 7,19ff). Das Liebesgebot Jesu wird ohne jede Anknüpfung an Weisheit / Gesetz das AT (vgl. z. B. Lev 19,18) als neues Gebot verstanden (Joh 13,34). Bes. vielseitig, differenziert und auch in sich spannungsvoll sind die Reflexionen über das G. bei Paulus (v. a. in Gal und Röm), von denen hier nur einige Grundlinien skizziert werden können. Im Hintergrund dieser Überlegungen stehen einerseits die persönliche Biographie des Paulus, der durch ein visionäres Erlebnis vom gesetzestreuen Pharisäer und Verfolger der Christen zum christl. Heidenmissionar wurde (Gal 1,11ff; Phil 3,4ff), andererseits Auseinandersetzungen mit Christen in Galatien, die sich durch Beschneidung (Gal 5,2ff; 6,12f) dem mosaischen G. unterstellen und u. a. zur Einhaltung der darin vorgesehenen Feiertage (Gal 4,10) verpflichten wollten. Grundlegend für das pln. Gesetzesverständnis ist der Gegensatz von Gerechtigkeit aus Glauben und Gerechtigkeit aus Werken des G. (Gal 3,1ff; Röm 3,21ff). Der Versuch, durch die Erfüllung des G. Gerechtigkeit zu erlangen ( Rechtfertigung), scheitert nach Paulus nicht nur daran, dass kein Mensch das G. wirklich erfüllt (Röm 1,18 3,20; anders Phil 3,6?). Das G. vermag gar nicht zum Leben zu führen (Gal 3,21), weil es gegen das von der Sünde bestimmte Fleisch nicht ankommt (Röm 8,3). Das G. reizt vielmehr gerade dazu, es zu übertreten (Röm 7,7ff) und vergrößert damit noch die Sünde (Röm 5,20). Es kann dem Menschen zwar die Einsicht in das Gute vermitteln, ihn aber nicht dazu befähigen, diese Einsicht auch in die Tat umzusetzen (Röm 7,13ff). Dies vermag nur eine radikale Neuschöpfung des Menschen in Christus (2 Kor 5,17), durch die er für das G. stirbt (Röm 7,1ff) und nun nicht mehr durch das Fleisch und die Sünde bestimmt wird, sondern vom Geist Gottes (Röm 8,1ff; Anthropologie). Dann steht er aber nicht mehr unter dem G. (Gal 3,15ff). Ob Röm 10,4 auf dieser Linie so zu verstehen ist, dass das G. mit Christus an sein Ende (t0low) gekommen ist, ist in der Forschung umstritten; die Aussage kann auch in dem Sinne interpretiert werden, dass das G. auf Christus (als sein Ziel ) verweist. In der im Glauben gewonnenen Freiheit von der Sünde kann das G., das an sich ja heilig, gerecht und gut ist (Röm 7,12), nach Paulus durchaus als Leitlinie der christl. Lebensführung dienen (Röm 8,4; 13,8ff; Gal 5,14; 6,2).
77 Weltbild / Kosmologie Weltbild / Kosmologie 65 Dabei sieht Paulus den Kern des G. im Gebot der Nächstenliebe ( Nächster) und blendet die Kult- und Reinheitsgebote ( Kult, Reinheit) faktisch als für (Heiden-)Christen irrelevant aus (vgl. Hebr). Wenn der Jak gegen einen Glauben ohne Werke polemisiert und die Bedeutung des G. auch für Christen unterstreicht (Jak 2), kann dies im kanonischen Zusammenhang des NT als Mahnung verstanden werden, die christl. Freiheit vom G. nicht als Deckmantel der Bosheit zu missbrauchen (1 Petr 2,16; vgl. Gal 5,13). I. M. Limbeck, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament, Darmstadt 1997; G. von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen- Vluyn ; H. H. Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit, Berlin II. M. Limbeck, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament, Darmstadt 1997; H. von Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1990; R. Smend/U. Luz, Gesetz, Stuttgart Thomas Krüger Weltbild / Kosmologie (W./K.) Zugeordnete Begriffsartikel: Berg, Dämon, Engel, Erde/Land, Gestirne, Himmel, Licht/Finsternis, Meer/Flut/Urflut, Mischwesen/Kerub, Ordnung/ Chaos, Paradies/Garten/Lebensbaum, Stadt, Unterwelt/Jenseits/Hölle/Scheol, Widersacher/Satan/Teufel, Wüste/Steppe, Zion. I. AT: Für das AT wie für seine Umwelt ist zwischen dem vertikalen und dem horizontalen W. zu unterscheiden. Übergangsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen und Raumachsen sind gegeben. Ganz grundsätzlich gilt, dass die Welt der Menschen auf die Welt der Götter hin transparent war und beide als miteinander vernetzt begriffen wurden. Ebenso ist es durchaus möglich, verschiedene Vorstellungen nebeneinander zu finden, da keine Notwendigkeit der einlinigen Systematisierung gegeben war. I. 1. Das vertikale W. beinhaltet den Himmel, die Erde, die Meere und die Unterwelt (Ps 139,8ff; Am 9,2f), Verkürzungen auf Himmel, Erde und Meer (hebr. meist jam, nicht die Urflut t e hom oder Unterwelt) (Ps 8,8f; 33,6 8; 104,1b 26; 146,6, s. jedoch Ps 115,15 17) oder Himmel und Erde (die Meere und Unterwelt beinhaltet) sind möglich (Gen 1,1; 2,1.4a; Dtn 3,24). In Mesopotamien findet sich häufig die Dreiteilung Himmel, Erde und Süßwasserozean apsû, in Ägypten seit dem Neuen Reich hingegen Himmel, Erde und Unterwelt. Himmel und Erde scheinen seit der Frühzeit im Vorderen Orient und Ägypten das Basispaar (meist Vater Himmel, Mutter Erde; in Ägypten umgekehrt) gewesen zu sein, während die Teile der unterirdischen Erde erst später (in Ägypten seit dem Mittleren Reich) ausdifferenziert wurden. Unter der Erde kann sich atl. auch das untere Urmeer befinden (Gen 7,11; 8,2; 49,25; Dtn 33,13), über dem Jhwh die Erde gegründet hat (Ps 24,2). Säulen (Ps 75,4; 1 Sam 2,8), Gestelle (Ps 104,5) oder Fundamente (Ps 82,5) können die Erdscheibe tragen. Das genaue Verhältnis zwischen unterirdischem Urozean t e hom und Totenreich Scheol ist ebenso wie das Verhältnis von apsû zu arallu in Mesopotamien unklar. Die Unterwelt ist atl. kein Wohnsitz Jhwhs und auch nicht seine explizite Schöpfung. Anders der Himmel: Dieser erscheint als Feste, an dem die Gestirne befestigt sind; er trennt das obere Urmeer von der Erde (Gen 1,6 8; Ps 148,4 6). In späten Texten kann er Wohnsitz Jhwhs sein (Ps 115,3; Koh 5,1). Analog zu Babylonien kann auch im AT von mehreren Himmeln die Rede sein (Ps 148,4; Dtn 10,14). Der Himmel kann als auf den Bergen des äußersten kreisrunden Horizonts ruhend vorgestellt werden (Ijob 26,10f), während die Erde ihrerseits auf den Säulen der Unterwelt steht (Ijob 9,6; Ps 75,4). Die äußersten Horizontberge sind Grenze zwischen Licht und Finsternis, daher sind dort die Tore des Sonnenauf- und -untergangs angesiedelt (Ps 65,9), was sich ikonographisch in Darstellungen des mesopotamischen Sonnengotts (Abb. 5) oder des äg. Sonnentors niederschlägt. Oberes und unteres Wasser sind das vom Schöpfergott gebändigte Chaos, das in verschiedenen Monstern personifiziert werden kann (Jes 27,1; Ijob 40,25ff; Ps 74,13f; 89,10ff), die in der Vorzeit frei waren, jedoch von Gott bei der Schöpfung besiegt wurden (Ps 104,7f). Verschiedene Mythen im AO, so z. B. das bab. Weltschöpfungsepos enuma eliš, nehmen auf diese Vorgänge Bezug. Die Urflut bleibt (bis Offb 21,1) eine beständige Ge-
78 66 Weltbild / Kosmologie Abb. 8: Das altorientalische Weltbild. fahr für die Erde und ihre Bewohner, da sie versucht, ihre Grenzen zu sprengen. Jhwh muss daher seine gute Schöpfung beständig erhalten und gegen akute Bedrohung eingreifen (Ps 104,27 30). Aussagen über die Weltentstehung finden sich im AT häufig, wobei sich folgende Motive systematisieren lassen: Die Weltentstehung wird nicht als Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) geschildert, sondern als Eingriff in eine bereits vorhandene Situation, in der ungeformter Stoff (Weish 11,17) oder tiefe Wassermassen (Gen 1,1) bestanden. Die Schöpfergottheit, im AT ausschließlich Jhwh, kann die bewohnbare Welt durch einen Kampf (Jhwh als Krieger) gegen die Wassermasse (als Wassermonster personifiziert) schaffen (Ijob 7,12; Ps 74,13f). Eine andere Möglichkeit wurde darin gesehen, dass die Schöpfung auf einen gestalterischen Akt zurückginge (Gen 1,6ff; Spr 8,27 29), bei dem Jhwh den Wassermassen Grenzen ziehen oder über ihnen die Erdoberfläche ausspannen würde (Jhwh als Baumeister). Als Herr der Tiere und der Vitalität schließlich ist er es, der seine Schöpfung bewahrt und segnet (Gen 1,22.28ff). Da die Wassermassen in den beschriebenen Entwürfen nicht eliminiert, sondern nur begrenzt und zurückgedrängt wurden, bleibt die Schöpfung dauerhaft bedroht. Atl. gilt die Ordnung der Schöpfung zwar als stabil und für ferne Zeit (Gen 8,22; 9,8 17), jedoch auch als prinzipiell vergänglich (Koh 3,20), woran die verschiedenen Vorstellungen der Eschatologie und Apokalyptik anknüpfen konnten. I. 2. Das horizontale W. des AT beinhaltet die Erde, vorgestellt als kreisrunde Scheibe (Jes 40,22), als Lebenswelt der Menschen und deren äußerste angenommene Grenzen (Inseln [Jes 41,5], Horizontberge [Ijob 26,10], umfließender Ozean [Ps 72,8]). Die vier Säume der Erde (Jes 11,12; Ez 7,2; Offb 7,1) als Ende derselben gehen von den vier Himmelsrichtungen (Ijob 23,8f) aus. Grundrisszeichnungen von Städten, Tempeln etc. zeigen, dass seit dem 3. Jt. v. Chr. in Mesopotamien der Lebensraum quantifiziert, vermessen und berechnet wurde. Dass der Stadtgrundriss Jerusalems den Bewohnern im 6. Jh. v. Chr. ein Begriff war, zeigt Ez 4,1. Städte- und Tempelbau gehörten in Mesopotamien, Ägypten und auch im AT zu den Aufgaben des Königs, der die Wünsche seines Gottes in die Tat umsetzte. So konnten die entsprechenden Gründungen als göttlich angesehen werden (Ps 87,1.5b). Das horizontale W. ist häufig vom Gegensatz Stadt Steppe ( Wüste) bzw. Zentrum Peripherie oder Innen Außen gekennzeichnet. Dies trifft insbes. für Ägypten und Mesopotamien (Abb. 8), jedoch z. T. auch für das AT zu, insofern dort städtische Traditionen zugrunde liegen. Für Israel, Juda, Jerusalem wie für die Umwelt des AT war es selbstverständlich, jeweils selbst im Zentrum der Erde zu wohnen, während die Fremden am Rand und damit im
79 Weltbild / Kosmologie 67 Umfeld von Unordnung, Wüste und dämonisiertem Land zu Hause waren. Die Stadt wird als Lebensraum der Sicherheit und der Bewahrung der Ordnung angesehen. Sie ist als Wohnsitz und Wirkungsbereich der Götter eindeutig positiv qualifiziert. Die Steppe steht dagegen für Gefahr und Gefährdung, da sie durch ihre Verbindung mit der Unterwelt und den unberechenbaren Dämonen selbst von den Göttern gemieden wird. Das festumgrenzte Stadtgebiet wird von den Göttern bewahrt, sodass die allseits präsente Steppe nicht eindringen kann. Erst wenn ihr Zorn dazu führt, dass die Dämonen ihren Wohnort, die Steppe, verlassen, gerät dieses Gleichgewicht außer Kontrolle, sodass eine Stadt der ständigen Bedrohung unterliegt und selbst zur Wüste wird. Die Ordnungen werden dann außer Kraft gesetzt, sodass die Dämonen sich auch hier frei bewegen können. Häufig wird die Stadt als ein Bereich charakterisiert, der rein gehalten werden soll, während alles, was im Verdacht steht, unrein zu sein, der Steppe überantwortet wird. Hinter dieser Vorstellung sind nicht nur hygienische, sondern auch weltanschauliche Gründe zu vermuten. Das Zentrum des inneren Bereiches (= Stadt) liegt im Tempel. Er stellt durch seine Identifikation mit dem Heiligen Hügel in Mesopotamien oder dem kosmischen Berg (als Zentrum der Erde und Gegenpol zu den Horizontbergen), konkret dem Zion in Jerusalem, die Verbindung zwischen der horizontalen und der vertikalen Raumachse her, da er sowohl Teil der kosmischen Bereiche des Süßwasserozeans, der Erde und des Himmels als auch der irdische Wohnort der Gottheit ist. Über den irdischen Wohnsitz Jhwhs kennt das AT verschiedene Traditionen. Bezeugt sind recht konkrete geographische Angaben, wie in Seïr (Ri 5,4; Dtn 33,2) oder auf dem Berg Zafon, Sinai/Horeb oder Zion, der durch den Jerusalemer Tempel eine Sonderstellung innehatte. Dessen ikonographisches Programm, das allerdings nur atl. bezeugt ist, umfasste Lebens-, Himmels- und kosmische Symbolik (1 Kön 6f). Tempel sind vorderorientalisch auch Nukleus aller Reinheit, Ordnung und Beständigkeit. Diese Ordnung strahlt mit abnehmender Intensität in die Stadt und die Umgebung aus. Doch ist jede Schwelle und jedes Tempeltor eine Grenze, die die Konzentration an Ordnung nach außen hin schwächt. Als weitere Grenze ist die Stadtmauer mit den Stadttoren zu nennen, die Innen und Außen, Stadt und Hinterland trennt. Entsprechend der Rolle der Stadttore als Schwellen- und Übergangsbereiche werden dort bei Prozessionen Opfer, Rituale ( Ritus) und Beschwörungen vollzogen, die den Übertritt in die nächste Zone sichern sollen. Torheiligtümer, die in diesen Kontext gehören, sind in Palästina archäologisch (z. B. Betsaida, Dan) gut belegt. Der unmittelbare Bereich hinter den Stadttoren ist ein Gebiet mit stark herabgesetzter Ordnung, das als Wohnsitz für Menschen und Götter gleichermaßen ungeeignet ist und daher nur als unkultiviertes, ungeordnetes und dämonisiertes Land in den Blick kommt. Die bewahrende und sichernde Wirkung des Tempels und seines göttlichen Bewohners erreicht die Steppe oder Wüste nur noch in äußerst abgeschwächter Form. Zudem ist sie ein Gelände, das gegenüber der Unterwelt durchlässig ist. Daher halten sich hier zahlreiche Dämonen auf, die jedem Menschen schaden, der sich nähert. Diese negative Sicht der Wüste teilt das AT mit seiner Umwelt. Die äußerste Grenze des horizontalen W. des vorderorientalischen Städters, der Umland und Steppe schon als fremd empfand, sind die Gebirgszüge, die den jeweiligen Kulturraum abschließen. Die Berge sind daher das Ende der Welt. In diesem geheimnisvollen Lebensraum existieren die aggressiven Gegner der bewahrenden Ordnung, die z. T. in polit. Feinden konkretisiert werden konnten. Da außenpolit. Feinde die Stadt jeweils vom Gebirge und von der Steppe aus angriffen, wurde dieses Gelände als der Ausgangspunkt und geradezu als Nest ständiger Gefährdung und Feindschaft erlebt, das den Frieden der Stadt bedrohte (Jes 13,4; Joël 2,2 u. a.). Neben den städtischen (= vor allem Jerusalemer) Traditionen des AT finden sich auch Vorstellungen, die die Stadt von außen sehen, und für die das Land den heimatlichen Bereich darstellt. Hier wird die ummauerte Stadt zum Feind und Fremden, was in Bezug auf die soziale Verortung dieser Texte auf einen ländlichen Trägerkreis schließen lässt. Hintergrund der atl. Ambivalenz zur Stadt mag sein, dass das Bergland Palästinas für die Bildung städtischer Siedlungen eher ungeeignet war. Die kleinkammerige Landschaft war von sippenbäuerlichen Dörfern und Strukturen
80 68 Weltbild / Kosmologie Abb. 9: Palästina und seine Regionen. Quelle: W. Zwickel, Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002, Abb. 8. geprägt, sodass die Errungenschaften des urbanen Lebens (Schrift, Kapital) auf nur wenige städtische Zentren beschränkt blieben, bevor sie sich von dort aus im traditionell-konservativ geprägten Hinterland ausbreiteten. Rivalisierende Interessen zwischen Staats- bzw. Stadtverwaltung und nicht-urbaner bäuerlicher Oberschicht bzw. Landelite ( Sozialstatus) verschärften seit der Königszeit den sozialen Konflikt zwischen denen, die das Land von der Stadt aus nur als Kapital mit Rendite betrachteten und denen, die mit und in dem Land lebten, es eigenhändig bebauten, den Ertrag selbst genossen und nur evtl. vorhandene Überschüsse verkauften. Zum horizontalen W. gehört auch die Vorstellung von Raum und Zeit. Ganz konkret gilt: Der geographische Raum, den das AT kennt, ist mit Tarschisch im fernen Westen, Elam und Medien im Osten, Saba und Hadramaut im Südosten und den Grenzgebirgen des syr.-mesopotamischen Tieflands im Norden beschrieben. Er umfasst das Mittelmeer mit der Levante als Zentrum. Die großen Nachbarreiche Ägypten, Assyrien, Babylonien etc. werden als Randgebiete begriffen (Abb. 9). Der zeitliche Rahmen, den das AT darstellt (ohne dass die dargestellte Zeit mit der Entstehungszeit der lit. Darstellung identisch sein muss), deckt sich bis auf wenige Ausflüge in die Vorzeit mit dem Anfang durch die Schöpfung von Himmel und Erde (Gen 1,1) und der Endzeit (Jes 60,19), die als Neuanfang mit einigen charakteristischen Änderungen begriffen wird, weitgehend mit dem, was die Archäologie Palästinas als E-Zeit sowie bab.-pers. Zeit beschreibt (ca. 1200/ v. Chr., Abb. 10). I. 3. Nur wenige Bücher sind erst im hell. Zeitalter verfasst worden und reflektieren Ereignisse dieser Epoche (Dan; 1/2 Makk), in der das W. wichtige Veränderungen erfuhr. Seit dem Alexanderzug ( /323 v. Chr.), in dem die Griechen das Perserreich erobert hatten, hatte sich die griech. Kultur über den gesamten Mittelmeerraum bis nach Indien und Afghanistan verbreitet. Dabei hatte sie sich seit den Diadochen (= Nachfolgestaaten Alexanders des Großen) von einer Kultur
81 Weltbild / Kosmologie 69 1 Mio Jahre Paläolithikum Epipaläolithikum Natufium Akeramisches Neolithikum A-C Keramisches Neolithikum Chalkolithikum Frühbronzezeit I (FB-Zeit) Frühbronzezeit II Frühbronzezeit III Frühbronzzeit IV = Mittelbronzezeit I (MB-Zeit) Mittelbronzezeit IIA Mittelbronzezeit IIB Spätbronzezeit I (SB-Zeit) Spätbronzezeit IIA /1150 Spätbronzezeit IIB 1200/ Eisenzeit I (E-Zeit) /900 Eisenzeit IIA 926/ /700 Eisenzeit IIB 722/ Eisenzeit IIC /8 Babylonische Zeit 539/8 450 Perserzeit I /2 Perserzeit II 333/2 63 Hellenistische Zeit n. Chr. Römische Zeit Abb. 10: Chronologische Tabelle (alle Angaben verstehen sich v. Chr., sofern nicht anders angegeben). der Stadt/Polis zur Kultur einer Reichselite transformiert, die auf die eroberten Kulturen Einfluss nahm ( Hellenisierung ) bzw. weltweite Akkulturationsprozesse auslöste. Griech. Sprache, Bildung, Lebensart, Technik, Weltsicht, Philos. und Kultur wurden maßgeblich und durch das gymnasiale Ausbildungssystem ( Erziehung) auch verbreitet. In Judäa brach unter der Herrschaft der Seleukiden im 2. Jh. v. Chr. offener Widerstand gegen die Hellenisierung Jerusalems und Judäas aus. Der Aufstand der Makkabäer ( v. Chr.) richtete sich erfolgreich gegen die gewaltsame Hellenisierung Jerusalems durch Antiochus IV. Epiphanes. Das röm. Reich führte den Hellenismus (griech. Sprache, Dichtung, Philos. und W., Herrscherkult) fort und sah sich in Palästina diversen Religionsparteien gegenüber (Sadduzäer, Qumran-Essener, Pharisäer, Zeloten), die sich unterschiedlich stark von der hell. bzw. röm. Welt abgrenzten. Waren sich die verschiedenen Gruppen in Sachen Weltentstehung noch weitgehend einig, so vertraten sie in Bezug auf das Weltende oder die Bedeutung des Jerusalemer Tempels unterschiedliche Positionen. Die Sadduzäer waren eine theol. konservative, am Tempelkult und der schriftlichen Tora orientierte, polit. nationale und im Lebensstil liberale Oberschicht, die die Vorstellungen von Engeln und Dämonen, End-Gericht und Auferstehung ablehnte (Mk 12,18par.). Ihr Einfluss ging 63 v. Chr. mit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius zurück, erst 6. n. Chr. gelangten sie als lokale Verbündete der Römer wieder zu Macht und dominierten mit den reichen Laien ( Ältesten ) das Synedrium ( Gericht). Die Essener kommen zwar im AT/NT nicht vor, sind jedoch durch Josephus und die Funde aus Qumran gut belegt. Sie bildeten als das wahre Israel eine geschlossene Gemeinschaft mit festen Regeln, in der rituelle Normen (bes. Reinheit) und Kalenderfragen (Sonnenkalender) in Abgrenzung zum kritisierten Jerusalemer Tempel (Mondkalender) eine herausragende Rolle spielten. Ziel war es, bereits im unreinen Diesseits mit der reinen himmlischen Welt in Gemeinschaft zu leben. Ihr W. war dualistisch (irdische Welt versus himmlische Welt), und ihre Theol. war eschatologisch ausgerichtet, geprägt von einem starken Determinismus und der Lehre von den zwei gegensätzlichen und aufeinander folgenden Weltzeitaltern (= Äonen). Am Übergang zwischen dem aktuellen und dem künftigen Äon wurde ein endzeitlicher Kampf zwischen den Söhnen des Lichts (= Qumrangruppe) und den Söhnen der Finsternis erwartet (1QM). Die Pharisäer kamen evtl. aus dem Kreis der Frommen (1 Makk 2,42; 7,13), die die Makkabäer unterstützt hatten. Sie akzeptierten neben der schriftlichen auch die mündliche Rechtsüberlieferung und wollten im alltäglichen Leben das Ideal priesterlicher Reinheit verwirklichen (durchaus in Distanz zum Tempelkult). Das fromme Leben des Einzelnen stand für sie (nach diversen Konflikten mit den Hasmonäern) stärker im Vordergrund als polit. Einfluss. Im Unterschied zu den Sadduzäern vertraten sie eschatologische Lehren mit Messiashoffnung ( Messias), Auferstehung und End-Gericht (Apg 23,8). Die
82 70 Zeloten entstanden wohl 6. n. Chr. (als Judäa in einen Teil der röm. Provinz Syrien umgewandelt wurde, d. h. unter direkte röm. Herrschaft gelangte) und verstanden sich als Kämpfer für die Alleinherrschaft Gottes im Gegensatz zur röm. Besatzungsmacht (Mk 12,13 17), was zu polit. Konsequenzen in Form von Aufständen führte. Ihr Widerstand kulminierte im ersten Jüd. Krieg (66 70/73 n. Chr.). Sie erwarteten die nahe Gottesherrschaft, die durch kämpferisches Engagement in der Tradition des Heiligen Krieges herbeigeführt werden sollte. I. 4. Die paganen Rel. der hell.-röm. Zeit waren polytheistisch geprägt, wobei sich das rel. Leben im offiziellen, lokalen und privaten Kult abspielte. Drei Aspekte sind für die spätantike Religiosität von Belang, mit denen sich auch die jüd. und christl. Schriften auseinander setzten: (a.) Der Kult des als Kosmosgott verstandenen Zeus, der mit Jupiter (vor allem als Jupiter Capitolinus) gleichgesetzt und als eine Art Reichsgott verehrt wurde. Er hatte Beziehungen zum (b.) Kaiserkult, der die Staatsgewalt rel. legitimierte. Im Herrscher manifestierte sich (seit Alexander d. Gr. von den griech. Königen beansprucht und von den Römern übernommen) göttliche Macht, sodass er für die Pflege und Umsetzung der göttlichen Ordnung verantwortlich war. (c.) Die Heil-, Mysterien- und Heilungsrel. kamen der inzwischen stark individualisierten Religiosität und ihrem Anliegen entgegen, dem Einzelnen persönliche göttliche Hilfe und Nähe zuzusprechen. Zudem wurden dem Individuum rel. Orientierung und die positive Lösung des Problems des individuellen Todes in Aussicht gestellt, indem auf ein wunderbares jenseitiges Leben verwiesen wurde. Zugleich banden diese Rel. ihre Anhänger in eine feste Gemeinschaft (bis zu Geheimzirkeln mit komplexen Initiationsritualen), wie man es in paganen Kreisen bis dahin nicht kannte, es in Zeiten der individualisierten Gesellschaft aber zunehmend als Halt schätzte. Die meisten Gottheiten, um die sich diese Kulte rankten, wurden aus dem Orient importiert (Isis, Osiris, Kybele, Attis, Dea Syria, Adonis, Mithras u. v. a.). Judentum und Christentum, die einen persönlichen Gott verkündeten, auf die Frage nach dem Tod eine positive Antwort hatten, von einer geschlossenen Gemeinschaft getragen wurden und mit einer lebensorientierend verbindlichen Weltbild / Kosmologie Ethik aufwarten konnten, hatten in dieser Zeit eine hohe Attraktivität. Diese wurde jedoch durch ihren exklusiven Monotheismus, der sie u. a. in Widerspruch zum Kaiserkult brachte, oder durch die als unsozial empfundene jüd. Tora-Observanz geschmälert. I. 5. Das W. der hell.-röm. Zeit war stark von philos. Weltdeutung (vgl. Apg 17,18; Kol 2,8) bestimmt. Drei wichtige Richtungen sind zu unterscheiden: (A.) Epikur/Epikureer. Epikur ( v. Chr.) hatte 306 v. Chr. seine Schule in Athen eröffnet. Sein Ideal war die Gemütsruhe (Btaraj2a), d. h. das stille Glück des sich mit dem Vorhandenen begnügenden Weisen, der ohne Todesfurcht und Götterangst lebte. Dies war das wahrhaft gelingende Leben und rechter Lebensgenuss. Maßstab war das subjektive Wohlempfinden, die Existenz der Götter (und des Todes) wurde nicht geleugnet, war aber für den Menschen weitestgehend irrelevant. (B.) Stoa/Stoiker (Vertreter Seneca, Marc Aurel, Epiktet). Die Stoa, die im 1. Jh. n. Chr. große Bedeutung hatte, führte alles auf ein Prinzip zurück: In der Ordnung der Welt war der göttliche Logos zu erkennen. Aus dieser Erkenntnis ergab sich für den Einzelnen, dass er eine Daseins- und Handlungsorientierung hatte: Der Weise sollte dem erkannten göttlichen Logos entsprechen, der die Welt durchwaltet, also mit ihm in Übereinstimmung leben. Die Daseinsorientierung des Einzelnen, der seine Affekte beherrscht und von äußeren Wechselfällen möglichst unabhängig ist, war das Ziel der stoischen Ethik. Sie gab dem Einzelnen festen Halt und persönlichen Seelenfrieden. (C.) Plato/Platoniker. Diese Richtung, die ab dem 1. Jh. n. Chr. ihre Wirkung entfaltete, war dualistisch ausgerichtet und unterschied zwischen der Idee und der Erscheinung, dem wahren Sein und dem Seienden. Der transzendente Gott stand jenseits des sinnlich erfahrbaren Seienden. Gott und Welt, Transzendenz und Immanenz wurden scharf voneinander getrennt, die Unsterblichkeit der Seele wurde der Sterblichkeit des Leibes gegenübergestellt. Das Ziel der Lebensführung war die Angleichung an den transzendenten Gott und die Überwindung des Leibes, zu der der Mensch aufgrund der in ihm waltenden göttlichen Vernunft auch fähig sei.
83 Weltbild / Kosmologie 71 I. 6. Entscheidend für das Weltbild der Spätzeit ist jedoch, dass die griech. verfassten Schriften der LXX den griech. Kosmosbegriff einführten (Weish 2,24; 2 Makk 7,9), der z. T. als Ersatz für die ältere Bezeichnung Himmel und Erde, aber auch (wie ax5n) zur Wiedergabe des hebr. Wortes }olam ( Ewigkeit) diente. In Übernahme hell. Vorstellungen wurde das Universum als geordneter Kosmos (d. h. als räumliche Einheit, geprägt von immanenter ewiger Ordnung, Schönheit und Harmonie) gesehen und so bezeichnet. Für den entstehenden bibl. Kosmosbegriff ist typisch, dass er die im Wort Kosmos enthaltenen räumlichen Vorstellungen mit dem heilsgesch.-zeitlichen Aspekt verbindet. Als typisch für die Spätzeit können die Spekulationen über das bevorstehende Weltende betrachtet werden, das eine vollständige Welterneuerung vorbereiten würde. Unter dem Einfluss einer dualistischen Weltsicht, die streng in zwei gegensätzliche Pole (Gut und Böse, Licht und Finsternis, Engel und Dämonen, Gott und Satan, Wahrheit und Lüge) unterschied, wurde in der jüd. Apokalyptik das göttliche Werk der geordneten Schöpfung als durch die Sünde, das Chaos, den Widersacher/Satan, die Dämonen und andere lebensfeindliche Mächte korrumpiert und verdorben betrachtet (4Esr 4; Jub 10,1 9). Man sah die ganze Welt und Zeit auf eine große, endgültige Auseinandersetzung zusteuern, aus der die gegenwärtigen Mächte des Bösen als Verlierer, Gott hingegen als siegreich hervorgehen würden (1QM). Dem Pessimismus gegenüber der gegenwärtigen Welt, gleichgesetzt mit dem aktuellen Weltzeitalter, stand zunehmend die Hoffnung auf ein neues Zeitalter bzw. Äon und eine erneuerte Welt gegenüber (1QS 4,16ff; 1Hen 48,7; 71,15; 2Bar 15,7). Erst im Eschaton würden sich die göttliche Ordnung und Herrschaft vollenden und ohne weitere Anfechtungen realisieren. Den Übergang zwischen den beiden Welten/Äonen stellte man sich entweder als ein großes End-Gericht (Dan 7; Mt 25,31 46) oder als kriegerische Auseinandersetzung vor (Ez 38; Dan 10 12; Mk 13), wobei auch beide Szenarien zu einem großen apokalyptischen Drama verbunden werden konnten (Offb), das nach einem festgelegten Drehbuch ablaufen würde. II. NT: Das W. des NT ist weitgehend den atl. und jüd. Traditionen verpflichtet. Himmel und Erde (Mt 5,18.34f.par.), z. T. auch Unterwelt (Mt 11,23par.; Röm 10,6f; Phil 2,10f), bezeichnen die drei vertikalen Raumebenen. Himmel und Erde können als Merismus die ganze Welt meinen (Mt 5,18; 28,18; Apg 4,24; Kol 1,16), die jedoch durch den Gebrauch des Begriffs Kosmos auf dem Hintergrund der entsprechenden hell.-jüd. Vorstellungen verstanden wurde. Diese wurden ntl. mit heilsgesch.-christologischen Aspekten verbunden, die ihnen ihr spezifisches Gepräge geben. II. 1. Kosmos bezeichnet im NT das Weltall, das Universum in seiner Einheit (Apg 17,24; Joh 21,25), das als Ganzes Gottes Schöpfung ist (Röm 11,36; 1 Kor 8,6) und an dem der Logos maßgeblichen Anteil hat (Joh 1,3.10; Kol 1,15f). Der Kosmos untersteht Gottes Vorsehung (Apg 17,26ff), ist Ort natürlicher Gotteserkenntnis (Röm 1,19f; Apg 17,27), ist als Gottes Schöpfung prinzipiell gut (1 Kor 10,26; Röm 14,14.20) und besitzt einen Anfang und ein Ende (Mt 13,40; 24,21; 25,31ff; 1 Kor 7,31). Ntl. ist er noch stärker als atl. von der Vierzahl bestimmt, da es vier Winde (Mt 24,31par.), Himmelsrichtungen (Offb 7,1 8), Weltenden (Offb 7,1; 20,8) und Vierergruppen von Engeln (Offb 7,1; 9,14f) gibt. Der Himmel ist Wohnort Gottes, des auferstandenen Christus, der Engel und auch Metapher für das kommende Zeitalter, während die Erde für den Wohnort der Menschen, der Kirche und das gegenwärtige Zeitalter steht (Mt 6,10; 16,19; 18,18). 2 Kor 12,1 5 nimmt die jüd. Tradition auf, nach der es mehrere Himmel gab. Aufenthaltsort der Toten war der Hades unter der Erde. Dort wurde auch die Gehenna vermutet. Sie galt als der feurige Abgrund, in dem der Engel des Abyss als König ( Widersacher) residierte (Offb 9,1f.11; 20,1.3), und in den die von Gott Verworfenen hinabgestürzt werden (Mt 18,9). Insgesamt ist das NT weniger an kosmologischen Entwürfen der gegenwärtigen Welt interessiert als vielmehr an der heilsgesch. Zukunft. Erwartet wird die Auferstehung der Toten (1 Kor 15,12 34; 1 Thess 4,13 18), ein End-Gericht mit Heil für die Gerechten sowie Verdammnis für die Frevler (Mt 25,31 46; Röm 14,10; 2 Kor 5,10) und die Erlösung der Schöpfung (Röm 8,18ff; Soteriologie). Wie in den zeitgenössischen jüd. Vorstellungen spielten ntl. Engel und Dämo-
84 72 nen eine große Rolle, in denen positive bzw. negative Kräfte und Mächte (z. B. Krankheit) personalisiert wurden, die jedoch alle Gott unterstanden (2 Kor 12,7 9). Das NT hat die pessimistische Weltsicht und Zwei-Äonen-Lehre (Mt 12,32; 13,39ff; 24,3; 28,20; 1 Kor 10,11; Hebr 9,26; Gal 1,4) der jüd. Apokalyptik weitgehend rezipiert und ihr in Jesus Christus eine neue Mitte gegeben. Entscheidend ist, dass die Herrschaft der Sünde und der lebensfeindlichen Mächte bereits im Jetzt durch die Herrschaft Christi abgelöst wurde, wenngleich noch nicht in der endgültigen Form, die erst im Eschaton oder dem nächsten Äon zu erwarten ist (Joh 12,31; Röm 8,21f; Hebr 6,1f; Offb 11,15). II. 2. Bei Johannes, der ähnlich wie Paulus die gegenwärtige Welt pessimistisch betrachtet, stehen sich Gott bzw. Christus und Kosmos bzw. Menschenwelt dualistisch gegenüber. Der Kosmos ist an sich Schöpfung Gottes und seines Logos (Joh 1,3f.10f; 17,5.24), doch Bereich der Finsternis (Joh 1,5; 3,19). Ihm steht der Logos als das Licht gegenüber (Joh 1,9; 8,12). Der Kosmos hat sich geweigert (Joh 1,10f), das Licht aufzunehmen, das Gott aus Liebe in Gestalt seines Sohnes gesandt hat, um ihn zu erlösen (Joh 3,16f; 4,42; 9,5). Der Kosmos wurde damit als gottfeindlich erkannt (Joh 12,31; 16,9 11), sodass das Kommen Christi ihm nicht zur Rettung, sondern zum Gericht gereichte (Joh 3,18ff; 5,27; 9,39). Der Kosmos ist folglich Schauplatz des Kommens, Rettens und Richtens Christi. Er steht im Gegensatz zu Gott und seinem Logos, da er lieber vom Bösen und Fürsten dieser Welt regiert wird. Der dualistische Gegensatz betrifft auch den Kosmos und die Jünger bzw. die Kirche. Die Glaubenden sind zwar noch in dieser Welt, aber nicht mehr aus dieser Welt (Joh 15,19; 17,15ff). Sie sind aus Gott geboren und leben in Christus (Joh 1,12f; 3,5; 15,1 8). II. 3. Paulus stellt auf der Grundlage der zwei-äonen-lehre den Gegensatz zwischen dem gegenwärtigen Kosmos/Äon gegenüber dem Kommenden heraus. Dieser Kosmos (1 Kor 3,19; 5,10; 7,31) bzw. dieser Äon (Röm 12,2; 1 Kor 1,20; Eph 1,21) ist gleichbedeutend mit der jetzigen diesseitigen Welt, die einer bösen Macht bzw. den Weltelementen (Gal 4,3.9; Kol 2,8.20) unterworfen ist, und sich nach Befreiung sehnt (Röm Weltbild / Kosmologie 8,18ff). Sie ist der Sünde und dem Fleisch verfallen und muss vom Tod erlöst werden (Röm 5,12ff). Der Gegensatz zwischen Gott und Welt ist durch Christus offenbar worden, der die diesseitige Welt erlöst hat (2 Kor 5,19), sodass der Kosmos mit Gott versöhnt ist (Kol 1,18 23; Röm 8,20ff; 11,15; 2 Kor 5,17ff). In Christus hat der neue Äon für die Glaubenden bereits begonnen (Gal 1,4; 6,14 16), die jetzt schon dem Reich Christi angehören (Kol 1,13f; 2,9ff). Die Gemeinde lebt in der Überzeugung, dass die Macht des künftigen Äons durch Jesus Christus bereits im Jetzt wirkt, sodass der Satan zwar schon prinzipiell gestürzt wurde, doch noch nicht gänzlich unschädlich gemacht worden ist (Kol 2,8.15; Eph 2,1ff). Das endgültige Reich Gottes beginnt mit der Parusie Christi und steht für das Eschaton noch aus. II. 4. Am stärksten wird das Ende der ersten Schöpfung und der Zusammenbruch des gestuften W. in der Offb ausgearbeitet, in deren Visionsbeschreibungen die alte Schöpfung mit diversen Naturkatastrophen (Verfinsterung der Sonne, Rötung des Mondes, Verrücken der Berge, Herabfallen der Gestirne bzw. Lichtverlust) ihrem spektakulären Ende entgegengeht (Offb 6,12ff). Die Himmelsfeste bricht über der Erde zusammen, Finsternis bricht herein, sodass die uranfänglichen Schöpfungswerke Gottes zusammenfallen, um durch eine neue, zweite Schöpfung ersetzt zu werden. I. W. Horowitz, Mesopotamian Cosmic Geography, Winona Lake 1998; B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001; O. Keel, Das sogenannte altorientalische Weltbild: BiKi 40 (1985) ; J. P. Weinberg, Die Natur im Weltbild des Chronisten: VT 31 (1981) ; H. Weippert, Altisraelitische Welterfahrung, in: H.-P. Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes Herrscher über die Welt, Neukirchen-Vluyn 1998, II. E. Adams, Constructing the World, Edinburgh 2000; K. Erlemann/J. Zangenberg u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Neukirchen-Vluyn 2004ff.; H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Stuttgart u. a. 1995/1996; ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum, Tübingen 2002; K. Müller, Das Weltbild der jüdischen Apokalyptik und die Rede von Jesu Auferstehung: BiKi 52 (1997) 8 18; R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes, Tübingen 2002; D. Ulansey, Die Ursprünge des Mithraskults, Darmstadt 1998; D. Zeller (Hg.), Religion und Weltbild, Münster Angelika Berlejung
85 Abendmahl / Eucharistie Begriffsartikel Abendmahl / Eucharistie (A./E.) ( Dachartikel: Kult) Vorbemerkung: Der Begriff A. geht auf die Bibelübersetzung Luthers, der Name E. (griech. epxarist2a, Danksagung ) auf den bibl. Sprachgebrauch in den Einsetzungsworten zurück. Das NT spricht vom Brechen des Brotes oder Herrenmahl, die christl. Väter von der E. und ab dem 4. Jh. vom Mysterium bzw. Sakrament. Die Religionswissenschaft unterscheidet zwei Arten von sakralen Mahlfeiern: eine, bei der die Gottheit als anwesend gedacht, die Mahlzeit in ihrem Namen abgehalten oder als Opfergabe mit ihr geteilt wird; und eine andere, bei der die Gottheit in der Speise selbst anwesend ist und die Teilnehmer sich mit ihr die göttliche Kraft einverleiben. Das christl. A. hat von beidem etwas. Es verbindet die Bräuche des jüd. Tisch- und Festmahls, das kein Opfermahl ist ( Opfer), aber, wie das Paschamahl (griech. p/sxa, Fest) und die Mahlzeiten der Gemeinde von Qumran (1QS 6,4f; 1QSa 2,17 22) zeigen, sakralen Charakter annehmen kann, mit dem Zweck der hell. Kultmahle, bei denen die Vergegenwärtigung der Gottheit selbst im Mittelpunkt steht. II. NT: 1. Von der Einsetzung des A. durch Jesus handeln vier Texte: Mk 14,12 26; Mt 26,17 30; Lk 22,7 23; 1 Kor 11, Sie repräsentieren zwei Fassungen der Einsetzungsworte: 1.) Mk 14,22 25 und Mt 26,26 29, 2.) Lk 22,17 20 und 1 Kor 11, Die vielen wörtlichen Übereinstimmungen im Grundbestand sprechen gegen die Annahme verschiedener Traditionen und lassen auf einen gemeinsamen Ursprung schließen, von dem sich die beiden Fassungen sowie die individuellen Zusätze theol. und liturgischer Art abgezweigt haben. Eine feste Tradition hat sich im Brotwort behauptet: Er nahm das Brot, dankte (oder: sprach den Lobpreis) und sprach: Das ist mein Leib. Größere Differenzen weist das Kelchwort auf, das in Mk und Mt parallel zum Brotwort eingeleitet, bei Paulus und Lk (Langtext) nach dem Mahl und ohne die Einleitung gesprochen wird. Die erste Fassung kombiniert zwei Schriftstellen, Ex 24,8.11 und Jes 53,12, und sagt: Dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. In der zweiten Fassung wird der Kelch mit Jer 31,31 als der neue Bund in meinem Blut gedeutet und bei Paulus das ganze Geschehen ausdrücklich als Verkündigung des Todes Jesu bezeichnet. Nur eine der beiden Fassungen des Kelchworts kann ursprünglich sein. Die Verallgemeinerung ( dies ist statt dieser Kelch ist ) und Angleichung an das Brotwort in Mk und Mt sprechen für die Priorität der zweiten, pln.-lk. Fassung, von der die erste durch weitere Schriftexegese abgeleitet ist. Diese erste, durch Mk und Mt bezeugte Fassung verschiebt den Akzent in der Deutung des Todes vom Bund auf das Blut und verleiht dem Geschehen sakramentalen Charakter. Zum selben Schluss führt der Vergleich des eschatologischen Ausblicks. 1 Kor 11,26 begnügt sich mit einer kurzen Andeutung ( bis er kommt ; vgl. 16,22; Offb 22,17.20). In Mk 14,25 ist sie, der Szene angepasst, für Jesus selbst, in Mt 26,29 für die Jünger ausgeführt, in Lk 22,16 18 nach vorne gezogen. Die Erwartung des himmlischen Mahls entspricht jüd. Eschatologie (vgl. Jes 25,6; Mt 8,11 12; Mt 22,2ff.par.). Der Ursprung der Einsetzungsworte wird für gewöhnlich bei Jesus selbst gesucht. Das setzt voraus, dass Jesus von seiner Auferstehung und den Folgen, die diese für die theol. Interpretation seines Todes haben würde, gewusst hat, und ist daher ganz unwahrscheinlich. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er in der Nacht vor seinem Tod mit seinen Jüngern ein Mahl gehalten hat,
86 74 dem im Licht von Ostern nachträglich eine neue Bedeutung zugeschrieben wurde. Schon Paulus führt die Überlieferung auf den erhöhten Herrn zurück, dem er die Worte des irdischen Jesus ( in der Nacht, da er verraten ward ) in den Mund legt (1 Kor 11,23). Die Evv. ordnen die Überlieferung dementsprechend in die nachösterliche Biographie ein und stellen einen Zusammenhang mit den sonstigen Mahlgemeinschaften Jesu (z. B. Mk 2,15.18f.par.), die einen Vorgeschmack vom Gottesreich geben, und mit dem Erscheinungsmahl in Lk 24,30.35 her. Ob das letzte Mahl Jesu ein Paschamahl war und was Jesus dabei gesprochen hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Die nachösterliche Überlieferung hat die Erinnerung vollständig transformiert, um einen neuen Ritus zu installieren. Brot und Kelch wurden auf den Tod Jesu bezogen und dieser nach der Schrift zunächst als neuer Bund und davon abgeleitet als mit dem Bundesblut erwirktes, stellvertretendes Sühnegeschehen ( Sühne) für euch bzw. für viele, das Mahl selbst als christl. Pascha (vgl. 1 Kor 5,7; Lk 22,15) und als Verheißung der Mahlgemeinschaft im Reich Gottes interpretiert (zur eschatologischen Dimension vgl. auch Offb 3,20). II. 2. Die theol. Interpretation schlägt in der Polemik des Paulus durch. 1 Kor 11,17ff kritisiert die Verrohung der Sitten beim Sättigungsmahl und unterwirft das Herrenmahl darum bes. strengen Maßstäben. 1 Kor 10,14 22 ist vom Gedanken der Teilhabe beherrscht. Wie der Opferdienst Israels die Teilhabe am Altar, so stiftet die Teilhabe an Leib und Blut Christi, am Tisch des Herrn, die Teilhabe an der Gemeinde als dem einen Leib Christi und schließt die Teilhabe an anderen Kulten, dem Tisch der Dämonen, kategorisch aus (so auch Hebr 13,10). 1 Kor 10,1 4 bietet eine typologische Deutung von Manna (Ex 16) und Wasser aus dem Felsen (Ex 17) auf das A., das mit der ebenfalls in einer Typologie dargestellten Taufe parallelisiert wird. Das Bindeglied ist der Geist des präexistenten Christus, der in dem Manna und dem Felsen ebenso präsent ist wie in Brot und Kelch. Auf das Manna rekurriert auch die Brot-Rede Jesu in Joh 6, allerdings nicht im positiven Sinne, sondern um der Abgrenzung und Überbietung willen. Hier bezeichnet sich Jesus selbst als das Abgabe / Steuer / Zehnt Brot des Lebens (V. 35), das wahre Brot, das vom Himmel gekommen ist (V. 32). Sollte das A. im Blick sein, wäre nicht der Tod Jesu, sondern die Inkarnation die heilsstiftende Tat Gottes, an der diejenigen partizipieren, die glauben, dass Jesus der Sohn Gottes und vom Vater gesandt ist. In Joh 13 sind die Einsetzungsworte durch die Fußwaschung ausgetauscht, die ebenfalls Teilhabe an Jesus gewährt (13,8). Der Zusatz in 6,51 58 bringt wieder den Tod Jesu ins Spiel und empfiehlt als wahre Speise und wahren Trank aber nicht Brot und Kelch, sondern Fleisch und Blut des Menschensohnes. Hier sind die joh. Formulierungen, an die sich der Zusatz anschließt, wörtlich genommen und sakramental ausgelegt. II. 3. Über die urchristl. Praxis des A. wissen wir nicht viel. Aus Apg 2,46 erfährt man, dass das A., hier wie sonst in der Apg (2,42; 20,7; vgl. 1 Kor 10,16) kurz als Brot brechen bezeichnet, in Privathäusern stattfand und mit einem Freudenmahl verbunden war. Die Hausgottesdienste schlossen den Besuch des Tempels und der Synagoge nicht aus, solange es möglich war, an diesen Orten das Ev. von Jesus Christus zu verkünden (Apg 2,46; 5,42). Hinweise auf die nachapostolische Praxis und die aufkommende Deutung der E. als Opferhandlung finden sich in der Didache (9,2.3 4; 10,2 6; 14), im 1. Clemensbrief (44), den Ignatius-Briefen (IgnEph 5; 20,2; IgnMagn 7; IgnPhld 4; IgnSm 6,1; 7,1), und bei Iustin (1 apol. 65; 66). M. Haarmann, Dies tut zu meinem Gedenken!, Neukirchen- Vluyn, 2004; J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen ; M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, Tübingen 1996; B. Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, Göttingen 1990; H. Lietzmann, Messe und Herrenmahl, Bonn Reinhard G. Kratz Abgabe / Steuer / Zehnt (A./S./Z.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Abgabe / Steuer / Zehnt I. AT: 1. Das AT bezeugt eine Vielzahl von Spezialausdrücken für A., wovon midda II ( Abgabe ), b e lo, h a lak, {æškar ( regelmäßiger Tribut ) und
87 Abgabe / Steuer / Zehnt 75 {nwš ( Steuer, Landabgabe ) akkad. Lehnwörter sind. Weiter sind t e ruma ( Kultabgabe ), massa{ ( Last, A. ) und minga zu nennen, wobei Letzteres allgemein das Geschenk an eine höherrangige Person oder an eine Gottheit (= Opfergabe) bedeutet. I. 2. Eine A. ist eine freiwillige oder unfreiwillige Zahlung (eines Einzelnen oder einer Gruppe) von Naturalien oder Geld an eine polit. Obrigkeit oder rel. Institution. A. an polit. Obrigkeiten (= Steuern) wurden vielleicht schon mit dem Aufkommen von Stammesstaaten (nach atl. Darstellung auf freiwilliger und gelegentlicher Basis, Ri 8,24f; 1 Sam 10,27), jedoch sicher seit der Entstehung von territorialen Staaten mit Königen regelmäßig nötig (1 Sam 8,10ff), um die Verwaltung und das Herrscherhaus zu finanzieren. Nach 1 Kön 4,7ff wurde das Land in 12 Bezirke eingeteilt, um ein Abgabensystem in Naturalien zu etablieren. Eine Kopf-S. wurde nur in bes. Fällen erhoben (2 Kön 15,19f; 23,35), um außergewöhnliche Kosten zu decken. Nach dem Ende der Staaten Israel (722 v. Chr.) und Juda (587 v. Chr.) mussten die Provinzen den neuen Landesherren (Assyrer, Ägypter, Babylonier) Tribut (in Naturalien) zahlen (2 Kön 15,19f; 17,3; 18,14; 23,33), Statthalter erhielten regelmäßige Steuern (Neh 5,14f). Die Finanzpolitik des Perserreiches bedeutete für die judäischen Kleinbauern ein Problem, da die Grundund Kopfsteuer in Geld zu entrichten war (das Tempelpersonal war davon befreit, Esra 7,24). Dies führte zur Verelendung der Bauern und in der Konsequenz zu Reformprogrammen (Neh 5), Reformen des Boden- und Schuldrechts (Lev 25,8 55; Dtn 15,1 18). Unter den Ptolemäern und Seleukiden rückte der Hohepriester Jerusalems in die Funktion des Ethnarchen mit den entsprechenden Steuerverpflichtungen gegenüber den Oberherren und Einzugsbefugnissen bei den Untertanen ein. Steuerfreiheit war ein gelegentliches Privileg, das begrenzt verliehen werden konnte (1 Makk 10,29ff; 11,33; 13,39). Fronarbeit (mas,sebæl, s. 1 Sam 8,11.16f.; 2 Sam 20,24; 1 Chr 22,2; 1 Kön 9,20f; 11,28; 12,18) und Zoll (= A. für Personen und/oder Waren an Straßen, Toren und Brücken) sind weitere A. an die polit. Obrigkeit, die die Bauern belasteten und im AT nicht grundsätzlich abgelehnt werden (z. B. 1 Kön 5,27f mit Korrektur in 1 Kön 9,20 22), solange sie nicht für unsinnige Projekte oder im Übermaß eingesetzt werden (Jer 22,13 15). Der Zehnte (ma} a ser) ist eine alljährliche A. von den Bodenerträgen (bzw. später dessen Geldwert) an den Tempel (Dtn 12,6; 14,22ff; Ausnahme 1 Sam 8,15.17; 1 Makk 10,31; 11,35). Die Erträge zeigten den göttlichen Segen an, für den man Jhwh (im Rahmen einer Erntedankfeier) mit einem Anteil der Ernte dankte. Nach Dtn 14,28f und 26,12ff sollte der Zehnt in jedem dritten Jahr an die Armen gehen. Nach Num 18,20ff ist der Zehnt eine A. an die Leviten, die davon 10 % an die Priester abgeben (Neh 10,38f). P und der Chronist fordern darüber hinaus noch von den Herdenhaltern den Viehzehnt (Lev 27,32f; 2 Chr 31,4ff), der sich jedoch nach Neh 10,36ff nicht durchsetzte. Neh 13,10ff und Mal 3,8.10 belegen Unregelmäßigkeiten in der Zehntabgabe. Zu den weiteren A. an das Heiligtum und sein Personal gehörten die Erstlinge (= erste Früchte der Ernte von Acker, Baum und Rebe und die Erstgeburt des Viehs) als jährliche A. an das Heiligtum (Ex 22,29; Num 18,11ff; Dtn 15,19 23) und die Kultabgabe (so besser statt Hebe für t e ruma, z. B. Num 18,8ff). Die Tempelsteuer als Kopfsteuer jedes männlichen Israeliten, die er ab seinem 20. Lebensjahr regelmäßig an den Tempel zu entrichten hatte, diente der Aufrechterhaltung des Kults und setzte das Ende des Königtums (der König war in Palästina wie im AO für die Pflege des Tempels und seines Betriebs verantwortlich, s. 2 Kön 12,5ff) voraus (Ex 30,11 16: 1 / 2 Schekel; 2 Chr 24,6.9; Neh 10,33f: 1 / 3 Schekel). Bibl. Ideal der nachexil. Zeit mit der Bürger-Tempel-Gemeinde um den zweiten Jerusalemer Tempel war die freiwillige Abgabe für einen als sinnvoll akzeptierten Zweck (vgl. die Stiftshütte als paradigmatischen Tempel in Ex 25,2; 35,21ff), d. h. die zweckgebundene, gern gegebene Spende, die gemeinschaftsstiftend wirkte und mit Gott verband. II. NT: Im NT sind prinzipiell staatliche Steuern (1.) und rel. A. (2.) zu unterscheiden, deren in ihrer Legitimität umstrittene Addition in Palästina zu Unruhe und einer erheblichen Belastung der Bevölkerung führte. II. 1. Die Fülle der vom röm. Staat bzw. seinen tributpflichtigen Klientelfürsten erhobenen S. (direkte Steuern: Grund- und Kopfsteuer; indirekte Steuern: Salz-, Verkaufs-, Gewerbesteuer;
88 76 verschiedenste Zölle, Fron, Militärabgaben u. a.) werden im NT zusammenfassend als f3row (Steuer, Röm 13,6) bzw. in Röm 13,7; Mt 17,25 mit den Wortpaaren f3row bzw. kvnsow und t0low (Steuer und Zoll) bezeichnet. Eingetrieben wurden sie in Palästina teils von den Magistraten, teils von Abgabenpächtern, die dies Recht meistbietend von den Machthabenden ersteigert hatten und durch jüd. Angestellte oder Unterpächter ausüben ließen. Die im NT genannten Zöllner (meist Pl. telmnai) sind abgesehen vom Brxitel5nhw (Oberzöllner) Zachäus, der als Vorsitzender einer Pachtgesellschaft vorzustellen ist, solche untergeordneten Bediensteten, deren Hang zur unrechtmäßigen Bereicherung notorisch war, weswegen sie gesellschaftlich ausgegrenzt und stereotyp in einem Atemzug mit Sündern genannt wurden (Mt 11,19; Mk 2,15 16; Lk 15,1; vgl. Lk 18,13; Mt 5,46; 18,17). Unter den Täuflingen des Johannes (Lk 3,12; Mt 21,31 32) und den Anhängern Jesu (Mk 2,13 17; Mt 10,3; Lk 19,1 10) befanden sich viele zur Umkehr bereite Zöllner. Weil Tribut-/Steuerzahlung von Provinzialen an die Römer gleichbedeutend mit der Anerkennung ihrer Oberherrschaft war, bemühte sich der jüd. Widerstand darum, deren Illegitimität rel. unter Berufung auf die Alleinherrschaft Gottes zu begründen und zur Steuerverweigerung aufzurufen. Von der beim Übergang Judäas in direkte röm. Verwaltung 6 n. Chr. gegen Judas Galilaios und seine Anhänger mit Waffengewalt durchgesetzten Steuerschätzung des Quirinius (Ios. bel.iud. 2,117f; ant.iud. 18,4ff.23 25; fälschlich als weltweite Bpograf1 = Steuerschätzung bezeichnet in Lk 2,2) führt eine blutige Spur (Apg 5,37 verschmilzt wohl den Widerstand der nach Ios. ant.iud. 20,102 unter Tiberius Alexander in Galiläa gekreuzigten Söhne des Judas Galilaios mit dem Wirken des Vaters) bis zum jüd. Krieg, dessen Fanal die Einstellung der Steuerzahlung war (Ios. bel.iud. 2,403f). Echos auf diese angespannte Situation im NT sind die Betonung der Steuerloyalität der Familie Jesu durch Lk 2,1 5 und der Gläubigen durch Paulus (Röm 13,6f) sowie das Streitgespräch mit Jesus über die Erlaubtheit der Steuerzahlung (Mk 12,13 17). Jesus entlarvt die Fragenden als Heuchler, indem er sie einen röm. Silberdenar (Mt 22,19 zugespitzt als Steuermünze bezeichnet) bringen lässt. Wer Abgabe / Steuer / Zehnt das Geld des Kaisers besitzt und verwendet, erkennt seine Herrschaft an und muss folglich auch Steuern zahlen; worauf es aber ankommt ist, Gott zu geben, was Gottes ist. Jesus fordert eine jegliche irdischen Ansprüche transzendierende Hingabe, lehnt eine Vergleichbarkeit und Verkoppelung der jeweiligen Ansprüche gerade ab, während Paulus in Röm 13,1 7 Steuerzahlung als Verpflichtung der Gläubigen bezeichnet aufgrund einer theol. nicht unproblematischen Bestimmung der Staatsmacht als göttlicher Setzung. II. 2. Im NT begegnen die beiden wichtigsten direkten rel. A., die Tempelsteuer und die für die Leviten bestimmte Zehntabgabe (dek/th = der Zehnt, Bpodekate4ein/-toQn = den Zehnt geben/ auferlegen), ferner vereinzelte Hinweise auf Primitialabgaben (Loskauf der männlichen Erstgeburt: Lk 2,22 24; Bparx1 = Erstlingsopfer nur in übertragener Verwendung). Dem pharisäischen Ideal konsequenter Verzehntung über das in der Tora Geforderte hinaus (Lk 18,18: den Zehnten von allem ; Mt 23,23/Lk 11,42: Minze, Dill, Kümmel/Raute, allerlei Gemüse) stand Jesus, was im Einklang mit seiner sonstigen Überordnung ethischer Forderungen über kultische Belange steht, skeptisch gegenüber. Sein im Rahmen der sog. Tempelreinigung berichtetes aggressives Vorgehen gegen die im Auftrag der Hohepriester tätigen Geldwechsler (kollzbist1w in Mk 11,15 ist wörtlich der Provisionsnehmer), die gegen 8 % Aufschlag die lokalen Währungen in den tyrischen Halbschekel umwechselten, mit dem die jährliche Tempelsteuer (im Wert einer Doppeldrachme, vgl. d2draxmon Mt 17,24) bezahlt werden musste, sowie seine Bezeichnung des Tempels als Räuberhöhle (Mk 11,17), lassen harsche Kritik an der mit Selbstbereicherung verbundenen Handhabung der Eintreibung der rel. A. durch die Elite erkennen. Nach der Logienquelle (Mt 23,23d) und Mt 17,24 27 haben die Judenchristen die rel. A. auf freiwilliger Basis bezahlt. Eine gewisse Analogie zu den traditionellen rel. A. stellt die in den pln. Gemeinden durchgeführte Kollekte für die Armen in Jerusalem dar (2 Kor 8 9; Gal 2,9f; Röm 15,25 28), die 1 Kor 16,1 2 loge2a (Steuer, aber auch freiwillige Geldsammlung sakraler Art) genannt wird. I. F. Crüsemann, Der Zehnte in der israelitischen Königszeit: WuD 18 (1985) 21 47; ders., wie wir vergeben unseren
89 Ahnen Ahnen 77 Schuldigern, in: M. Crüsemann/W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden, München 1992, ; J. Schaper, The Jerusalem Temple as an Instrument of the Achaemenid Fiscal Administration: VT 45 (1995) ; W. Schottroff, Der Zugriff des Königs auf die Töchter, in: F. Crüsemann/R. Kessler (Hg.), Gerechtigkeit lernen, Gütersloh 1999, II. F. Herrenbrück, Jesus und die Zöllner, Tübingen 1990; W. Stenger, Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!, Bonn Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Ahnen (A.) ( Dachartikel: Kult) Vorbemerkung: Als A. werden Verstorbene verehrt, die entweder in einem über mehrere Generationen reichenden genealogischen Zusammenhang mit den Lebenden stehen oder eine herausgehobene Stellung als Herrscher oder Adlige in einer Gesellschaft innehatten. In der Umwelt des AT waren der A.- und bes. der königliche Totenkult weit verbreitet. Am besten ist er für die nordsyr. Stadt Ugarit in der 2. Hälfte des 2. Jt. v. Chr. bezeugt. Einschlägige Belege finden sich aber auch im 1. Jt. für den gesamten syr.-paläst. Raum. So wird man davon ausgehen können, dass es Entsprechendes auch in Israel und Juda gab. Nur ist es noch nicht gelungen, dafür den archäologischen Nachweis zu führen. Bis auf weiteres muss man sich daher mit den verstreuten Nachrichten behelfen, die sich in der Polemik des AT gegen den als kanaan. gebrandmarkten, aber offenkundig praktizierten israelit.-judäischen Ahnenkult erhalten haben. I. AT: 1. Einen ersten Hinweis gibt das hebr. Wort r e fa{im, das an einigen Stellen die in der Unterwelt existierenden Toten bezeichnet (Jes 14,9; 26,14.19; Ps 88,11; Ijob 26,5; Spr 2,18; 9,18; 21,16). Wie aus den Texten von Ugarit hervorgeht, handelt es sich um den Oberbegriff der vergöttlichten A. Jes 14,9 ruft den Zusammenhang mit dem königlichen Ahnenkult in Erinnerung. Das Wort Refaim leitet sich von der Wurzel rp{ heilen ab und bringt damit vermutlich die heilvolle Wirkung der verstorbenen A. auf die Lebenden zum Ausdruck; es ließ sich allerdings auch leicht mit der Wurzel rph schwach werden in Verbindung bringen, sodass es seine ursprüngliche Bedeutung verlor (der Sache nach Jes 14,10). An anderen Stellen werden die Refaim historisiert, d. h. auf einen Stammvater Rafa zurückgeführt (2 Sam 21, ) und unter die Urbevölkerung Palästinas gezählt (Gen 14,5; Dtn 2,11 u. a.). Vermutlich von derselben Wurzel wie r e fa{im leitet sich der Begriff t e rafim ab. Er bezeichnet figürliche Hausgötter, von denen das AT einige Male berichtet (Gen 31,19.34f; Ri 17,5; 18,14.17f.20; 1 Sam 15,23; 19,13.16). Als Objekte des öffentlichen Kults sind Terafim in Hos 3,4 und 2 Kön 23,24, als Mittel der Orakeleinholung in Ez 21,26 und Sach 10,2 erwähnt. Die Wurzelverwandtschaft mit den Refaim spricht sehr dafür, dass man darunter Statuetten von A., je nachdem der Familie oder des Königshauses, zu verstehen hat. Über die kultisch-rituellen Praktiken, die mit diesen Ahnenstatuetten verbunden waren, erfahren wir nichts. In Ugarit und anderswo wurden den A. Opfer dargebracht. Zu den wesentlichen Bestandteilen des Ahnenkults gehörte eine Libation, ein Getreideopfer und die Anrufung des Namens des Toten. In der Regel hatte der Familienvorstand dies für seine A. zu leisten. In einem größeren Kreis wurden von den Königen, in den Familien und in eigens dafür gegründeten Kultvereinen Kultmähler zum Andenken oder im (vorgestellten) Beisein der A. veranstaltet. Inwieweit die Aufstellung von Stelen zum Andenken an Verstorbene (vgl. 2 Sam 18,18) damit etwas zu tun hatte, ist unklar. Eine entfernte Reminiszenz an das ugaritische Totenopfer könnte das im AT gewöhnlich mit Leichnam übersetzte Wort pgr in Lev 26,30 und Ez 43,7.9 sein. I. 2. Ein bes. Zweig der Ahnenverehrung war die Totenbefragung, die sog. Nekromantie. Sie geht davon aus, dass die Toten mehr wissen als die Lebenden. Hierzu erzählt das AT in 1 Sam 28 (vgl. 1 Chr 10,13) eine ganze Geschichte, die zwar so tut, als sei die Totenbefragung in Israel verboten gewesen, aber gleichzeitig von der in vor- wie in nachexil. Zeit offenbar üblichen Praxis berichtet. Ein indirektes Zeugnis davon geben auch das fingierte gegnerische Zitat in Jes 8,19, der Vergleich in Jes 29,4, die Gesetzesbestimmung in Dtn 18,11; Lev 19,31; 20,6.27 sowie die dtr. Geschichtskonstruktion in 2 Kön 21,6 (2 Chr 33,6); 2 Kön 23,24.
90 Alt/Neu 78 Das an allen Stellen meist in Verbindung mit jidd e }oni ( Wahrsagegeist ) gebrauchte Wort {ob ( Totengeist ) ist etymologisch mit {ab ( Vater ) verwandt und weist somit eindeutig auf den Ahnenkult. In 1 Sam 28,13 und Jes 8,19 heißen die A. auch Gott, ebenso wie die Terafim in Gen 31, Das aber widersprach dem ersten Gebot und dem Gesetz im AT. II. NT: Im NT spielen die A. keinerlei Rolle, wohl aber in der paganen Umwelt des Urchristentums. Im röm. Hauskult kommt den Laren eine große Bedeutung zu, hinter denen die Geister der verstorbenen Familienmitglieder zu vermuten sind. Ihnen waren im Haus Altäre und Schreine geweiht, in denen sie figürlich ( Bild) vergegenwärtigt sein konnten. I. D. Kühn, Totengedenken bei den Nabatäern und im Alten Testament, Münster 2005; O. Loretz, Ugarit und die Bibel, Darmstadt 1990; B. B. Schmidt, Israel s Beneficient Dead, Tübingen 1994; J. Tropper, Nekromantie, Neukirchen-Vluyn 1989; T.-S. Tsan, Ahnenkult im Alten Israel, Diss. Berlin II. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Stuttgart u. a Reinhard G. Kratz Alt/Neu (a./n.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) I. Das Alte (A.) kann mit folgenden Vokabeln wiedergegeben werden: mit hebr. jašan ( a., vorjährig ), rišon ( erster, vorangehend, früher, vormalig ), qadmoni ( urzeitlich, früher, vormalig ), blh ( sich abnützen, verbraucht sein ), }tq ( fortrücken, altern, a. werden ); mit griech. palai3w und BrxaYow ( a. ); davon zu unterscheiden ist pr0sbzw ( a., bejahrt, ehrwürdig ), ähnlich auch ghrai3w und hebr. zaqen. Das Neue (N.) kann wiedergegeben werden mit hebr. gadaš ( n., frisch ), griech. kain3w, n0ow, pr3sfatow und Komposita/Ableitungen. n0ow ist das N. im temporären Sinn ( jung, noch nicht lange da ), kain3w das qualitativ N. ( unverbraucht, frisch, fremd, anders ). Eine Aufteilung in AT und NT ist nicht sinnvoll, da die Unterscheidung zwischen a. und n. im Wesentlichen durch die Zeiten konstant bleibt. II. Das N., das Gott schafft: Die Verheißung und Erwartung des N., das Gott schafft (n. Bund, Alt/Neu n. Schöpfung, n. Herz, n. Mensch), spielt im AT, verstärkt in der exil.-nachexil. Heilsprophetie (Jes 43,18f; 65,17; Jer 31,31f; Ez 36,26), im Frühjudentum (1Hen 91,16 = 4Q212 4,23 25; 2Bar 44,12; CD 8,21; 19,33f; 20,12; 1QS 4,25) und im NT (Lk 22,20; Röm 6,4; 2 Kor 5,17; 2 Petr 3,13; Offb 21,1 5) eine entscheidende Rolle. Dieses N. ist aber zugleich das A. und Anfängliche, nämlich die überbietende Restitution des ungetrübten Verhältnisses von Gott, Mensch und Kreatur im Urzustand (Apg 3,21). Die Erwartung des N. in der Bibel ist daher nicht Indiz eines linear-prozessualen Zeit- und Geschichtsverständnisses (Gesch. als irreversible Fortentwicklung), sondern zeichnet sich in die zyklische und statische Wahrnehmung von Zeit und Geschichte im AO ein, wie sie sich artikuliert in dem verbreiteten Urzeit-Endzeit-Schema, der Vorstellung vom periodischen Entstehen und Vergehen der Welt (z. B. der Ekpyrosislehre der alten Stoa) oder auch der Diagnose, dass unter der Sonne nichts Neues geschieht (Koh 1,9f). Auch zerfällt die Zeit für antikes Empfinden nicht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Stationen einer irreversibel verstreichenden abstrakten Zeit (abstract time), sondern in eine ausgedehnte Gegenwart, die erfahrene Zeit (experienced time), d. h. der Spanne des (noch) überschaubaren Vergangenen und Künftigen, und in eine außerhalb der normalen menschlichen Erfahrung liegende imaginäre Zeit (imaginary time), die mythische Vor- und Endzeit. Beide trennt kein messbarer zeitlicher Abstand, sondern ein qualitativer Sprung wie die göttliche Neuschöpfung. In der prophetischen Ansage bzw. im Glauben an Christus ist dieses N. aber bereits präsent und drängt auf die Erneuerung von Herz und Sinn (Ps 51,12; Ez 18,31; 36,26; Röm 12,2; vgl. auch Mk 2,21f.par.). III. Das N., das der Mensch schafft: Im Hinblick auf von Menschen initiierte Neuerungen nimmt die Bibel im Rahmen des Dreierschemas von Urzustand, Verfall und Restitution eine überwiegend negative Haltung ein (vgl. paradigmatisch Gen 11,1 9). Solche kulturellen Verfallstheorien sind in der Antike gängig (z. B. Hes. erg ), ebenso das Gefühl, dass die Welt a. und dekandent geworden ist (vgl. 2 Tim 3,1 8; Hor. carm. 3,6,45 48; relativierend Koh 7,10; Sen.
91 Altar Altar 79 epist. 97). Nur punktuell, bes. im Griechenland des 5. Jh. v. Chr., entwickelte sich eine Art von Fortschritts- oder Verbesserungsbewusstsein, wonach das N. per se dem A. überlegen ist (Thuk. 1,71,3) und der Mensch an der Verbesserung seiner Lebensverhältnisse arbeiten kann und soll (Xenoph. Frgm. 18). Vor allem die Athener gelten als geradezu versessen auf Veränderung und alles N. (Thuk. 1,70,2; Apg 17,19 21), aber darum zugleich als notorische Störenfriede. Nur im Hinblick auf Wissenschaft und Technik, bes. die militärische, setzte sich solche Innovationsfreundlichkeit aber auf Dauer allgemein durch (vgl. Aristot. pol. 7,10,8, 1331a; Sen. epist. 33,10f; nat. 7,25,3 7; Plin. nat. 2,62). In der Bibel gibt es wenig Spuren einer solchen Einstellung (Ijob 28,1 11; 2 Kön 20,20; Sir 48,17). Von etwas N. ist im AT ohnehin nur auffallend selten die Rede (Ri 15,13; 1 Sam 6,7; 2 Sam 6,3; 21,16); ein Wort für Neuigkeiten fehlt gänzlich. Die alltäglich vorherrschende Erfahrung ist die des stets wiederholten Althergebrachten und Bewährten; das A. gilt als das Bessere (vgl. Sir 9,10; Lk 5,39; Sifra 26,10). Diese Einstellung betrifft bes. soziale Ordnung, polit. Organisation und rel. Kult; fast durchgehend ist diese sozialkonservative Mentalität in der Antike verbreitet (Ausnahme Athen). Sie prägt in den durch soziale Immobilität gekennzeichneten Bauerngesellschaften (peasant societies) nicht nur die ländliche Bevölkerung; auch die röm. Eliten orientierten sich an den mores maiorum (Sitten der Vorfahren). Diese sozialkonservative Mentalität äußert sich im AT in der Warnung vor Veränderungen zumal auf dem Gebiet des Kultes (Dtn 13,3.7.14; 32,17; Ri 5,8; Ps 81,10) und der sozialen Beziehungen (Spr 27,10; Sir 9,10). Auch die atl. Xenophobie (vgl. Dtn 7,1 5) ist für peasant societies typisch (anders in hell. Zeit, vgl. Apg 10,34f), ebenso, dass man dem N. und Unbekannten grundsätzlich mit Misstrauen begegnet und ihm bes. (gefährliche, magische) Kräfte zuschreibt (Ri 16,11f). Am bezeichnendsten ist aber, dass auch de facto revolutionäre Neuerungen wie die Kultreform durch Joschija (2 Kön 22 23) sich unter Berufung auf die Autorität eines im Tempel wiedergefundenen Gesetzbuches als Wiederherstellung eines a. Zustandes präsentieren. So werden die vielfachen Innovationen im Prozess der Entstehung der bibl. Überlieferung in dieser selbst systematisch verleugnet, indem das N. als Rückkehr zum Alten und Ursprünglichen dargestellt wird; auch der Neue Bund beruft sich beharrlich auf das Alte Testament (Röm 3,21, vgl. Jer 31,31 34). B. J. Malina, Christ and Time: CBQ 51 (1989), 1 31; C. Meier, Fortschritt in der Antike: GGB 2, Stuttgart 1975, Klaus Neumann Altar (A.) ( Dachartikel: Kult) I. AT: 1. Archäologisch sind für das Palästina der E-Zeit verschiedene Typen von A. (hebr. mizbe a g, Altar ; griech. uzsiast1rion, bvm3w) belegt. Die Hauptformen sind der aus (behauenen oder unbehauenen) Steinen gebaute A., der auf einer Kulthöhe (bama) oder im Vorhof vor dem Tempel stand, und der kleinere, aus einem Block bestehende A., oft aus Kalkstein gefertigt und mit Schalenvertiefung sowie vier Hörnern versehen. Von dem ersten Typ hat sich ein Exemplar in der Tempelanlage von Arad gefunden, der zweite Typ ist ebenfalls in Arad und an vielen anderen Orten belegt. Eine gewisse Ausnahme stellt der (in Spolien erhaltene) große Hörneraltar von Beërscheba dar (Abb. 11). Sämtliche Typen, dazu noch ein dem ersten Typ nahestehender Lehmziegelaltar, sind auch aus Megiddo bekannt. Während auf den größeren, offen stehenden A. entweder nur Schlachtopfer (so vermutlich in Arad) oder Abb. 11: Rekonstruierter Hörneraltar aus Beërscheba. Quelle: O. Keel/M. Küchler, Orte und Landschaften der Bibel. Band 2, Zürich u. a. 1982, Abb. 164.
92 80 Schlacht- und Brandopfer dargebracht wurden, waren die kleineren für das Räucheropfer aus tierischen (Fett) und pflanzlichen Substanzen (Speiseopfer, Aromata, Opfer) bestimmt und fanden sowohl in Tempeln als auch im Privatkult Verwendung. Den ersten Typ hat das Altargesetz in Ex 20,24 26 vor Augen. Es schreibt für die verschiedenen Orte, an denen Jhwh seinen Namen genannt haben, also angerufen werden und zum Segnen erscheinen möchte, eine Schlachtstätte aus Erde (vielleicht ist an getrocknete Lehmziegel gedacht) oder unbehauenen Feldsteinen vor (vgl. Dtn 27,5f; Jos 8,30f; 1 Kön 18,32; 4Q158 Frgm. 7 8,6.8). Hier sollen die tierischen Opfer, Brandund Heils -Opfer, dargebracht werden. Aus Gründen der Scham sind Treppenstufen, die zu dem A. führen, grundsätzlich verboten. Unbeschadet späterer Vorstellungen, die in die Formulierungen des Altargesetzes mit eingeflossen sein mögen, spiegelt es ebenso wie die vielen Altarbauten der Vorfahren Israels Noachs (Gen 8,20f), der Erzväter (Gen 12,7f; 26,24f; 35,7), des Mose (Ex 17,15), der Richter einschließlich Samuels (Ri 6,24.26; 13,20; 1 Sam 7,17) und der ersten Könige (1 Sam 14,35; 2 Sam 24, ; vgl. auch 1 Kön 3,4; 12,32f) die Verhältnisse der vorexil. Königszeit treffend wider. Niemand dachte sich etwas Schlechtes dabei, Jhwh auf jedem Hügel und unter jedem grünen Baum anzurufen und ihm Opfer darzubringen. Vor allem mit den kleineren, mit Hörnern versehenen A. für das Räucheropfer verbindet sich der Usus der Asylsuche am A. (Ex 21,14; 1 Kön 1,50f.53; 2,28f). I. 2. Einer der Altarplätze, mit der Zeit der wichtigste, war der Tempel von Jerusalem. Über seine A. erfährt man allerdings nicht sehr viel, und was man erfährt, fügt sich nur schwer zu einem stimmigen Bild. Der Baubericht des Tempels in 1 Kön 6,20.22 berichtet von einem A. aus Zedernholz im Inneren des Heiligtums, der mit Gold überzogen und vor dem Allerheiligsten aufgestellt war. Es handelt sich vermutlich um einen Räucheraltar, der neben dem goldenen Schaubrottisch stand (1 Kön 7,48); mit einem solchen rechnet auch Jes 6,6. In der Parallele 2 Chr 3 wird dieser A. nicht erwähnt. Dafür ist in 2 Chr 4,1 von einem großen, bronzenen (d. h. wenigstens teilweise mit Bronze überzogenen) A. im Vorhof des Tempels die Rede, Altar von dem wiederum die Vorlage in 1 Kön 7 nichts weiß. Doch auch der ältere Bericht in Könige setzt in 1 Kön 8,64 (2 Chr 7,7) sowie 1 Kön 9,25 (2 Chr 8,12 16) einen A. für Schlacht- und Brandopfer im Tempelhof voraus. Er soll nach 2 Kön 16,10 16 von König Ahas durch einen weiter nördlich aufgestellten A. nach aram. Muster ersetzt worden sein. 2 Kön 12,10 erwähnt einen A. (LXX: Massebe) am Eingang zum Tempel. Die etwas undurchsichtige Beleglage hat zu allerlei Mutmaßungen Anlass gegeben; mancher meint, dass schon vor der Neuerung des Ahas zwei A. im Vorhof des Tempels gestanden hätten, andere vermuten, dass es zunächst nur einen (am Eingang des Tempels plazierten) Räucheraltar für das Speiseopfer und das Verbrennen des Fetts der Schlachtopfer gegeben habe und erst Ahas den Brandopferaltar im Vorhof und mit ihm das Brandopfer in Israel eingeführt habe. Da aber die detaillierten Beschreibungen des Heiligtums, von denen sich weitere in den priesterlichen Texten finden (Ex 27,1ff; 30,1ff; Ez 43,13ff), ohnehin spät sind und auch stark differieren, darf man hinsichtlich Vollständigkeit und Historizität keine allzu großen Erwartungen hegen. I. 3. Für den zweiten Tempel belegt Esra 3,2f (vgl. Neh 10,35) die Existenz eines Opferaltars in Jerusalem. Nach Dtn 12,27 hätte es der einzige bleiben sollen. Andere werden als A. fremder Götter diffamiert (1 Kön 16,32; 2 Kön 21,3 5) und der Zerstörung preisgegeben (Dtn 12,3; 2 Kön 11,18; 23,12). Dass man es aber nicht überall mit Dtn 12 hielt, beweist der A. im Tempel der jüd. Kolonie auf der Nilinsel Elephantine. In Jerusalem ließ Antiochus IV. einen A.-Aufsatz (den Greuel der Verwüstung ) auf dem A. des zweiten Tempels errichten (1 Makk 1,54; vgl. Dan 9,27; 11,31). Der entweihte A. wurde 164 v. Chr. niedergerissen und durch einen neuen, gemäß dem Gesetz aus unbehauenen Steinen erbauten A. ersetzt (1 Makk 4,44 47; 2 Makk 10,3). Dieser wiederum wurde im Zuge der Umbauten des Herodes durch den A. abgelöst, den Josephus (Ios. bel.iud. 5,225) beschreibt. II. NT: Sowohl die Gemeinschaft von Qumran als auch die frühen Christen setzen den jüd. Altardienst voraus, die einen, indem sie ihn für bessere Zeiten neu ordnen (11Q19 20), die anderen, indem sie mit ihm selbstverständlich rechnen (Lk
93 Alter / Jugend Alter / Jugend 81 1,8 11) oder ihn in ihrer Polemik erwähnen (Lk 11,51; Röm 11,3 mit Zitat von 1 Kön 19,10). Als Ersatz für den Altardienst, von dem man ausgeschlossen ist, gelten in Qumran der Gesetzesgehorsam (CD 6,12f = 4Q266 Frgm. 3,II,18f) und der Lobgesang (11Q05 18,9 11; begleitend zu den täglichen Opfern 11Q05 27,5 8; vgl. Sir 50,11 21). Ähnlich empfiehlt auch Hebr 13,15f das Gotteslob und die guten Taten als Opfer, die Gott wohlgefällig sind, setzt sich aber deutlich von dem jüd. Altardienst ab (Hebr 13,10). In der christl. Tradition löst zunächst der Tisch des Herrn zum Gedenken an Tod und Auferstehung Jesu im Abendmahl den A. ab, bevor im Laufe des 3. Jh. s auch aus diesem Tisch der christl. Opferaltar wurde. I. K. Galling, Der Altar in den Kulturen des Alten Orients, Berlin 1925; S. Gitin, Incense Altars from Ekron, Israel and Judah: ErIs 20 (1989) 52 67; W. Zwickel, Räucherkult und Räuchergeräte, Fribourg u. a II. B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel, Tübingen 1990; G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultus in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament, Göttingen 1971; S. Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme, Berlin Reinhard G. Kratz Alter / Jugend (A./J.) ( Dachartikel: Anthropologie). Vorbemerkung: Zwar ist auch im NT das Leben in seiner ganzen Breite präsent, doch wird über die anthropologischen Fragen nach A. und J. nahezu ausschließlich im AT reflektiert. Deshalb ist es geraten, die wenigen ntl. relevanten Belege im Teil AT mit zu behandeln. I. AT: 1. Das menschliche Leben durchläuft verschiedene Phasen, die zeitlich und sachlich nicht immer absolut voneinander abgrenzbar sind. Das Sprichwort Man ist so alt, wie man sich fühlt fängt diese Relativität ein. Die bis heute geläufige Phaseneinteilung findet sich auch bibl.: Säugling (joneq), Kind (jælæd), Jugendlicher (na}ar, na} a ra, bagur, b e tula), Erwachsener ({iš, {išša,gibbor), Greis (seba,zaqen) (Jos 6,21; Ez 9,6; Jer 6,11; 51,22 u. a.). Während Kindheit und Erwachsenenalter bibl. unterrepräsentiert sind, reflektiert die Bibel ausgesprochen viel über das A. Das hängt mit der sozialen Wirklichkeit zusammen, in der die materielle Versorgung nicht mehr erwerbsfähiger Menschen ein zentrales gesellschaftliches Problem darstellt, da es weder Altersheime, Rente noch Sozialhilfe gab, die Altersarmut abdämpften. Ohne den familiären Rückhalt durch die eigenen männlichen Nachkommen war ein erträgliches Überleben kaum möglich. Das Ethos aller antiken Gesellschaften umfasst daher die Hochschätzung des A. und die Verantwortung der Söhne für die Versorgung ihrer Eltern. I. 2. Das A. wird so durchaus positiv besetzt, auch wenn gerade bibl. die Schattenseiten des A. klar und deutlich gesehen werden. Unabhängig von Gebrechlichkeit und Krankheit galt ein Mensch mit 60 Jahren als alt. Da die durchschnittliche Lebenserwartung mit etwa 50 Jahren (und vielleicht noch darunter) deutlich geringer lag als heute, waren 90-Jährige die Ausnahme (2 Makk 6,24), 100-Jährige eine absolute Seltenheit (Sir 18,9; Jes 65,20). Realistisch beschreibt Ps 90,10 die Ausdehnung des Lebens mit 70, wenn es hochkommt 80 Jahren (vgl. 2 Sam 19,33). Die Altersangaben der Erzeltern (Gen 23,1; 25,7; 35,28) und Protagonisten der Urgeschichte (Gen 5,5) sind dabei ebenso unrealistisch wie die in Gen 6,3 festgelegte Maximalausdehnung auf 120 Jahre (vgl. Dtn 34,7). Alt und lebenssatt zu sterben war eine bes. Auszeichnung (Gen 25,8; 1 Chr 29,28; 2 Chr 24,15; Ijob 42,17; Jdt 16,23; 2 Makk 6,18; Lk 1,18 u. a.). Säuglingsalter und frühe Kindheit reichen von der Geburt etwa bis zur Vollendung des vierten Lebensjahres. Das deutet zumindest Lev 27,5f an, wo ein Kind ab dem A. von fünf Jahren mit anderem Gegenwert aufgerechnet wird als ein Säugling ab dem ersten Monat. Auch dass man einen Fruchtbaum erst mit dem fünften Jahr wirtschaftlich nutzen darf (Lev 19,25), deutet auf diesen Zeitpunkt als bedeutsame Schwelle hin. Die Kindheit reicht dann bis zur Volljährigkeit, die mit dem zwanzigsten Jahr erreicht wird. Ab dem zwanzigsten Lebensjahr muss die Abgabe für das Heiligtum ( Tempel) entrichtet werden (Ex 30,14; 38,26), beginnt die Wehrfähigkeit (Num 1; 26; 1 Chr 27,23) und die volle Verantwortung (Num 14,29; 32,11; 1 Chr 23,24; 2 Chr 23,17). Josef zählt mit 17 als jung (Gen 37,2). Jo-
94 82 schija wird mit 8 Jahren König und gilt mit 16 Jahren immer noch als jung (2 Chr 34,1.3), mit 20 ist er so handlungsfähig, dass er Kultreformen eigenständig durchführt (2 Kön 22f). Mit 60 Jahren überschreitet der Mensch die Schwelle des A. (Lev 27,3.7; 1 Tim 5,9). Die Dienstzeit der Leviten am Offenbarungszelt soll vom dreißigsten bis zum fünfzigsten Lebensjahr reichen (Num 4; 8,25). An den Rändern des Erwachsenenalters wurden demnach im sensiblen Bereich des Kultes je zehn Jahre abgerechnet. Normalerweise begann das Erwerbsleben allerdings früher, häufig (wie bei Jesus) im Beruf und an der Seite des Vaters. Der patriarchalen Gesellschaftsordnung entsprechend ( Sozialstatus) blieb der Sohn dem Vater gehorsamspflichtig, solange der Vater lebte. Die Frau unterstand bis zu ihrer Verheiratung dem Willen der Eltern und der Brüder, danach ihrem Mann. Ältere werden den Jüngeren immer vorgeordnet (Dtn 21,15 17). Die Erzählungen der Genesis zeigen bei Isaak (Gen 16; 21,9ff), Jakob (Gen 27), Juda (Gen 49,9f), Josef (Gen 37,3; 41) und Efraim (Gen 48,14) die Umkehrung dieser Grundoption. Neben einer typischen Familienkonfliktsituation wird daran deutlich gemacht, dass Erwählung keinem festen Gesetz folgt und nicht berechenbar ist. I. 3. Die J. wird einerseits als kraftvolle, vitale und agile Zeit beschrieben (Ps 128,2; 144,12; Klgl 4,7; Ijob 20,11; 33,25; Spr 20,29; Jes 40,30; 1 Sam 8,16 u. a.), andererseits wird gerade die Unerfahrenheit Jugendlicher bes. betont (1 Kön 3,7; 1 Chr 22,5; 2 Chr 13,7; Spr 1,4; 7,7; Jer 1,6f; 1 Makk 1,26). Im Kontext von Kampf und Krieg scheint oft die Unerfahrenheit junger Männer auf (Ri 8,20; 2 Sam 18, ). Wenn gerade die Jungen im Krieg fallen, gilt dies als Zeichen bes. Grausamkeit (Jer 51,3.38; Klgl 2,21; 1 Makk 2,9 u. a.). Überhaupt ist der Verlust der nachwachsenden Generation bes. schmerzlich (Ps 78,63; Klgl 1,18; 2,21; Ps 105,36 u. a.). Die Ausgelassenheit und Fröhlichkeit der Jugendlichen wird mehrfach betont. Sie musizieren (David; Sach 8,4; Ijob 21,11f; Ps 68,26; Klgl 5,14) und verstehen es zu feiern (Ri 14,10; Weish 2,6; Koh 11,9), sind aber zugleich frech (2 Kön 2,23; Jes 3,5). In ihrer frisch erwachten sexuellen Begierde sind sie unersättlich (2 Tim 2,22) und vor allem die jungen Alter / Jugend Männer protzen mit ihrer Sexualkraft (1 Kön 12,10/2 Chr 10,10; Rut 3,10). Neben der weisheitlichen Empfehlung, die J. auszuleben (Spr 5,18; Koh 11,9; Weish 2,6), steht die Mahnung vor den Jugendsünden, die unter der Voraussetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ( Weisheit; Ethik) im A. folgenreich sind (Klgl 3,27; Ps 25,7; Jer 31,19f; Sir 6,18; Lk 18,21). Schon von J. an soll die Tora die Orientierung übernehmen (Ps 119,9). Für die Unterweisung in der Tora sind zuallererst die Eltern zuständig (Dtn 6,20f; 32,7; Ps 92,15f). Von daher ist Gehorsam gegenüber den Eltern von den Kindern in bes. Weise gefordert (Spr 23,22; Dtn 21,18 21; Eph 6,1; Kol 3,20). Das Elterngebot des Dekalogs (Ex 20,12; 5,16) und die vielfältige Aufforderung zur Elternehrung (Lev 19,3; Dtn 27,16; Ex 21,15.17; Spr 19,25; 20,20; Sir 3,2.6.16; 7,27 u. a.) gehören jedoch nicht in den Bereich der Kindererziehung und das Eltern-Kind-Verhältnis in der Phase der Adoleszenz, sondern beziehen sich auf die Sorge für die alternden Eltern ( Familie). I. 4. Da es kein Sozialsystem gab, das Altersarmut von staatlicher Seite verhindert hätte, sind die alternden Eltern auf ihre Kinder, insbes. die wirtschaftlich eigenständig handelnden Söhne angewiesen. Zu den Sohnespflichten des Erstgeborenen gehörte demnach die Versorgung von Vater und Mutter im eigenen Haushalt bis zu deren Tod und Begräbnis (Tob 4,3f). Mit der Wertschätzung und Ehrung des A. wird zudem die Bedeutung der Alten in der Gesellschaft gefestigt (Lev 19,32; Sir 8,6; 32,9; Spr 31,23). Insbes. ihr Rat, ihre Weisheit und ihre Lebenserfahrung werden geschätzt (Sir 8,9; 25,4 6; Weish 4,8f; Spr 20,29, vgl. die weisen Frauen in 2 Sam 20,13 22), weshalb man sie nicht nur ausreden, sondern auch zuerst reden lassen soll (Ijob 32,4.7; Sir 32,3; 6,34). Vor grauem Haar, das im Unterschied zum jugendlichen schwarzen, glänzenden Haar mehrfach synonym für das A. steht (vgl. das deutsche Greis ), sollen die Jüngeren aufstehen (Lev 19,32). Das A. wird häufiger mit Weisheit gleichgesetzt (Spr 16,31; 20,29; Ijob 12,2; Sir 25,4, vgl. 1 Tim 4,12), wobei die Weisheit wichtiger bleibt als hohes A. (Weish 8,4) und A. nicht vor Torheit schützt (Ijob 12,12; Sir 25,2; Dan 13). Bei aller Wertschätzung des A. werden die damit verbundenen Minderungen keineswegs ausge-
95 Amt / Charisma 83 blendet (Ps 71,9). Dazu zählen vor allem körperliche Gebrechlichkeit (1 Sam 4,18; 1 Kön 15,23; Koh 12,1.3; Sach 8,4), Kraftlosigkeit (Ps 71,9.18; 2 Chr 36,17), Altersblindheit (Gen 27,21; 48,10; 1 Sam 3,2; 1 Kön 14,4; Koh 12,3), Zeugungsschwäche (1 Kön 1,1f.4; 2 Kön 4,14; Koh 12,5) bzw. Gebärunfähigkeit (Gen 18,11f; Rut 1,12; Lk 1,7), Schwerhörigkeit (Koh 12,4), Zahnlosigkeit (Koh 12,4), mangelnder Geschmackssinn (2 Sam 19,36) und Kurzatmigkeit (Koh 12,5). Auch dass die geistigen Kräfte schwinden, wird in Sir 3,13 als Altersminderung bezeichnet. Weder A. noch J. werden beschönigt, mit beiden geht die Bibel unbefangen um und erkennt in beiden Vor- und Nachteile. Es gibt und das ist vielleicht der stärkste Impuls aus der Heiligen Schrift insgesamt ein starkes Bemühen um einen Generationenausgleich und das harmonische Zusammenleben aller Generationen in dem von Gottes Gegenwart bestimmten Lebensraum. J. Conrad, Die junge Generation im AT, Stuttgart 1970; E. S. Gerstenberger, Lebenslauf und Lebensphasen im Alten Testament: EvErz 42 (1990) ; F.-L. Hossfeld, Graue Panther im Alten Testament?: ArztChr 36 (1990) 1 11; M. A. Klopfenstein, Die Stellung des alten Menschen in der Sicht des Alten Testaments, in: W. Dietrich (Hg.), Leben aus dem Wort, Bern u. a. 1996, ; W. Schottroff, Alter als soziales Problem in der hebräischen Bibel, in: F. Crüsemann/ R. Kessler u. a. (Hg.), Gerechtigkeit lernen, Gütersloh 1999, Christian Frevel Amt / Charisma (A./C.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Amt / Charisma I. AT: 1. Ein abstrakter Amtsbegriff ohne funktionale Konkretion ist dem Hebr. ebenso fremd wie dem griech. Begriff x/risma ( Geschenk ). I. 2. In den Stammesgesellschaften der vorstaatlichen Zeit gab es das A. der Alten oder Ältesten (z e qenim). Dies waren die Familien- oder Sippenoberhäupter mit Aufgaben der lokalen Führung (Ri 11; 1 Sam 4) und Rechtsprechung, die einen Teil ihrer Kompetenzen an den von ihnen betrauten und anerkannten Führer abgaben und so aus ihren Reihen (wenigstens im Nordreich) das A. (nicht den Beruf!) des Häuptlings Abb. 12: Beamtensiegel des 8. Jh. v. Chr., das einen judäischen Beamten mit Szepter zeigt (s. auch Abb. 3). Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 263a. (šofet = traditionell Richter ) eines Stammes schufen. Dies war eine dauerhafte Amtsposition mit polit. Macht, die traditionell in der Forschung durch den Zusatz kleiner Richter von den sog. großen Richtern unterschieden wird, bei denen es sich um Stammeshelden oder Retter aus einer einmaligen Notlage handelte, deren Wirken im AT auf eine Geist-Begabung durch Gott zurückgeführt wurde. I. 3. Mit Jiftach und Saul skizziert das AT Personen, die an der Schwelle zwischen lokalen Helden und stammesübergreifendem polit. Herrscher und König stehen (1 Sam 11; Ri 11f). Weitere Übertragungen einer bestimmten Funktion und Stellung, die ein Einzelner für ein Kollektiv mit Autorität und Vollmacht übernahm (was ihm Statusgewinn verschaffte), waren das Priesteramt (mit Amtskleidung; Priester) und das Prophetenamt (evtl. Amtskleidung Prophetenmantel; Prophet). In der staatlichen Zeit wurde der König (zu Anfang durch Anerkennung durch Stammesvertreter, 2 Sam 2,4; 3,17f; 1 Kön 12, später Erbfolge) Amtsträger. Er ernannte seine Hofbeamten (sarim) für sich immer weiter differenzierende Amtsbereiche (2 Sam 8,16 18; 20,23 26; 1 Kön 4,2 6), darunter Richter (hier: Justizbeamter; Gericht) und Militärführer (auch sarim, Heer). Siegel, die neben dem ikonographischen Motiv den hebr. Namen (und Titel) des Siegelbesitzers (z. T. mit Filiation) nennen, treten Ende des 9. und Anfang des 8. Jh. v. Chr. auf und sind als Beamtensiegel zu interpretieren (Abb. 12). Ausweislich der angegebenen Amtsbezeichnungen war das Beamtenwesen in den verschiedenen paläst. Kleinstaaten parallel aufgebaut. Die Amtstitel auf den Siegeln entsprechen denen, die man aus dem AT kennt, sodass man über die Staatsorganisation recht gut informiert ist: Neben dem König sind Sohn und Tochter des Königs, der
96 84 Diener/Minister (}bd) des Königs, Stadtkommandant (sr h}r), Palastvorsteher ({šr }l hbyt), Fronvorsteher ({šr }l hms), Herold (mzkr), Schreiber (spr) und Priester (khn) bezeugt. Aus dem A. als Stellung und Funktion (die man neben dem Broterwerbsberuf ausüben konnte) war schnell ein Beruf (= Arbeitsbereich und Tätigkeit zum Erwerb des Lebensunterhalts) geworden. Die von der Geschlechtertrennung bestimmte Gesellschaft des AO (und damit auch Palästinas) trennte die Lebens- und Arbeitsbereiche von Männern (Außenwelt) und Frauen (Haus) klar voneinander, sodass nur Männer die Möglichkeit hatten, öffentliche Ämter (mit der Ausnahme von Frauen der Herrschaftsfamilie) zu übernehmen. I. 4. Neben den Ämtern der königlichen Zentralverwaltung gab es in der Königszeit weiterhin das traditionelle tribale A. der Ältesten, das sich allerdings gewandelt hatte, da der Begriff nun auf die Mitglieder einer lokalen Ortselite zu beziehen ist. Diese hatte in den Landstädten und Dörfern die Leitung der Gemeinschaft inne (1 Kön 21,8ff). In ihren Händen lag (wie schon in vorstaatlicher Zeit) die örtliche Gerichtsbarkeit (Dtn 21,2ff; 25,5 10; Rut 4,1 12) aber auch die lokale Interessenvertretung nach außen v. a. gegenüber dem König. Oberschichtsangehörige der Hauptstadt (2 Sam 12,17), ebenfalls Älteste genannt, konnten dort dem König als Aristokratenversammlung bzw. Stadthonoratioren in Rat und Tat beiseite stehen. Diese Differenzierung des Ältesten-A. nach Stadt oder Land, zwischen Stadtverwaltung und Stammesselbständigkeit lässt sich auch in Ebla, Mari oder Ugarit belegen. Mit dem Ende der Staatlichkeit wurden die königlichen Amtsinhaber des Nord- und Südreichs mehrheitlich ins Exil deportiert, während die regionalen Amtsstrukturen der Ältesten im Land noch intakt blieben. Älteste scheinen auch die Exilsgemeinde(n) organisiert zu haben (Ez 8,1; 20,1; Esra 2,68). Dennoch scheint hier eine Entwicklung begonnen zu haben, die zur Erstarkung des Priesterstands führte, sodass in nachexil. Zeit der mit königlichen Kompetenzen und Insignien ausgestattete Inhaber des Hohepriester-A. in Jerusalem zum Haupt der Theokratie wurde und in hell. Zeit in die Funktion des Ethnarchen (= Volksbeherrscher) einrückte. Das Institut der Ältesten als Repräsentanten des gesamten Volkes Amt / Charisma oder (des Konstrukts eines) Zwölfstämmeverbandes (Num 11,16.24f, vgl. Ex 3,16.18; 4,29 31; 12,21; 18,12; Dtn 27,1) scheint ein Ideal zur Demokratisierung der Leitung der nachexil. Gemeinde um Priester und Tempel zu sein, das (theol.-heilsgesch.) die Einheit und Geschlossenheit des wahren Gottesvolkes symbolisieren sollte. Realisierungsversuche traten jedoch hinter das erstarkende Priester-A. zurück. I. 5. Die Weihe ist die offizielle und rituelle Amtseinführung von Königen, Priestern oder Propheten, die im AO wie im AT (1 Sam 10,1; 16,1.13; 1 Kön 1,39; Ps 2,2; Lev 4,3; Ex 29,1 19; 30,30; 40,15; Lev 8,1 36; 1 Kön 19,16; Jes 61,1) meist mit einer Salbung mit Öl (Verb: mašag) und einem Einkleidungsritual (Ex 29) vollzogen wurde ( Ritus). Diese Salbung übertrug dem Gesalbten ( Messias) göttlichen Geist und Heiligkeit (1 Sam 10,1.6; 16,13; Ex 30,29) und stellte ihn unter göttlichen Schutz, was ihn zu seinen Aufgaben (erst) befähigte. Mit dem Anziehen der Dienstkleidung wechselte man in die neue Identität als Amtsträger über. Im Akkad. wie Hebr. findet sich für die Betrauung mit Amtsgewalt noch der Terminus jemandem (mit Macht) die Hand füllen (Ri ; 1 Kön 13,33; Sir 45,15). I. 6. Amtsinhaber haben Verpflichtungen, jedoch auch Ehre, Prestige, Besitz und Rechte, was zur Tendenz der Ausweitung der Amtsbereiche und Ämterakkumulation führt wie zum Versuch, Ämter in der Familienlinie weiterzugeben. Machtkonzentration und Amtsmissbrauch suchen Amtsgesetze (Dtn 16,18 18,22) zu begrenzen. Die Belege für Amtsmissbrauch sind im AO wie im AT häufig. Das AT prangert Missstände und rel. Fehlverhalten in Bezug auf die Ältesten (Ez 8,11ff), Könige, Beamte, Propheten und Priester wiederholt an (Jes 1,21 23; Zef 3,1 5; Ez 22,25ff) und kennzeichnet eine vorbildliche Amtsführung als gottgefällig. In eschatologischer Szenerie wird Jhwh selber das Königs-A. antreten und im Kreis seiner Ältesten regieren (Jes 24,23). II. NT: 1. Staatliche Amtsträger im Dienst des röm. Staates sind ntl. als Brx1, Ejozs2a oder Tgem5n ( Führer, Statthalter ; vgl. Lk 12,11; 20,20; Tit 3,1) bezeugt, wobei Brx1 wie Ejozs2a im Sg. und Pl. den einzelnen Beamten, die Behörde, Obrigkeit und deren Machtbefugnis oder Amtsgewalt bezeichnen können. Der wandernde
97 Amt / Charisma 85 Jüngerkreis um den hist. Jesus (Mk 6,7ff.par.) tat aus göttlicher bzw. jesuanischer Vollmacht Dienst an der Verkündigung und der Verwirklichung des nahen Reichs Gottes (Austreibungen von Dämonen und Heilungen; Herrschaft). Eine Sonderstellung, die nicht mit A. gleichgesetzt werden kann, hatten Jesus, die von ihm eingesetzten zwölf Apostel, Petrus und die Dreiergruppe Petrus/Jakobus/Johannes inne. Jesus wurden prophetische Vollmacht (Ejozs2a; Mt 7,29 vgl. auch Lk 13,33; Joh 6,14) und erst nachösterlich hohepriesterliche Würde (Brxiere4w Hebr 2,17; 3,1 u. a.) zugeschrieben; als Christus ist er der eigentliche Auftraggeber seiner Funktionsträger (Röm 1,5; 1 Kor 4,1ff; 5,4). Die ersten Christen sammelten sich in Hausgemeinden, die in Privathäusern auf private Gastgeber angewiesen waren (Apg 1,13; 2,46; 12,12; 16,15; 20,8). Ämter als rechtlich fest definierte Positionen im Rahmen einer Institution gab es hier noch nicht. In den urchristl. Gemeinden wurden die Aufgaben zwar verteilt, doch hatten die Funktionsträger kein A. auf Lebenszeit und waren einander auch nicht unter- oder übergeordnet. Das A. war keine juristisch-administrative-verfassungsrechtliche Größe, sondern eine theol.-christologisch-pneumatische. Dementsprechend überwiegen ntl. Aspekte des A., die durch die Begriffe x/riw, x/risma ( Gnade/Gnadengabe ), diakon2a ( Dienst ), oxkonom2a ( Verwaltung ) und Ejozs2a ( Vollmacht ) oder pneqma ( Geist ) charakterisiert sind. II. 2. Gegenüber der früheren These, dass sich die Ämter als Institution entwickelt haben (A. Harnack), nachdem die Geistpräsenz aus den Gemeinden gewichen war, wird heute stärker betont, dass sich das A. aus dem Zusammenspiel der pneumatischen Dimension mit der hist. bedingten Konkretion der Kirchenentstehung und der damit verbundenen Ausdifferenzierung der Aufgaben entfaltet hat. Zeitlich wie räumlich ist dabei mit unterschiedlichen Entwicklungen zu rechnen. Der wandernde Kreis um den hist. Jesus oder die ersten Gruppen in der Nachfolge Jesu in Palästina waren theol. anders ausgerichtet und gesellschaftlich anders organisiert als die ersten christl. Gemeinden, die Nicht-Juden gegenüber offen waren oder gar außerhalb von Palästina in Kleinasien und Europa gegründet wurden. II. 3. Verschiedene innergemeindliche Aufgabenverteilungen und Amtskonzeptionen finden sich vor allem in den pln. Briefen, in der Apg und den Past. Aus der ntl. Naherwartung heraus ergab sich für die ersten Gemeinden keine Notwendigkeit, Ämter als Institutionen mit geregelter Nachfolge einzurichten. Die Gemeindeaufgaben waren Funktionen, die die Funktionsträger in den Gemeinden stellvertretend für Christus ausübten, bis er wieder kommen würde (1 Kor 13,8ff; 2 Kor 5,20; Lk 10,16). Die Hingabe und der Dienst am Anderen wurden als Nachfolge Christi verstanden. Brüder- und Schwesterlichkeit sollten das christl. Gemeindeleben kennzeichnen (Mt 23,8 10; Apg 2,1 21; Gal 3,28), in dem das Tragen eines Titels, das den einen über den anderen erhoben hätte, unbedeutend war. Für die Ausübung der Gemeindefunktionen im Auftrag Christi war die göttliche Gnade ausschlaggebend, die am stärksten von Paulus im Sinn einer Charismenlehre reflektiert und systematisiert wurde (1 Kor 12; Röm 12,3 8). Der Begriff des Charismas bezeichnet in der hell.-jüd. Lit. eine mildtätige Gabe (Sir 7,33) oder ein Gottesgeschenk (Philo LA 3,78). Bei Paulus und den von ihm beeinflussten Texten (1 Tim 4,14f; 2 Tim 1,6; 1 Petr 4,10f) ist es eine Gnadengabe bzw. die empirische Äußerung der vorhandenen Gnade Gottes. 1 Kor 12,28 30 nennt als Träger von Kirchenfunktionen Apostel, Propheten und Lehrer; zu den Charismen zählen Wunderkräfte, Heilungsgaben, Hilfeleistungen, Leitungsaufgaben sowie mancherlei Sprachengaben. Das Kriterium für die Hierarchisierung der diversen Charismen hängt pln. davon ab, inwiefern sie zum Dienst (Erbauung, Ermahnung und Trost) an den Brüdern und in der Kirche geeignet sind, wo alles zur Ehre Gottes in Christus zu geschehen hat (1 Kor 14). Bes. Wert legt Paulus darauf, dass alles in der Gemeinde ( Kirche) geordnet vonstatten geht. Ekstatische Auftritte und Zungenreden (Glossolalie) sollten in Korinth durch die verständliche Auslegung für alle ergänzt werden. Die Charismen sind im übrigen zwar verschieden, kommen jedoch alle aus einem Geist (1 Kor 12,4.7.11). Da jeder Christusgläubige nach Paulus den Geist hat (Röm 8,9ff; 12,4ff; 1 Kor 12,7), hat jeder eine bes. Aufgabe in der Gemeinde. Die Dienste in derselben sind zwar unterschiedlich, haben jedoch alle in Christus einen Herrn (1 Kor 12,5).
98 86 Amt / Charisma Die wichtigsten Vollzüge der urchristl. Kirche waren für Paulus die Wortverkündigung und Unterweisung (Röm 12,6f; 1 Kor 12,8.28f; 13,1f), Armenfürsorge (Röm 12,8f; 1 Kor 12,28; 13,3), Gemeindeleitung (Röm 12,8; 1 Kor 12,28; 1 Thess 5,12, vgl. 1 Tim 3,1f; 5,17) und die Wirkung von Wunderkräften (1 Kor 12,9f.28). Frauen übernahmen in der ersten Generation viele Aufgaben in den Hausgemeinden, denen sie auch vorstehen konnten (Röm 16,1 7; Apg 12,12; 16,14; Kol 4,15). Auch weibliche Apostel, Diakone und Missionare sind belegt (Röm 16,1.3.7; Apg 18,18.26). In der Folgezeit wurden sie zurückgedrängt, als die Hausgemeinden durch Vollversammlungen ersetzt und dort die geltenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen zu ihrer Organisation übernommen wurden. II. 4. Die Jerusalemer Urgemeinde leiteten um 48/ 50 n. Chr. die drei Säulen Petrus, Jakobus (nicht der aus dem Zwölferkreis, sondern der Bruder Jesu) und Johannes (Gal 2,9), später anscheinend Jakobus allein (Apg 12,17; Gal 2,12). Die Darstellung der Leitung der Urgemeinde durch die zwölf Apostel unter Führung des Petrus in Apg 1 6 ist eine Fiktion des Lk, der damit die durch Augenzeugen garantierte Traditionskontinuität zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche darstellt (Apg 1, ; vgl. Lk 1,1 4). In (hell.-)judenchristl. Gemeinden scheinen (zuerst neben den Aposteln, später an ihrer statt) nach jüd. Vorbild Gremien von Ältesten (presb4teroi) in Gestalt eines kollegial-patriarchalen Presbyteriums entstanden zu sein, die (Apg 11,30; 15,2.22f; 16,4) die Gemeindeleitung übernahmen. Im griech.-hell. Raum entwickelte sich der episkopale Typ, der urspr. auch ein Kollegium vorsah, sich jedoch zum monarchischen Episkopat entwickelte. Der Bischof (Ep2skopow = wörtl. Aufseher ) war zu Anfang in den urchristl. Gemeinden ein Vorsteher, der die Aufsicht führte, wobei in einer Gemeinde mehrere Bischöfe sein konnten. Bischöfe erscheinen ntl. meist im Pl., wechselweise mit den Presbytern (Apg 20,17 28) und zusammen mit den Diakonen (1 Tim 3; Phil 1,1). Sie waren ebenso wie Presbyter und Diakone verheiratet. Je stärker die pln. noch favorisierten Apostel, Propheten und Lehrer in nachpln. Zeit zurücktraten, desto stärker wurde das A. des Bischofs (Did 15,1f; Ignatius von Antiochien), auf das denn auch noch der Gedanke der apostolischen Sukzession übertragen wurde (1Clem 42 44; datiert ca. 96 n. Chr.). II. 5. In den Past. werden die Kriterien für die Amtsvergabe sowie die Notwendigkeit der dauernden und ununterbrochenen Gewährleistung der wichtigsten Funktionen in den Gemeinden reflektiert. Durchgesetzt haben sich hier (gegenüber dem Vorsteher Röm 12,8; Evangelisten, Hirten Eph 4,11; Führer Hebr 13, ) die Amtsbezeichnungen Bischof (Aufgabenprofil: Vorsteher, Administrator, Leiter und Lehrer), Presbyter (Aufgabenprofil: Vorsteher, Administrator, Leiter, Prediger und Lehrer), Diakon sowie der Stand der Witwe (1 Tim 3.5; Tit). Die nötige Amtssukzession wurde durch Handauflegung im Sinn einer Ordination gewährleistet (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Die Amtsträger waren (anstelle jedes Einzelnen der gesamten Gemeinde) für das intakte Gemeindeleben, Heil und die Lehre verantwortlich. Die Past. verwenden den Begriff des Charismas, um die Amtsgnade für das kirchliche A. zu bezeichnen, die dem jeweiligen Amtsträger durch die Handauflegung übertragen wurde. Die Gemeinde war nicht mehr durch Charismen strukturiert, die jeden Christusgläubigen zu etwas Spezifischem befähigt hatten, sondern durch die Amtsträger, die die Gnadengaben in gewisser Weise monopolisierten. I. L. L. Grabbe, Priests, Prophets, Diviners, Sages, Valley Forge 1995; H. Niehr, Rechtsprechung in Israel, Stuttgart 1987; H. Reviv, The Elders in Ancient Israel, Jerusalem 1983; U. Rüterswörden, Die Beamten der israelitischen Königszeit, Stuttgart u. a. 1985; ders., Amt und Öffentlichkeit im Alten Testament: JBTh 11 (1996) 55 68; E. Ullrich (Hg.), Priests, Prophets and Scribes, Sheffield 1992; V. Wagner, Beobachtungen am Amt der Ältesten im alttestamentlichen Israel: ZAW 114 (2002) und II. N. Baumert, Charisma Taufe Geisttaufe, Würzburg 2001; U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, Neukirchen-Vluyn 2004; H.-J. Klauck, Gemeinde, Amt, Sakrament, Würzburg 1989; T. Rendtorff (Hg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985; U. Luz, Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht: EvTh 49 (1989) 76 94; E. Schüssler Fiorenza, Frau und Amt, in: dies., Grenzen überschreiten, Münster 2004, ; T. Söding, Charisma und Amt des Apostels: LebZeug 57 (2002) 5 13; ders., Geist und Amt, in: T. Schneider/G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge 1, Freiburg u. a. 2004, Angelika Berlejung
99 Anfang / Ende 87 Anfang / Ende (A./E.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) Anfang / Ende I. AT: 1. Vom A. (rešit) von Welt und Geschichte redet die P in Gen 1,1 3, insofern Gott aus der Urflut (t e hom) den Kosmos und damit auch Raum (das Werk des zweiten Schöpfungstages, Gen 1,6 8; Schöpfung) und Zeit (das Werk des ersten Schöpfungstages Gen 1,3 5) sowie alle Lebewesen und Naturgewalten erschafft. Das Dasein der Welt verdankt sich allein der unvergleichlichen Schöpfermacht Gottes. Das vor allem in P (Gen 1, ; 2,3f; 5,1f) und bei DtJes (Jes 41,20; 42,5 u. a.) auftretende Verb br{ wird nur in diesem Zusammenhang verwendet und unterstreicht die Analogielosigkeit des göttlichen Handelns. Andere Ausdrucksweisen sind deutlich vermenschlichend: So baut, gründet oder macht Gott die Welt wie ein Baumeister (bnh, kun, qnh Ps 24,2; Jes 45,18; 9,6), knetet sie wie ein Töpfer (jrr Am 4,13) oder breitet sie aus wie ein Zelt (nth Jes 40,22). Dabei sollte man keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Schöpfung aus Gottes Wort oder aus Gottes Tun (Gen 1f) konstruieren, da das eine nicht stofflos gedacht werden muss, während das andere durchaus metaphorisch gemeint ist und nicht auf einen Urstoff hindeuten muss. Dem AT genügt es, dass Gott in alleiniger Souveränität selbst A. und E. setzt; eine Spekulation über Urstoffe oder den Zustand vor der Schöpfung ist dem AT fremd. Selbst dort, wo aufgrund gemeinorientalischer Bezüge der bibl. Schöpfungsaussagen mythische, primordiale (= uranfängliche) Größen erwähnt werden ( Urflut, Leviatan, Meer), steht ihre Unterordnung unter Jhwh und ihre Einordnung in das Gefüge der geschaffenen Welt im Vordergrund. I. 2. Dem A. der Welt korrespondiert ein E. der Urgeschichte in Jos 18,1 (mit Rückverweis auf Gen 1,28), das aber kein E. der Geschichte (qer hajjamim Ende der Tage ) ist (nach anderen Entwürfen ist der Tod des Mose in Dtn 34 (P) die Grenze zwischen Urzeit bzw. Vor-Zeit und Jetztzeit, während für diejenigen, die die Priestergrundschrift mit Ex 40* oder Lev 9* enden lassen, die beiden Zeiten unvermittelt einander gegenüberstehen). Damit ist in P die Jetzt- Welt zu dem geworden, was sie bleiben soll. Die Endzeiterwartung der prophetischen Lit. wird abgelehnt, indem sie in Gen 6 9 (P) als Vergangenheit integriert wird (vgl. Gen 6,13 mit Am 8,2; Ez 7,2). Das offene Geschichtsbild von P teilen Ijob (implizit) und Koh (explizit: Koh 1,4 11; 3,1 15) sowie Sir (Sir 16,24 18,14; 43,1 50,24). Das mit der Schöpfungsordnung einmal gesetzte Heil bleibt gültig (und setzt sich immer wieder durch), auch wenn es von Menschen (Sir) oder Chaosmächten (Ijob; der Zufall bei Koh?) immer wieder gefährdet wird. Daher wird Gottes Schöpfermacht dauerhaft auch im Sinne der creatio continua gepriesen (Ps 93). Die prophetische Erwartung einer zukünftigen Heilszeit auf der Basis der innergesch. Heilszeit, verbunden mit David/Salomo (kritisiert: Koh 7,10), führt letztlich zur Abwertung der gegenwärtigen Welt und ihrer Geschichte, die mit einer apokalyptischen Totalvernichtung und der folgenden Neuen Schöpfung ihr E. findet, in der dann Geschichtslosigkeit herrscht (Jes 24 27; 40,1 11; 41,17 20; 43,18 20; 54,10 17; 60,11 22; 65,16b-66,24; Apokalyptik). Zwischen A. und E. spielt sich das Ganze ab (vgl. die Quellenverweise der Chr in 1 Chr 29,29; 2 Chr 9,29; 12,15; 16,11; 20,34; 25,26; 26,22; 28,26; 35,37); Gott selbst ist der begründungslos Erste und ungefährdet Letzte (Jes 41,4; 44,6; 48,12), dessen Existenz die seiner Schöpfung behütend umschließt. Die Gewalttat der Menschen setzt das E. aller Wesen aus Fleisch durch die große Flut im Sinne eines göttlichen Strafgerichts in Gang (Gen 6,13), doch bleibt die schöpfungsgemäße Zusage an die Menschheit als Ganze durch den ewigen Bund Gottes mit Noach und seinen Nachkommen erhalten (vgl. Gen 1,27 30 mit 9,1 17). Relative Anfänge setzen die Erwählungen Abrahams (Gen 12f und 17), Israels (Hos 11,1; Ez 16) und Davids (2 Sam 7). Während die ersten beiden Erwählungen katastrophenresistent sind und damit kein innergesch. E. haben (vgl. Hos 2), stellt Ps 89 fest, dass die Davidverheißung hinfällig geworden ist. Überhaupt kann menschlicher Ungehorsam die Existenz staatlicher Institutionen wie das Königtum ( König) oder selbst den Besitz des verheißenen Landes infrage stellen (z. B. Am 8,1 3). Ihre Restitution erwartet man
100 88 Anfang / Ende ebenfalls von Gott (was vor allem bei DtJes in auffälliger sprachlicher Analogie zu Schöpfungsaussagen ausgedrückt wird). Insofern verbindet man mit dem E. der Tage vor allem in späten Texten nicht selten die Rückkehr idealer, nun aber für immer bleibender Zustände einer imaginären Vergangenheit (Mi 4,1 5). II. NT: 1. In Weiterführung atl. Rede spricht auch das NT vom Zeitpunkt der Schöpfung als A. (Brx1, BpÕ BrxVw/t0low, sznt0leia, Xsxatow kair3w; vgl. z. B. Mk 10,6; Mt 24,21 aus Dan 12,1; Joël 2,2; Hebr 1,10 aus Ps 101,26 LXX), wobei dabei nicht nur der zeitliche Aspekt eine Rolle spielt, sondern immer auch ein Moment bes. Autorität und Modellhaftigkeit impliziert ist (z. B. Mk 1,1; Mt 19,4.8; vgl. den Satan als Mörder von A. an in Joh 8,44). Dem Verweis auf den A. kommt daher auch in nicht mit der Schöpfung verbundenen Zusammenhängen bes. argumentative Kraft zu (vgl. Lk 1,2; Joh 15,27; Apg 11,15; Phil 4,15; 1 Joh 1,1; 2,7.24; 3,11; Hebr 2,3; 5,12). Der zeitliche Vorrang des Christus vor Abraham in Joh 8,58 impliziert eine höhere Autorität. Analog zum A. kann aber auch das E. eines Menschen paradigmatische Bedeutung besitzen (Hebr 13,7). Wie zahlreiche andere mit der Strukturierung von Welt und Geschichte zusammenhängende Kategorien wird auch die Spekulation über A. (Brx1) und E. (t0low) der Welt im NT mit Christus verknüpft. Dabei wird Christus, wenn auch nicht terminologisch, so aber zumindest inhaltlich als Mitte (Conzelmann), Höhepunkt oder Wende der Zeit verstanden. A. und E. stehen nicht mehr nur in Bezug zueinander, indem das von Gott heraufgeführte E. etwa den ursprünglich intendierten A. wiederherstellt wie zuweilen in der jüd. Apokalyptik, sondern A. und E. werden durch Christus wie durch ein Prisma gefiltert und neu bestimmt. Insofern Brx1 sowohl zeitlich als auch bzgl. erfahrener Wirkmächtigkeit Vorrang, Primat meint und je nach Kontext mit A. und Macht übersetzt werden kann, nimmt es nicht Wunder, dass Jesus als der von Gott gesandte Christus im NT sowohl am kosmischen Beginn entscheidend involviert als auch Herr über alle Mächte ist (Röm 8,38f; Eph 1,29 22; 6,12 16; Kol 1,16). So wird Christus weniger in die neutral ablaufende Zeit eingeordnet als vielmehr als entscheidendes Agens des A. (Schöpfungsmittlerschaft) und E. (z. B. als Menschensohn und endzeitlicher Richter) verstanden. Bes. gut ist dies in der joh. Lit. zu beobachten, in der allein 18 von 55 Belegen des Wortes Brx1 im NT vorkommen. In 1,1 10 qualifiziert Joh nicht nur Jesus als das vor der Schöpfung existente Wort und setzt ihn so über Zeit und Geschichte, sondern bestimmt die Schöpfung dadurch zugleich als ersten Akt der Erlösung des Kosmos. Die Schöpfungsmittlerschaft des Christus propagiert auch Kol 1,15 20; Offb 3,14. Waren Schöpfung und Erlösung in jüd. Lit. ausschließlich Gotteshandeln, so schiebt sich im NT somit Christus an Gottes Seite, ohne jedoch dessen Überordnung aufzuheben (1 Kor 15,23 28). Offb 1,17; 2,8; 21,6; 22,13 greift gar Gottesprädikate aus DtJes 44,2.6 auf und wendet sie auf den Erhöhten an (vgl. auch Offb 3,14 aus Spr 8,22). Sachlich analog liegt die Aussage in Hebr 7,3, wonach Melchisedek als Abbild des Sohnes Gottes weder A. noch E. hat ( Ebenbild). II. 2. Einen deutlich verschobenen Akzent zum AT zeigt das NT in Bezug auf das E. Während Ankündigungen über die Zukunft (Strafe, End- Gericht, Heil) im AT ganz überwiegend als innergesch. Ereignisse verstanden werden, kennt das NT im Anschluss an die jüd. Apokalyptik ein tatsächliches E. der bestehenden Welt und Geschichte (2 Petr 3,5 13 steht zudem unter Einfluss nichtjüd. Kosmologie). Das Heil ereignet sich diesen Entwürfen zufolge erst in einer transzendenten Zukunft, die man sich quasi überund unzeitlich vorstellt. Den Eintritt des E. sieht man im Gefolge der apokalyptischen Gedankenwelt mit gesch. und kosmischen Umwälzungen verbunden (vgl. den A. der Wehen in Mk 13,8). Am E. der Zeiten wird Christus wiederkommen (1 Petr 1,20; Hebr 9,26; Parusie). Eine bes. Rolle spielt die Auferstehung (1 Kor 15,20 22), die in jüd. Apokalyptik zu den Endzeitereignissen gehört und das Erscheinen der Toten zum Gericht sicherstellen soll. Da nun aber Jesus als Erster der Toten auferstanden ist, ist das E. angebrochen und die Gewähr dafür gegeben, dass auch die übrigen Toten auferstehen werden (1 Kor 15). Bei dem Begriff E. (t0low) schwingt sowohl das Moment des Abschlusses bzw. Abbruchs des Vorangegangenen (Mt 13,39) als auch dessen Vollendung mit, wodurch sich nicht selten Schwierig-
101 Angesicht / Schauen Gottes Angesicht / Schauen Gottes 89 keiten bei der Interpretation ergeben (vgl. klassisch Röm 10,4). Die Durchsetzung dessen, was bisher punktuell angebrochen ist, nämlich der Sieg über Sünde und Tod (so bei Paulus oder in der Offb), wird am E. ( im Eschaton ) in kosmischer Weite eintreten (Röm 8,35 39; 1 Kor 6,2f; 15,23; Kol 1,20; 2,15) und ist zumindest für Paulus daher neue Schöpfung (2 Kor 5,17; Gal 6,15; vgl. auch Offb 21,5; vgl. auch die pln. Gegenüberstellung von erstem und letztem Adam in Röm 5,12 21; 1 Kor 15,45). Der wiederkommende Christus wird Gericht halten und die Seinen sammeln (Mt 13,39f; 1 Thess 4,15 17; 1 Kor 15,23 28; Offb), sein Reich wird kein E. mehr haben (Lk 1,32f). Die Christologisierung des End-Gerichts ist somit das sachliche Pendant zur Schöpfungsmittlerschaft am A. Die Wachstumsgleichnisse (z. B. Mt 13,31 34) betonen, dass das Kommen des Reiches trotz seiner aktuellen Unscheinbarkeit mit dem Wirken Jesu bereits irreversibel in Gang gesetzt wurde. Insofern qualifiziert der Beginn des E. zugleich die noch verbleibende Zeit als Zeit der Vorbereitung und der Bewährung, des Ausharrens trotz Irrungen und des Glaubens (Mt 10,22; 1 Kor 13,13; 2 Petr 3,3 7; Offb 2,26). Auf verschiedene Art und Weise ist Christus jedoch auch bis zu seiner Wiederkunft ( Parusie) bei den Seinen präsent (Mt 28,20; Joh 12,34; 14,16.26; 15,26 Paraklet; Joh 13,34; 1 Joh 2,7f). I. M. Bauks, Die Welt am Anfang, Neukirchen-Vluyn 1997; K. Löning/E. Zenger, Am Anfang schuf Gott, Düsseldorf 1998; H.-P. Mathys, Vom Anfang und vom Ende, Frankfurt/M. 2000; B. Trimpe, Von der Schöpfung zur Zerstörung, Osnabrück II. K. Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, Tübingen 1995; ders., Endzeiterwartungen im Frühen Christentum, Tübingen u. a. 1996; G. Röhser, Hat Jesus die Hölle gepredigt?: Zeitschrift für Neues Testament 9 (2002) Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Angesicht (A.) / Schauen (S.) Gottes ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) I. AT: 1. Entgegen der These, dass das Alte Israel eine Kultur des Hörens und das Alte Griechenland eine Kultur des Sehens sei (Th. Boman), geht die Anthropologie des AT von einem Zusammenhang von Hören und Sehen aus, denn beide, das hörende Ohr wie das sehende Auge hat Jhwh geschaffen (Spr 20,12). Auch im Blick auf die atl. Gottesvorstellungen ist nicht einfach mit einem Primat des Hörens (auf Gott bzw. sein Wort) zu rechnen. So zeigt etwa Ijob 42,5f, wo die Reue Ijobs auf eine visionäre Gottesbegegnung zurückgeführt wird, dass das S. Gottes eine Form der personalen Gotteserfahrung ist, die über das Hören hinausgeht, weil es zur direkten Begegnung mit dem lebendigen Gott führt. Daneben gibt es einen anderen Traditionsstrang, wonach die Transzendenz Jhwhs die wahre Form des israelit. Kultes begründet und demzufolge das Bilderverbot zusammen mit dem Fremdgötterverbot das Hauptgebot des Jhwh-Glaubens ist (Ex 20,4par., vgl. Dtn 4, ). In diesem Sinn zielt die Horebtheophanie auf das Hören Israels, nicht aber auf das Sehen (r{h) der Gestalt Jhwhs (Dtn 4,9 31). Ältere Überlieferungen wie Ex 3,6 oder 1 Kön 19,13 sprechen davon, dass Mose bzw. Elija ihr Gesicht verhüllt haben aus Furcht, Gott anzublicken. Die Geste der Gesichtsverhüllung ist Ausdruck der Ehrfurcht vor Gott und zugleich Bewahrung des Menschen vor dem Anblick seiner verzehrenden Majestät. Was hier unausgesprochen als Grundmotiv wirkt, wird in Ex 33,20 als allgemeiner Grundsatz formuliert: Nicht kann der Mensch das A. Gottes (hebr. p e ne { æ lohim; griech. pr3svpon UeoQ;vgl. Gen 33,10) sehen und am Leben bleiben. I. 2. Dass Menschen Gott schauen und dennoch am Leben bleiben, wird im AT aber mehrfach berichtet, nicht nur in Überlieferungen über die Erzeltern (Gen 12,7; 17,1; 18,1, 26,2 u. a.), sondern an exponierter Stelle auch innerhalb der Sinaiperikope (Ex 24,9 11, vgl. Ez 1,22.26; 10,1 u. a.). Vom S. Gottes bzw. seines A. ist aber vor allem im Psalter die Rede. Bei einigen Stellen steht dabei die Vorstellung von der Sonnenhaftigkeit Jhwhs ( Gestirne) im Hintergrund wie in dem nachexil. Zionslied Ps 84,11 13, dessen Metaphorik eine solare Präsenz Jhwhs im Tempel voraussetzt und auf den rettenden und schützenden Aspekt Jhwhs (Audienzvorstellung) hinweist. Von einer ähnlichen Gottesschau im Tempel spricht auch Ps 42,2f, wonach das Sehen des göttlichen Gesichts im Heiligtum auf dem Zion so lebenswichtig ist wie das Wasser für die vom Ver-
102 90 dursten bedrohte Hinde (vgl. dazu judäische Namenssiegel des 8. und 7. Jh. v. Chr. mit entsprechenden Bildmotiven). Schwieriger zu deuten sind demgegenüber Ps 11,7; 27,4.13; 63,3 und vor allem Ps 17,15. Im morgendlichen Sättigen an der Gestalt Jhwhs (Ps 17,15) macht der Beter eine Erfahrung, die dem Sehvorgang von Ex 24,10 in nichts nachsteht. Allerdings ist der Vorstellungshintergrund ein anderer, wie der Terminus t e muna sichtbare Gestalt (Ex 20,4par., vgl. Dtn 4,12 u. a.), das polemische Leitwort der Bilderverbot-Texte, andeutet. Das S. der Gestalt Jhwhs meint aber auf jeden Fall eine Vision, in der sich Gottes rettende Gerechtigkeit für den Beter sinnenfällig manifestiert, indem sie für ihn sichtbar und erlebbar wird. Der LXX-Psalter hat an dieser wie auch an anderen Stellen (Ps 16; 49 u. a.) die Gottesschau eschatologisiert und als Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod umgedeutet (visio beatifica). II. NT: Wie das AT kennt auch das NT trotz Röm 10,17 keine Prävalenz des Hörens vor dem Sehen auch nicht in Bezug auf die Gottesbegegnung im engeren Sinn. In personalen Bezügen stehen sehen bzw. schauen und hören oftmals für ganzheitliche Begegnungen und Wahrnehmungen. Die Gottesbegegnung und -offenbarung lässt sich nicht auf einen menschlichen Sinn beschränken oder fokussieren. Die Schau Gottes als personale Gotteserfahrung wird im NT nicht explizit wie in den Pss. mit dem Gebet im Tempel (vgl. Jes 1,12; Ps 11,7; 17,15; 42,2f u. a.) in Verbindung gebracht, sondern als beglückend (visio beatifica) auf das eschatologisch-unmittelbare Sehen von A. zu A. (1 Kor 13,12) bezogen (vgl. 1 Joh 3,1 3; Offb 22,4). Im Himmel sehen die Engel der Kleinen das A. Gottes (vgl. Mt 18,10) als Ausdruck des bes. göttlichen Schutzes für die Kleinen. Ebenfalls im himmlischen Heiligtum tritt der Hohepriester Jesus Christus vor dem A. Gottes für uns ein (Hebr 9,24). Das A. (pr3svpon) Gottes bzw. des Menschen wird hier metonym verwendet für Gott (vgl. auch Mk 1,2; Apg 3,20; 2 Thess 1,9; 1 Petr 3,12; Offb 6,16) oder den Menschen. Im NT verbreitet ist die christologische Vermittlung der Schau Gottes: Für Paulus leuchtet den Glaubenden im Antlitz des auferstandenen Christus die Herrlichkeit Gottes auf (2 Kor 4,6; vgl. Angesicht / Schauen Gottes zuvor die komplexe Schriftargumentation des Paulus in 3,7 18, die einen Ausgangspunkt im strahlenden A. des Mose nach Ex 34,29f hat; vgl. Ex 33f). Weil Christus das Bild Gottes ( Ebenbild) ist, können sie das Leuchten des Ev. von der Herrlichkeit Christi sehen (vgl. ex negativo 2Kor 4,4). Gesehen mit den Augen des Glaubens strahlt nach Paulus in den Herzen der Glaubenden die Erkenntnis auf, dass der auferstandene Jesus Christus in einer so engen Gottesbeziehung und -verwandtschaft lebt, dass sein A. für immer Gottes Herrlichkeitsglanz widerspiegelt. Eine ausgearbeitete Theol. des pneumatischen Sehens (vgl. die vier Verben des Sehens im Joh: bl0pv; uevr0v; ue/omai; Zr/v), eine feinsinnige Ästhetik der christologischen Gottesoffenbarung, entwickelt Joh: Im Sehen Jesu lässt sich der Vater sehen (Joh 14,9). Der transzendente Gott, seine Herlichkeit voll Gnade und Wahrheit, wird ansichtig im inkarnierten Logos Jesus Christus (Joh 1,14). Der Weg des nachösterlichen Zum-Glauben-Kommens wird als Seh-Weg und Blinden-Heilung durchbuchstabiert (Joh 9,1 41). Joh 20,29 verurteilt gerade nicht das gläubige Sehen, sondern die Forderung eines manifesten Beweises für die Wirklichkeit des Auferstandenen. Sehen und schauen meinen im Corpus Johanneum ein ganzheitliches, die äußere und innere Wahrnehmung umgreifendes, auf eine Sinngestalt bezogenes Erfassen. Auch das Sprach- und Motivfeld der Epiphanie (Epif/neia; Epifa2nv) steht in einem engen Zusammenhang mit der Schau Gottes (Tit 2,11; 3,4 u. a.; vgl. Lk 1,79). I. F. Hartenstein, Das Angesicht Gottes in Exodus 32 34, in: M. Köckert/E. Blum (Hg.), Gottes Volk am Sinai, Gütersloh 2001, ; ders., Das Angesicht Gottes, Tübingen 2006; B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen-Vluyn 2003; J.-M. Vincent, Das Auge hört, Neukirchen-Vluyn II. C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit, Würzburg 1996; O. Schwankl, Licht und Finsternis, Freiburg Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT)
103 Angst / Furcht / Mut Angst / Furcht / Mut 91 Angst / Furcht / Mut (A./F./M.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) I. AT: 1. Die Begriffe für A. und F. gehen im Hebr. zurück auf die Wurzeln jr{ ( [sich] fürchten/ scheuen ), grd ( zittern, beben ), pgd ( beben, sich fürchten ), rrr ( zusammenschnüren, einengen ) gtt ( mutlos/erschrocken sein ), gur ( zurückschrecken, sich fürchten ), hmm ( verwirren, in Schrecken versetzen ), Subst. {ema ( Schrecken ). M. (gzq = stark/fest sein ; {mr = stark sein ; g e bura = Kraft, kriegerische Tüchtigkeit ) erscheint bes. im Kampf und Krieg (1 Sam 14,1 14; 2 Sam 23,8 23; Ijob 39,19 25; 1/ 2 Makk), er zeigt sich allgemein als Entschlossenheit, Furchtlosigkeit und Zuversicht, die vor allem auf dem Vertrauen zu Jhwh beruht (Jos 1,6 9; 1 Sam 17,37.45; Jes 43,1 5; Jer 1, ). I. 2. A. und F. haben im AT konkrete Auslöser wie Feinde und physische Bedrohung (Gen 32,8.12; Ri 7,3; 1 Sam 17,11; Am 3,8), die Gewalt eines Mächtigen (Sir 9,13; Ehrfurcht), die Vollstreckung exemplarischer Strafen (Dtn 13,11f; 17,12f; 19,18 20), das Numinose und Unheimliche (Gen 28,17; Ijob 4,12 17; Ps 91,5f) oder ein schlechtes Gewissen (Gen 3,10f; 43,18). Sie äußern sich als körperliche Schreckens- oder panische Fluchtreaktion (Ex 15,14 16; Jos 5,1; 2 Kön 7,6f.15) und als Mutlosigkeit (Num 13,31 14,4). An Gott wendet sich der Mensch mit seiner A. in der lit. Gattung Klagelied des Einzelnen (Ps 55,1 9). Darauf antwortet im Rahmen der kultischen Dramaturgie das priesterliche oder prophetische Heilsorakel Fürchte dich nicht (Jes 43,1; Klgl 3,57). F. vor/von Jhwh überfällt dagegen seine Feinde, so der panikartige Gottesschrecken als Topos in der Überlieferung von den Jhwh-Kriegen (Gen 35,5; Ex 23,27f; Jos 10,10; Ri 4,15; 1 Sam 7,10; 14,15; 2 Kön 7,6f) und grundsätzlich F. und Schrecken vor Israel als dem Volk Jhwhs (Ex 15,13 16; Dtn 2,25; 11,25; analog für das Verhältnis der Tierwelt zum Menschen Gen 9,2). Generell setzt Dominanz in der Antike die Fähigkeit voraus, F. zu erwecken, d. h. das Potenzial, die eigenen Ansprüche und die eigene Ehre erfolgreich zu verteidigen und sich bei Freund und Feind Respekt zu verschaffen. A. im Sinne einer von konkreten Anlässen abgelösten Welt- oder Lebensangst ist dem AT dagegen Abb. 13: Umzeichnung der Motive auf einem Tonbecher aus dem späten 1. Jh. v. Chr.: Symbole der Vergänglichkeit des Lebens und der Festfreude als Mahnung, das kurze Leben zu genießen; die beiden buckeligen Zwerge mit den riesenhaften Phalloi sind wahrscheinlich apotropäisch gemeint; Inschrift: Erwirb [und] nutze es. Quelle: K. Vierneisel (Hg.), Römisches im Antikenmuseum, Berlin 1978, S fremd. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Tod, Naturgewalten und Schicksal artikuliert sich nicht als A., sondern als Schicksalsergebenheit, und resultiert im Allgemeinen in einer starken Augenblicksbezogenheit (vgl. Koh 9,1 10; Jes 22,13; Weish 2,1 9; Mt 6,34; Eur. Alk , vgl. Abb. 13). II. NT: 1. Die am häufigsten verwendeten Vokabeln für A. und F. sind f3bow ( A., F. )/fob0omai ( sich fürchten ) und Komposita, tar/ssomai ( verwirrt/bestürzt/erschreckt werden ), meri mn/v ( [angstvoll] besorgt sein ). Der Stamm fob- bezeichnet sowohl die ängstlich-panische Reaktion auf eine aktuelle Bedrohung wie auch die bloße Befürchtung und Vorstellung von etwas Schlechtem. Die Vokabeln für M. sind Bf3bvw ( furchtlos ), uarr0v oder uars0v ( mutig/ kühn/zuversichtlich sein ), u/rsow ( M., Kühnheit, Zuversicht ), parrhs2a ( Freimut, Zuversicht ), tolm/v ( wagen, sich getrauen, den M. haben ). II. 2. Die Philos. schränkt die Bedeutung von A. und F. tendenziell auf die bloße Befürchtung und Vorstellung von etwas Schlechtem ein (Aristot. NE 3,6,2, 1115a; rhet. 2,5,1, 1382a; Philo Abr. 14). Sie lobt Ehrfurcht vor Autoritäten und F. vor Schande (Aristot. NE 3,6,3, 1115a), aber die meiste F. gilt als unbegründet und soll durch die Aufklärung über das wahre Gut besiegt werden. Während in der Rhetorik und der Tragödie
104 Apokalyptik / Apokalypse 92 Apokalyptik / Apokalypse ( Furcht und Mitleid ) die Affekte ( Leidenschaft) gezielt geweckt und dienstbar gemacht werden, ist die Überwindung der A. als Grundbefindlichkeit des Lebens, die auf der menschlichen Todesverfallenheit (Lucr. 3,37 40) und der Unberechenbarkeit des Schicksals beruht, das große Thema der Philos. in der hell.-röm. Epoche ( Weltbild). Die Stoiker wollen ihr durch die innere Distanzierung von allen äußeren Gütern den Boden entziehen (Epikt., Dissertationes 2,13; 4,1, 81 85; 4,7), die Epikureer raten zum trotzig-unbeschwerten Genuss des Augenblicks, da die F. vor dem Tod und den Göttern auf einer bloßen Illusion beruhe (Lucr. 1, ; 5, ; 6,50 83). Im hell. Judentum wird die Disposition zur grundlos-vernunftwidrigen F. mit dem Götzendienst in Zusammenhang gebracht (Weish 17), im NT kennzeichnet sie die Existenz in der sünden- und todverfallenen Welt; die Glaubenden werden davon durch Christus erlöst (Röm 8,19 22; Hebr 2,14f). Meist allerdings ist A. im NT durch konkrete Anlässe wie die Bedrohung durch Naturgewalten (Mt 14,30; Mk 4,40par.; Lk 21,25f) oder den Tod (Mk 14,33 36par.) ausgelöst, doch auch die ängstliche Sorge um das tägliche Überleben (Mt 6,25 34par.) spielt eine Rolle. F. kann im Gegensatz zum Vertrauen auf Gott stehen (Mk 4,40par.; Lk 21,28), aber auch Ausdruck berechtigter Bedenken sein (Lk 14,31 32; Apg 27,9f). Mit dem sozialen Leben hat die F. vor Strafe (Mt 25,24f.par.; Röm 13,3 5; 1 Joh 4,18) und der negativen Reaktion anderer (Lk 20,19; Joh 7,13; 9,22; 19,38; Gal 2,12) zu tun. Theol. bes. signifikant sind das Entsetzen/Erschrecken angesichts numinoser Erscheinungen, göttlicher Epiphanien und Wundertaten ( Ehrfurcht) und die A. in Situationen der Verfolgung auf Grund des Glaubens, speziell in den apokalyptischen Drangsalen. Dieser wird sowohl das Fürchte dich nicht des Glaubens wie auch die viel berechtigtere F. vor dem Gericht Gottes entgegengesetzt (Mt 10,26 33par.; Mk 13,11par.; Offb 2,10). II. 3. Kriegerischer M. wird im NT nur metaphorisch thematisiert (Eph 6,10 17). Selbstüberschätzung (Mk 14,29 31) und Frechheit (2 Petr 2,10; Jud 12) sind falscher M., rechter M. ist identisch mit dem Vertrauen auf Gott und dem Bekenntnis zu ihm (Lk 1,74; Joh 16,33; Apg 9,27; 27,22 25; 2 Tim 1,7), nur er bewirkt Standhaftigkeit ( Geduld). Da die A. durch das Gottvertrauen und nicht durch die eigene Stärke besiegt wird, fehlt im NT der für den Tapferkeitsdiskurs der griech. Philos. zentrale Begriff Bndre2a ( Mannhaftigkeit/Tapferkeit ; vgl. Plat. rep. 427e als Ursprung der Lehre von den vier Kardinaltugenden der Weisheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit; im NT nur 1 Kor 16,13 Bndr2yomai mannhaft/tapfer sein ; vgl. dagegen die intensive Rezeption des F.-Affekt- und Tugend-Tapferkeitsdiskurses als Teil des Vernunft- Leidenschaft-Diskurses unter Gleichsetzung von Vernunft und Gottesfurcht in 4Makk 1,3 6; 5,23; 7,23). I. J. A. Loader, Trembling, the best of being human : OTE 14 (2001) ; K. Seybold, In der Angst noch Hoffnung, in: ders., Studien zur Psalmenauslegung, Stuttgart u. a. 1998, II. C. Böhme, Ängste und Hoffnungen, in: P. Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, ; A. Kneppe, Metus temporum, Stuttgart 1994, 9 52; M. Matjaz, Furcht und Gotteserfahrung, Würzburg, 1999; T. Vogt, Angst und Identität im Markusevangelium, Göttingen Klaus Neumann Apokalyptik (A.) / Apokalypse ( Dachartikel: Eschatologie) Vorbemerkung: Der Begriff A. stammt von griech. Bpok/lz{iw, Enthüllung, Offenbarung und bezeichnet bestimmte religions- und geistesgesch. Phänomene, die ihren lit. Niederschlag in Apokalypsen finden. Die Apokalypse ist eine lit. Gattung, die meist in einem narrativen Rahmen eine Offenbarung schildert, die ein jenseitiges Wesen einem menschlichen Empfänger zuteil werden lässt und eine transzendente, neue Realität vermittelt, die sowohl überzeitlich ist, weil sie eine endzeitliche Rettung und Erlösung beinhaltet, als auch überräumlich, da eine andere, übernatürliche Welt hereinbricht. Als geistesgesch. Phänomen markiert die A. eine völlig geänderte Auffassung vom Lauf der Geschichte und dem erwarteten Ergehen der Welt und des Individuums ( Weltbild). I. AT: 1. In weiten Teilen der hebr. Bibel richtet sich die Zukunftshoffnung auf ein langes Leben, Erfolg und Nachkommenschaft. Auch die
105 Apokalyptik / Apokalypse 93 Prophetie sah in ihren utopischen Zukunftsvisionen ( Eschatologie) innerweltliche Veränderungen bzw. Verbesserungen dieser Welt voraus, die sich z. B. auf einen neuen David (Jes 9; 11; Messias), einen neuen Exodus (Jes 35), einen neuen Bund (Jer 31,31 34) bezogen oder in Bildern eines friedlichen Lebens (Jes 11,6 9; 65,25; Mi 4,4) formulierten. Dagegen ist es für die A. charakteristisch, dass in einem radikalen Bruch die gegenwärtige Weltzeit (}olam hazzm) und ihre Königreiche in katastrophenhaften Ereignissen zu einem völligen Ende geführt werden, woraufhin die bisher verborgene und dann nicht mehr aufzuhaltende Herrschaft Gottes im neuen Äon (}olam habba{) zum Vorschein tritt (vgl. z. B. Dan 2,28 49). In der A. kommt die Erlösung nicht innerhalb der Geschichte und nicht durch menschliches Handeln (vgl. Dan 2,34.45; 8,25) zu Stande, sondern nur durch einen souveränen Einbruch Gottes in diese Weltzeit, der einen grundlegenden Umsturz aller Verhältnisse bewirkt (z. B. Dan 7, ). Die Hoffnung des Einzelnen richtet sich auf ein Leben in ewiger Herrlichkeit zusammen mit den Engeln nach einem End-Gericht Gottes, das die Treuen belohnt und die Bösen bestraft (z. B. Dan 12,1 3). Der gesch. Hintergrund dieser Vorstellungen dürfte in der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. zu suchen sein: Angesichts der polit., kulturellen, gesellschaftlichen und rel. Auseinandersetzung der jüd. Tradition mit der hell. Oberherrschaft kam es zu erheblichen Spannungen innerhalb der jüd. Gemeinde, die das bisherige Selbstverständnis, die Berufung auf die Heilsgeschichte und die Tora, sehr in Frage stellte. Der Hellenisierungsdruck wirkte auch auf andere Kulturen, in denen sich ebenfalls strukturanaloge Erwartungen formulierten. Angesichts der militärischen wie kulturellen Dominanz der seleuk. Herrschaft (v. a. seit Antiochus III.) konnte sich eine innergesch. Eschatologie (ein Handeln Gottes in naher Zukunft) nicht mehr halten, sodass sich eine apokalyptische Eschatologie entwickelte, die ein analogieloses, völlig neues Handeln Gottes am Ende der Tage (Dan 2,28) erwartete. Ein zweiter Schub apokalyptischer Lit. entstand im Gefolge des jüd. Aufstands gegen die röm. Besatzung (66 70 n. Chr.). Das apokalyptische Gedankengut ist weder eine Fortführung der Prophetie unter anderen Vorzeichen noch eine Weiterentwicklung des weisheitlichen Denkens im Sinne einer Garantie des Tun- Ergehen-Zusammenhangs über den Tod hinaus, sondern sicher gespeist aus beiden geistesgesch. Strömungen ein gedanklicher Neuansatz, der auch eigene lit. Formen hervorbringt bzw. andere als die bisherigen Redeweisen verwendet. Charakteristisch für die A. ist das plötzliche Auftreten der Pseudepigraphie: Die Autoren schreiben unter Pseudonymen, wobei sie an die großen und geheimnisvollen Gestalten der Frühzeit anknüpfen: an Henoch, der entrückt wurde (Gen 5,21 24) und von daher als Experte für die Geheimnisse des Himmels galt, ähnlich an Elija, Danel/ Daniel (Onkel des Henoch, vgl. Jub 4,20 21; Ez 28,3), Noach (vgl. Ez 14,14.20), aber auch an die Propheten, Mose oder Esra. Diese Ahnherren der eschatologischen Apokalypsen formulieren nach der Fiktion der mit ihrem Namen versehenen Schriften in ferner Vergangenheit Zukunftsaussagen, die mit der unmittelbaren Vergangenheit oder der bedrängenden Gegenwart kompatibel sind: Sie formulieren vaticinia ex eventu (= Weissagungen vom Ereignis her). Diese lit. Form soll nicht nur mit der Autorität der vorgeblichen Autoren die Glaubwürdigkeit der Schriften stützen, sondern sie dient auch dazu, die neue Erwartung eines analogielosen Eingreifens Gottes bereits in den nachvollziehbaren Ereignissen der Vergangenheit zu verankern. I. 2. Bei den apokalyptischen Texten sind mindestens drei Bedeutungsebenen zu unterscheiden: (a) die mythologische Ebene der Bildsprache, die sich sowohl aus bibl. Quellen als auch aus mythischrel. Material der Umwelt speisen kann, (b) die hist. Ebene, insofern sich die polit. Geschichte der Entstehungszeit in den Texten widerspiegelt, (c) die theol.-pragmatische Ebene, die das ethische und paränetische Anliegen der Texte vermittelt. Im bibl. Bereich ist es vor allem das Buch Daniel, das stark apokalyptische Züge trägt. Sinnvoller als die traditionelle Bezeichnung Jesaja-Apokalypse für Jes ist die Titulierung als eschatologische, schriftgelehrte Prophetie liturgischer Prägung. Insofern ist festzuhalten, dass (auch im Blick auf das NT) vergleichsweise sehr wenig apokalyptische Lit. in den Kanon aufgenommen wurde. Außerhalb des Kanons, aber meist stark
106 94 Apokalyptik / Apokalypse auf bibl. Texte bezogen, gibt es sowohl im frühjüd. als auch im frühchristl. Bereich eine Fülle apokalyptischer Lit. Nicht immer ist eindeutig erkennbar, ob es sich um eine Schrift jüd. oder christl. Herkunft handelt, oft sind jüd. Schriften christl. rezipiert und erweitert worden. Insofern sind die folgenden Zuordnungsversuche, bei denen keine Vollständigkeit angestrebt ist, nicht unproblematisch: Frühjüd. Apokalypsen: das Jubiläenbuch (Jub; eine stark überarbeitete Nacherzählung von Gen bis Ex 20), das vierte Esrabuch (4Esr), das syrische Baruchbuch (2Bar), die Apokalypse des Abraham (ApkAbr), das äth. Henochbuch (1Hen), das slawische Henochbuch (2Hen), die hebr. Elija- Apokalypse (ApkEl; Sefer Eliahu), die Himmelfahrt des Mose (AssMos). Frühchristl. Apokalypsen (oft christl. Bearbeitungen jüd. Schriften): der Hirt des Hermas (Herm); die griech. Esra-Apokalypse (ApkEsr/4Esr), die griech. Baruch-Apokalypse (3Bar), 4. Baruch-Apokalypse (4Bar/Paralipomena Jeremiae); 5. Esra (christl. Apokalypse, auch gezählt als Kap. 1 2 von 4Esr), Paulus-Apokalypse (ApkPl[griech.]); Offenbarung des Petrus (äth.); die kopt.-gnost. Petrus-Apokalypse (ApkPetr [kopt]); die Elija-Apokalypse (ApkEl[kopt]); die Himmelfahrt des Jesaja (AscJes[äth.; griech. Fragmente]). II. NT: 1. Im NT finden sich (bis auf Offb) wenige zentrale Passagen mit apokalyptischem Gedankengut: 1 Thess 4,13 18 (kosmologische Begleiterscheinungen der allgemeinen Totenauferstehung: Entrückung in die Luft); 2 Thess 2,1 12 (Warnung vor der bösen Macht des Satans und der Verführung zur Ungerechtigkeit); 1 Kor 15,23 28 (die Vernichtung aller Macht, Gewalt und Kraft am Ende ). Insbes. Mk 13 schildert die Katastrophen, die dem Ende vorausgehen: Kriege, Erdbeben, Hungersnöte, aber auch Verfolgung der Nachfolger Jesu und das Auftreten falscher Messiasse. Die Zeit vor dem Ende wird hier bes. als Zeit des Zeugnisses, auch des Blutzeugnisses (Martyriums) bezeichnet. Der Abbruch der Weltzeit wird durch kosmische Umstürze (Verfinsterung von Sonne und Mond, Fallen der Sterne vom Himmel; Gestirne) markiert. Dies sind die Zeichen, die dem Kommen Gottes zum Gericht vorausgehen (vgl. Jes 13,10; 34,4; Joël 2,10; 3,4; 4,15 16). Die Folgerung aus diesen Ankündigungen ist die Ermahnung zur Wachsamkeit. Dass den Tag und die Stunde des Ereignisses nicht einmal der Sohn kennt (Mk 13,32), soll ausdrücklich davor warnen, die verbleibende wichtige Zeit mit unsinnigen Endzeitberechnungen zu verschwenden. Wer den Zeitpunkt der Parusie berechnen will, zeigt, dass er den überraschenden Charakter des Endes und die Souveränität Gottes nicht verstanden hat. Gefordert ist vielmehr stete Wachsamkeit (Mk 13,33 37). II. 2. Apokalypse/Offenbarung des Johannes. Das letzte Buch des NT hat seinen Titel von seinem ersten Vers, der das Buch als Offenbarung Jesu Christi, die Johannes zuteil geworden ist, qualifiziert. Von hier leitet sich auch die Gattungsbezeichnung ab. Der Verfasser hieß vermutlich wirklich Johannes, insofern ist Offb (untypisch für Apokalypsen) keine pseudepigraphische Schrift. Von der späteren Tradition wurde er in unzutreffender Weise mit dem Zebedaiden Johannes (Mk 1,19par.), der auch der Evangelist sein soll, identifiziert. Johannes nennt sich zwar nicht so, tritt aber als ein echter Prophet auf, dessen Autorität aus unmittelbarer göttlicher Berufung stammt (Offb 1, ). Vermutlich war er, da er mit frühjüd. apokalyptischer Lit. vertraut scheint, Judenchrist und wirkte in Kleinasien. Sein Buch schrieb er in der Verbannung auf der Insel Patmos, wahrscheinlich gegen Ende der Regierungszeit des röm. Kaisers Domitian (81 96 n. Chr.). Domitian forderte überall die göttliche Verehrung des Kaisers als Herr und Gott ein, was zu schweren Verfolgungen der Christen führte. Diese Situation der Bedrängnis ist die treibende Kraft des Buches. Von seinem Rahmen her (Offb 1,1 3; 22,21) gibt der Text in Anlehnung an die schematischen Formeln der Paulusbriefe vor, ein Brief zu sein. Doch die folgende Berufungsvision (Offb 1,9 20) rückt den Text wieder in die Nähe der Prophetie und qualifiziert die Botschaft als aus unmittelbarer göttlicher Quelle stammend. Die Sendschreiben in Offb 2,1 3,22 ermutigen sieben Gemeinden in Kleinasien mit lobenden und tadelnden Worten. Der apokalyptische Hauptteil (Offb 4,1 22,5) reiht Visionen über Christus, das Gotteslamm sowie über die endzeitliche Drangsal aneinander. Dabei geht es grundsätzlich nicht um Schreckensbilder, sondern um Trost und Ermutigung der bedrängten Gemeinden. Die Standhaftigkeit der Christinnen und
107 Apostel / Jünger 95 Christen wird sich auszahlen (vgl. z. B. Offb 6,9 11; 7,4 17). Am Ende steht unter Rückgriff auf einschlägige Jesaja-Passagen (vgl. Jes 65,17; 25,8; 52,1 u. a.) die Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde sowie des himmlischen Jerusalem, in dem die Gläubigen zur Vollendung gelangen werden (Offb 21,1 22,5). Als polit. Theol. in antiker Fassung wird in Offb die zeitgesch. Situation der Christenverfolgung als endzeitlicher Kampf der Guten gegen die Bösen interpretiert. Dabei wird die gesch. Macht des röm. Kaisers mit angeblich göttlicher Legitimation als nichtig und widergöttlich entlarvt. In apokalyptischer Manier wird die Gegenwart subversiv auf den Kopf gestellt, wobei jedoch das künftige Heil nicht anders vorstellbar ist als durch die Vernichtung aller widergöttlichen irdischen Mächte. Ziel des Buches ist die Ermutigung, stets auf Gott und Christus zu vertrauen Gott wird gegen alle Erfahrung als nahe vorgestellt, die Wiederkunft Christi in Bälde in Aussicht gestellt (Offb 22, ; Parusie). Gott wird den Sieg sicher in Händen halten und seine Herrschaft über alle Welt aufrichten. Der abschließende Metatext (Offb 22,6 21) betont die Zuverlässigkeit des Geschriebenen und kann auch als Schlussstein der christl. Bibel gelesen werden: Die Textsicherungsformel (Offb 22,18f) ergibt als Wort Christi mehr Aussagekraft, wenn man es nicht nur auf Offb, sondern auf die gesamte Heilige Schrift ( die Worte der Prophetie dieses Buches ) bezieht. Dass die Offenbarung (jetzt im breitesten Sinn des Wortes) schriftlich und unversiegelt (Offb 22,10; anders als in Dan 12,4.9!) vorliegt, macht sie über alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg allen Menschen zugänglich, sodass sich der abschließende Segenswunsch ( Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen ) auf alle Zeiten ausdehnen lässt. I. A. Bedenbender, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai, Berlin 2000; D. E. Gowan, Eschatology in the Old Testament, Edinburgh 2000; P. D. Hanson, Old Testament Apocalyptic, Nashville 1987; D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen II. J. J. Collins, The Apocalyptic Imagination, Grand Rapids ; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, Regensburg 1997; B. J. Malina, Die Offenbarung des Johannes, Stuttgart 2002; G. S. Oegema, Zwischen Hoffnung und Gericht, Neukirchen-Vluyn 1999; ders., Apokalypsen, Gütersloh Thomas Hieke Apostel / Jünger (A./J.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution). Apostel / Jünger I. AT: 1. 2 Chr 17,7 9 bezeugt wandernde Gesetzeslehrer, die (laut Kontext vom König, nach der Datierung des Texts aber erst in spätnachexil. Zeit) zum Unterweisen des Volks entsandt wurden, doch scheinen eher die atl. Abgesandten Gottes im Kontext prophetischer Beauftragung (Mose [Ps 105,26], Gideon [Ri 6,14], Propheten [Jes 6,8; 2 Sam 24,13; Jer 7,25; 25,4; 26,4f; 44,4; 2 Kön 17,13]) als Vorläufer des christl. Apostels (= von griech. Bpost0llein entsenden ) in Frage zu kommen. In die Prophetie weist auch der Begriff des J., des Schülers eines Propheten (limmud) oder Angehörigen eines Prophetenkreises (b e ne hann e bi{im), der mit seinem Lehrer/ Meister das Leben teilte, ihm diente und ihm folgte, aber nach 2 Kön 4,1ff auch eine Familie haben konnte. I. 2. Derartige J.-Kreise sind belegt um Samuel (1 Sam 19,20), Elija (1 Kön 19,19ff), Elischa (2 Kön 2; 4,38; 6,1; 9) und Jesaja (Jes 8,16f). Die J. hörten die Weisung ihres Lehrers und gaben sie an Ratsuchende weiter (Jes 50,4f). Die Zusammenkünfte und Mahlzeiten fanden im Haus, wohl dem des Meisters, statt (2 Kön 6,1; 1 Sam 19,18f). Die J. führten Aufträge aus (2 Kön 9,1), bewahrten die Aussprüche und Lehren ihres Propheten und wurden zu Überlieferern und Interpretatoren seiner Botschaft, sowie zu Trägern seiner Tradition (Jes 8,16). Indem sie seine Worte sammelten und aufschrieben, lieferten sie die Bausteine für die Entstehung so mancher Prophetenbücher (Hos, Am, Jes, Mi, Ez). Die J. entschieden, was sie aufschrieben und was nicht, sodass sie bereits die erste Auswahl und Deutung vornahmen. Die königskritischen Propheten und ihre J. wurden wohl von lokal-ländlichen Oberschichtskreisen (im AT Älteste genannt) oder einflussreichen Familien in der Hauptstadt selber (Jer 26,24) unterstützt. Im Exil fanden weitere Zusammenkünfte in den Häusern der anerkannten Propheten (= deren Prophezeiungen eingetreten waren) statt (Ez 8,1; 20,1). J. eines Prophetenlehrers wurde man, weil man von ihm dazu aufgefordert wurde, nicht weil man sich selbst anbot. Der Meister designierte seinen Nachfolger
108 96 (in Absprache mit Gott) selber (1 Kön 19,16. 19ff.). II. NT: 1. Das von manuanein abgeleitete Substantiv mauht1w (ca. 264 Belege nur in Evv. und Apg, meist im Pl., einmal fem. mau1tria, Apg 9,36) bezeichnet im profanen Gebrauch den Schüler oder Lehrling, die gebräuchliche Übersetzung J. zeigt an, dass im NT der alle anderen Bindungen relativierende, persönliche Anschluss an Jesu Jüngerschaft entscheidend ist ( Nachfolge). J. Jesu sind in den Synopt. meist die ihn auf seinen Wanderungen begleitenden Männer und Frauen (Mt 12,49f; Lk 8,1 3; 15,40f), eine Gruppe, die nicht auf die zwölf J./A. zu beschränken ist, diese jedoch umfasst. Doch auch ihm nur zeitweise zuhörende Anhänger können als J. bezeichnet werden (Lk 6,17; 19,37; Joh 6,60.66); die Apg nennt alle Mitglieder der Gemeinden J. (6,1f; 9, u. a.), in der joh. Tradition steht der J. für jeden Christen (Joh 8,31; 13,35; 15,8) und Mt 28,19 fordert, alle Völker zu J. zu machen (mauhte4v). Demgegenüber bezeichnet das vom Verb Bpost0llein ( senden ) abgeleitete Wort Bp3stolow ( A. ) im christl.-jüd. Sprachgebrauch immer Personen mit einem bes. Sendungsauftrag (vgl. die Abstraktbildung Bpostol1 = Apostelamt ), was im Griech. ansonsten so nicht nachgewiesen ist. Während Mt und Mk die A. mit den Zwölfen identifizieren (Mk 6,7.30; Mt 10,2), umfasst der A.-Begriff in der pln. Lit. einen weiteren Personenkreis. Der Sprachgebrauch des Lk ist nicht konsistent, einerseits sind A. allein die zwölf A./J. (Lk 6,13 16; 9,1.10), die als Begleiter des irdischen Jesus und Zeugen der Auferstehung (vgl. Apg 1,15 26 zur Nachwahl des Matthias für Judas) als Gründungsautorität der Urgemeinde in Jerusalem ( Kirche) fungieren und deren Aufgaben neben der Kirchenleitung (Apg 4,35.37; 6,6) innergemeindliche Lehre und Gebet (2,42; 6,4) und die von Wundern und Zeichen begleitete (2,43; 5,12.15f) Verkündigung der Auferstehung Jesu an Außenstehende sind (1,22; 4,33; 10,41); eine größere Gruppe von A. setzen Apg 14,4.14; Lk 11,49, evtl. Lk 17,1.5; 24,9f voraus. II. 2. Der hist. Jesus selbst war zunächst Anhänger des Täufers gewesen. Aus dem Jüngerkreis des Johannes (Mk 1,5; Mt 11,2; 14,12; Apg 18,25; 19,1 6) stammten nach Joh 1,35 40 auch die ersten J., die Jesus um sich scharte, nachdem er sich (bei Apostel / Jünger oder nach der Taufe) seiner Bestimmung bewusst geworden war, als prophetisches Sprachrohr Gottes sein Leben als wandernder Umkehrprediger der Ansage des bevorstehenden Reiches Gottes ( Herrschaft) zu widmen. Jüngerschaft bedeutete bei Jesus Anteilhabe an diesem Auftrag, daher hatte die Berufung zum J. oft einen radikalen Bruch mit dem sesshaften Leben, mit Familie und Beruf zur Folge (Mk 1,16 20; 2,13f; QLk 9,57 60; 12,22 31; 14,26) und erforderte die Bereitschaft, auch feindliche Reaktionen auf diese Botschaft bis hin zum Martyrium zu ertragen (Mk 8,34 38; Mk 13,9 13; QLk 6,22f; 8,4 6; 12,11f.51 53; 14,27; 17,33). Aus dem Kreis der ihn begleitenden J. wählte Jesus zwölf aus, die das erneuerte Israel repräsentierten und augenfällig machten, dass Jesu Sendung an das Zwölfstämmevolk Israel gerichtet war (Mk 3,13 19). Den Zwölfen wird in dem Logion Mt 19,28f.par. für die Heilszukunft eine Inthronisation zusammen mit Jesus versprochen und die Aufgabe zugewiesen, die zwölf Stämme Israels zu richten. Sie übernehmen damit eine Aufgabe, die in jüd. Eschatologie dem Messias zukam (PsSal 17, ). Jesus demokratisierte den Messiasgedanken. Dieser Gruppenmessianismus war nicht auf die Zukunft beschränkt, sondern äußerte sich darin, dass Jesus seine J. an seinem Wundercharisma und seiner vollmächtigen Verkündung teilhaben ließ. Er sandte sie in demonstrativer Besitz- und Schutzlosigkeit paarweise aus, um durch sie die Königsherrschaft Gottes in Predigt, Dämonenaustreibungen, Heilungen und Tischgemeinschaften präsent werden zu lassen (Mk 3,14f; 6,7 13; Lk 10,2 16par., in Lk 10,1 20 ausgestaltet zur Aussendung von 72 J.). II. 3. Die pln. Gemeinden kennen A. als Gesandte der Gemeinden mit spezifischem Auftrag (Phil 2,25; 2 Kor 8,23). Meist jedoch ist A. Bezeichnung für diejenigen, die sich als Gesandte Jesu Christi der Evangeliumsverkündigung widmen. Dieser Kreis ist größer als die Zwölf (vgl. 1 Kor 15,5.7), namentlich genannt werden neben Paulus selbst der Herrenbruder Jakobus (Gal 1,19), Barnabas (1 Kor 9,5f) und das offenbar zusammen missionierende Apostelpaar (und Ehepaar?) Andronikus und Junia (Röm 16,7). Paulus gründet seinen Apostelstatus (Röm 1,1; 1 Kor 1,1; Gal 1,1) auf eine Erscheinung des Auferstandenen mit Beru-
109 Arbeit / Mühe Arbeit / Mühe 97 fung zur Mission unter den Heiden (1 Kor 9,1; 15,9 11; Gal 1,12.15f) und betrachtet dies Apostolat unter den Heiden als dem petrinischen Apostolat der Beschnittenheit gleichwertig (Gal 2,8). Er musste sich jedoch zeitlebens mit konkurrierenden A. und Apostolatskonzeptionen auseinandersetzen, deren Charakter aufgrund der polemischen Darstellung des Paulus oft nicht sicher erkennbar ist ( Superapostel : 2 Kor 11,5; 12,11f; Pseudoapostel und Satans Diener, die sich als Apostel Christi verstellen: 2 Kor 11,13 15; die Auseinandersetzung prägt große Textkomplexe, vgl. Gal; 1 Kor 9; 2 Kor 2,14 7,16; 10 13; Phil 3). Charakteristisch für das pln. Verständnis sind Verzicht auf apostolische Unterhaltsrechte und Zurücknahme der eigenen Person (1 Kor 9,4 23; 2 Kor 11,7 12), die Erfüllung der Apostelrolle in persönlicher Schwachheit und unter Inkaufnahme von Leiden und entwürdigenden Umständen, was als Nachfolge des Gekreuzigten verstanden wird (1 Kor 4,9 13; 2 Kor 4; 6,3 10; 11,22 33; 12,1 13). I. K. Hruby, Die Stellung der jüdischen Gesetzeslehrer zur werdenden Kirche, in: ders., Aufsätze zum nachbiblischen Judentum und zum jüdischen Erbe der frühen Kirche, Berlin 1996, ; R. Lux, Die Weisen Israels, Leipzig II. G. Klein, Die zwölf Apostel, Göttingen 1961; M. Lohmeyer, Der Apostelbegriff im Neuen Testament, Stuttgart 1995; M. Tiwald, Wanderradikalismus, Frankfurt/M. 2002; G. Theißen, Gruppenmessianismus, in: ders., Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Arbeit / Mühe (A./M.) ( Dachartikel: Ethik) I. AT: 1. Im hebr. AT stehen für A. und M. die Begriffe m e la{ka ( A. ), } a boda ( A., Werk, Dienst ) und bes. }amal ( mühevolle Arbeit, Bemühung, Mühsal, Elend ). I. 2. Das atl. Verständnis der A. ist weitgehend durch die agrarische Prägung von Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt. Geldwirtschaft spielt dagegen eine nachgeordnete Rolle, die dem Verdacht des Ausbeuterischen ausgesetzt bleibt (Am 2,6; 5,12; Lev 23,35f; Dtn 23,20). Zu den Berufen wie (Klein-)Bauern und Hirten treten in Palästina die Handwerker (z. B. Bauleute, Bäcker, Töpfer etc.). Der Fernhandel hatte an der Küste und den Städten seinen Ort. Die Arbeit wurde weitgehend in Familien oder zunftähnlichen Verbänden organisiert; eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist bezeugt (Spr 31,10 31, Ethik, Sozialstatus). Das AT betrachtet die A. realistisch: Sie wird weder verklärt noch verachtet. (Sir 38,24 34 bildet eine Ausnahme, die sich durch die Rezeption hell. Vorstellungen erklären lässt.) Dies gilt nur für die A. von Freien, da Fron-A. als Entrechtung und Ausbeutung angesehen wird (Ex 1,11; 1 Sam 8,11 18; Jer 22,13 19). A. gehört zur menschlichen Existenz, ohne sie ist dem verfluchten Ackerboden (Gen 3,17) keine Frucht abzugewinnen. Durch menschliche A. wird die Schöpfung Gottes bewahrt und gehegt (Gen 2,15.18; in Gen 1,26.28 wird der Gedanke der Herrschaft, nicht der der A. betont). A. bestimmt den ganzen Tagesablauf (Ps 104,23; Ijob 7,4) und die gesamte Lebensspanne (Ps 90,10). Dass die A. keineswegs als sinnerschöpfend für das menschliche Leben angesehen und damit zum Selbstzweck wird ( Kult), ist atl. durch Gegenentwürfe und immanente theol. Kritik gewährleistet. Die gewichtigsten Gegenentwürfe zur körperlichen A. sind der Priester und der Weise. Beide widmen sich einer unproduktiven Tätigkeit, die dennoch gesellschaftlich relevant, angesehen und unbefragt ist. Während der Priester stellvertretend für das Volk am Heiligtum wirkt ( Kult), durch sakrale Akte für die Wohlfahrt des Volkes eintritt und ihm daher auch Anteil an der A. zukommt (Neh 10,37 40), ist das Torastudium des Weisen (Ps 1) eine individuelle Beschäftigung, die durch die Lehre kollektiv nutzbar wird. Beide Institutionen führen zwar nicht zu einer Abwertung der A., bewahren sie aber vor einer theologisierenden Überhöhung und die menschliche Existenz vor einer Beschränkung auf die Dimension der A. I. 3. Der Sabbat mit seinem strengen Verbot von A. jeglichen Geschöpfes (Ex 20,8 10; 23,12; Dtn 5,12 15) distanziert den Menschen von der A., die er ruhebringend unterbricht (Ex 34,21; 35,2) und setzt ihn in Erinnerung an Gottes Tun (Gen 2,2f; Ex 20,11) frei für die Hinwendung zu ihm. Die Nicht-A. am Sabbat ist Vergegenwärtigung der Fürsorge Gottes und Realisierung des von Gott dem Menschen und den Geschöpfen
110 98 Zugedachten. Auch wenn es hist. zweifelhaft ist, ob das Sabbatjahr (Lev 25,1 7; Dtn 15,1 11; Neh 10,32) jemals begangen wurde, so verweist es doch auf den Gedanken der völligen Hinordnung der Schöpfung auf Gott in der Ruhe von der A. Ein weiterer Aspekt immanenter theol. Kritik an einer Absolutsetzung der A. ist die Konzeption des Segens Gottes, der für das Gelingen menschlicher A. eine Notwendigkeit darstellt (Ps 90,17; 127,1f; Spr 10,22), da ohne ihn aller menschlicher Fleiß (Spr 6,6 11) vergeblich wäre. Auch im Rahmen der A. wird der Mensch auf Gott als Bezugspunkt und Ermöglichungsgrund verwiesen ( Schöpfung). Sie ist kein gottferner Ort. Theol. problematisch ist freilich die Zusage des Erfolgs der A. bei Toragehorsam (Dtn 28,1 14). Diese Theologisierung der A. in dem Sinne eines Erweises der Orthopraxie entspricht zwar durchaus theol. Konzepten der Weisheit, konnte aber auch zu einer kognitiven Dissonanz führen. Koh 3,13 trifft die Lebenswirklichkeit eher, wenn er es für eine Gabe Gottes erachtet, die Früchte der A. zu genießen. II. NT: 1. Im NT stehen für A. und M. bes. der Begriff k3pow ( A., M. ) sowie das Verb kopi/v ( müde werden, sich abmühen, sich plagen ). II. 2. In ntl. Zeit bleibt die Produktionsweise weitgehend unverändert; das NT zeigt jedoch ausdifferenziertere Berufsgruppen in Handel und Verwaltung. Jesus, der Bauhandwerker (Mk 6,3), und sein Kreis, Fischer und Zöllner, belegen das. Die Nennung der Tagelöhner (Mt 20,1 14) verweist auf die Folgen der wirtschaftlichen Verelendung von Kleinbauern und Handwerkern ( Armut). Für das NT ist die Haltung Jesu zur A. nicht prägend geworden. Während seines öffentlichen Auftretens hat er zweifelsfrei nicht in seinem Beruf gearbeitet und war mit seinem Kreis auf materielle Unterstützung anderer (Lk 8,3) angewiesen. Die von ihm praktizierte und geforderte Sorglosigkeit um materielle Dinge (Mt 6,25 34par.) ist im Kontext seiner Verkündigung der guten Herrschaft Gottes verortet. Sie betont den Vorrang der Gottesbeziehung des Menschen vor jeder Sorge um die Existenz und der damit einhergehenden A. (Lk 14,16 21). Auch wenn Jesus in seinen Gleichnissen immer wieder auf Bilder aus der agrarischen A. zurückgreift, so dürfte die dort behauptete Fahrlässigkeit (Mk Armut / Reichtum 4,3 8) kaum der Realität entsprochen haben. Die jesuanische Strategie der Umwertung macht auch vor der A. nicht halt. II. 3. Prägend für die ntl. Auffassung der A. wurde insbes. die Brieflit. Durch A. wird die eigene Existenz (1 Tim 6,6 8) und die der Bedürftigen in den Gemeinden (2 Kor 8,3 4; Eph 4,28) gesichert, sodass die A. zu einem Akt der Solidarität wird. Die Interpretation der Verkündigung des Ev. als A. (Mt 9,38; Mt 1,17) führt mit einhergehender Unterstützung durch die Gemeinden (1 Kor 9,6 14; Phil 4,15) zu einer Aufwertung der A., die noch durch das Ideal der finanziellen Unabhängigkeit der Verkündiger durch eigene A. (1 Thess 4,11 13; Eph 4,28) gestützt wird. In einer Gemeindeordnung des 2. Jh. wird die A. zum Ausweis des wahren Propheten (Did 12,3 5). A. und M. bringt Paulus in einen Zusammenhang mit der Evangeliumsverkündigung (1 Kor 4,2; 15,10; 2 Kor 6,4; 11,23 25). Die M. gilt dem Aufbau der Gemeinde (2 Kor 10,15) und geschieht in Hinblick auf Gott (Röm 16,6.12). Daher eignet ihr bes. Würde (1 Kor 16,16; 1 Thess 5,12). Einen eschatologischen Lohn für alle Mühen verspricht Offb 14,13. Als sich im 4. Jh. ausgehend von Ägypten der Brauch in christl. Gemeinden einbürgert, den Sabbat und den Sonntag als rel. Feiertage frei von A. zu praktizieren, wird dem staatlicherseits bald Einhalt geboten. I. V. Hirth, Der Wandel des Arbeitsverständnisses in Altisrael beim Übergang zur Königszeit: BN 55 (1990) 9 13; H. Irsigler, Umsonst ist es, daß ihr früh aufsteht : BN 37 (1987) 48 72; L. und W. Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung, München II. G. Agrell, Work, Toil and Sustenance, Lund 1976; I. Engel, Bebauen und bewahren, Hannover Rainer Kampling Armut / Reichtum (A./R.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution). Armut / Reichtum I. AT: 1. In A., Not (reš, } o ni) bzw. R., Vermögen (}ošær oft neben kabod, hon) war man geboren. In der ao. Gesellschaft, in der die Bewahrung des status quo das höchste Ziel war, wurden soziale Ungleichheiten (A./R.) als normal betrachtet.
111 Armut / Reichtum 99 I. 2. Arm-sein und reich-sein gehörten auch für das AT zum Gesellschaftsalltag dazu und waren akzeptiert, in der Weisheitslit. sogar als schöpfungsmäßig gegebene Ordnungen legitimiert (Spr 22,2; 29,13; Sir 11,14). Als problematisch galt jedoch, wenn jemand aufgrund unglückseliger Umstände (Unfall, Krankheit, Verletzung, Behinderung, Invalidität, Tod, Missernte, Enteignung, Betrug) seinen ererbten Status, also seinen Anteil an zugeteilten Gütern (welchen Ausmaßes auch immer), nicht bewahren konnte und arm wurde. Dies traf vor allem Witwen und Waisen, die durch den Tod des Ehemannes/Vaters ihre wirtschaftliche Absicherung verloren (2 Kön 4,1 7), aber auch Menschen, die durch Missernten, Enteignung oder unbezahlbare Steuerforderungen in die Schuldknechtschaft getrieben wurden (Lev 25,39 41; Dtn 15,12 18; Jer 34,8 22). Diesem Verarmen korrespondierte auf der anderen Seite das unrechtmäßige Reich-werden (Hos 12,9; Spr 23,4), bedeutete es doch eine Umverteilung der (zuvor anders) verteilten Güter, was nur auf Kosten eines anderen (durch Betrug, s. Am 8,4 6b; Mi 6,10f; durch Zwang, s. 1 Kön 21; Mi 2,1 3) geschehen konnte. Menschen, die von Zwischenhandel, Zoll, Pacht, Abgaben/Steuern, Pfand oder Zinsen profitierten (Am 5,11f; 2,6b.8), also mit Geld Geld machten, galten als gottlos, unehrenhaft und geldverliebt (Koh 5,9). Dies trug den handelstüchtigen Phöniziern einen denkbar schlechten Ruf ein (Ez 26 28). Um ökonomischen Erfolg, Ehr- und Statusgewinn gegen den Verdacht der Betrügerei abzusichern und zu legitimieren, schrieb man den Gewinn dem Glück oder dem Eingreifen Gottes (Gen 41,37ff; Ijob 42,10; 1 Kön 3,13) zu. Im solcherart strukturierten Gesellschaftssystem war es auch möglich, sich an eine höherrangige Person (als Patron) zu wenden, um durch diese Zugang zu einer anderen sozialen Schicht oder zu anderen Ressourcen zu erhalten (z. B. Bitte an Elischa als Patron 2 Kön 4,1 7). Auf der Grundlage der Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen ( Ethik, Weisheit) sieht die Weisheitslit. A. (hier: Verarmung und Statusverlust) als Folge von Faulheit oder Verschwendung (Spr 6,9 11; 10,4f; 21,17.20; 23,20f), bzw. R. (hier: Statuserhalt, keinesfalls Bereicherung!) als Folge von gutem Verhalten gegenüber Gott und Menschen (Spr 10,4; 23,4; 28,20), Weisheit und Einsicht (Spr 3,16; 8,18) oder als Gabe Gottes (Koh 5,18; 6,2). Die Kritik durch die Empirie, angekündigt durch Ijob, jedoch erst ausgeführt durch Koh, zieht diesen traditionellen Zusammenhang in Zweifel (Koh 5,9 6,12; 9,11). Entgegen der höfischen Weisheit trug die prophetische Lit. der Situation Rechnung, dass Menschen seit der Königszeit verstärkt verarmten und von Elite und König (Jer 21,11 14; 22,13 17), entgegen der eigentlichen Aufgabe des Schutzes der Armen (Ps 72, ), unterdrückt und ausgebeutet wurden ( Sozialstatus). Sie fordern daher, dass das Recht der Armen (}ani/}anaw), gering Begüterten (dal) und Notleidenden ({æbjon, raš, misken) geachtet wird (Am 2,6f; 3,9 15; 5,7 12; Jes 5,8 10; 10,2; Hos 12,8f; Mi 3, ; 2,1 3; Jer 5,26 28; 17,11; Ijob 34,28f; Sir 4,1f). An einen sozialen Ausgleich im Sinn einer allen gleich zuzuweisenden Güterverteilung ist nicht gedacht, auch wenn die soziale Gesetzgebung des Dtn (Dtn 16,18 20: Schutz des Armen vor Gericht; Dtn 24,14f: Schutz vor Ausbeutung; Dtn 23,20f: Zinsverbot; Dtn 24, b: Pfandrechtbeschränkung, deren Notwendigkeit Ostrakon 1 von Mcrad Gbšavyahu [7. Jh. v. Chr.; Renz/Röllig, Inschriften I.1, ] bezeugt) die größten Missstände beheben wollte. Schuldenerlasse und Jobeljahrgesetze waren eher Programm, kaum Realität (Ex 21,2; Lev 25,39 41; Dtn 15,1 18 vgl. Jes 61,1 3; Jer 34,8 22; Neh 5), sodass sich die sozialen Probleme in der nachexil. Zeit (Neh 5; Sach 7,10; Mal 3,5; drastisch geschildert in Ijob 24, ), verschärft durch die Rückkehr der kapitalstarken (Esra 2,64 69) Heimkehrer aus dem Exil und die pers. Finanzpolitik, nahezu ungehindert zuspitzen konnten. Ganz ähnlich wie in Israels Umwelt stehen die Armen im AT unter göttlichem Schutz. Ist es in Mesopotamien der (gerecht richtende) Sonnengott, so übernimmt bibl. Jhwh diese Aufgabe (Jer 20,13; Jes 57,15; Ps 9,13.19; 68,6f; Spr 23,10f; Jdt 9,11). Mit Zef 2,3; 3,12 erhält die A.-Terminologie einen moralischen und endzeitlichen Aspekt. Die Armen werden idealisiert und identifiziert als diejenigen Israeliten, die dem Willen Gottes ergeben sind. Nach Jes 61,1 wird der Messias zu den Armen gesandt. Er ist es erst, der ihr Recht verwirklichen wird (Jes 11,1 5; Jer 23,5f; 33,15).
112 100 II. NT: 1. Im NT wird nur an einer Stelle (2 Kor 9,9) in einem Zitat von Ps 111,9 das in der LXX sonst häufigere profangriech. Wort p0nhw gebraucht, das den Mangel an materiellem Besitz zum Ausdruck bringt. Ansonsten wird A. durchgehend mit Wortbildungen mit dem Stamm ptvx- (sprachgeschich. Zusammenhang mit pth- zusammengekauert, vgl. hebr. }nh niedergedrückt, gebeugt ) benannt. Dabei findet sich nahezu ausschließlich das Adjektiv ptvx3w (bettel)arm. Das Nomen ptvxe2a ( A., 2 Kor 8,2.9; Offb 2,9) und das Verb ptvxe4v ( arm werden, 2 Kor 8,9) sind ausgesprochen selten. Ptvx3w bezeichnet den materiell Armen, der nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen und auf Unterstützung und Hilfe angewiesen ist ( bettelarm ). Als Oppositionsbegriffe dazu dienen das (wiederum am häufigsten belegte) Adjektiv plo4siow reich, und seltener dabei vor allem in der ntl. Briefliteratur auch ploqtow R. und plozt0v bzw. plozt2yv reich werden bzw. reich machen. Auffallend ist das weitestgehende Fehlen der Terminologie im joh. Schrifttum und den kath. Briefen. Die Wortfelder werden vor allem außerhalb der Evv. auch übertragen für den R. Gottes (Röm 11,33), seine übergroße Gnade (Röm 10,12; 1 Kor 1,5; 4,8 u. a.) oder die Kenosis ( Entäußerung ) Gottes in der Inkarnation (2 Kor 8,9, vgl. Phil 2,6ff) u. a. gebraucht. In den Evv. aber steht überwiegend das Fehlen lebensnotwendiger materieller Güter und Ressourcen bzw. deren erwirtschafteter oder überkommener Überfluss im Vordergrund. II. 2. Die für die ntl. Texte relevanten antiken Gesellschaften des Mittelmeerraums des 1. Jh. n. Chr. zeichnen sich durch starke Stratifizierung aus. Es gab nur eine schmale Oberschicht, die die herrschende Elite bildete (weniger als 10 % der Gesamtgesellschaft). Darunter gab es nur einen sehr geringen Prozentsatz (ca. 1 %) an wirklich Reichen, die materielle Güter im Überfluss besaßen. Meist handelte es sich um aristokratische Großgrundbesitzer, deren Einnahmen aus Bewirtschaftung und Pacht stammten (vgl. Mk 12,1 12; Mt 20,1 16). Eine bürgerliche Mittelschicht fehlte nahezu vollständig. Das breite und größte Segment bildete die weitgehend machtund prestigelose Unterschicht, die in sich allerdings sehr heterogen war. Sie bestand aus relativ Armut / Reichtum Armen, die oberhalb des Existenzminimums durch Besitz oder Erwerbseinkommen mehr oder minder ihre Subsistenz erwirtschafteten (Handwerker, Dienstleister, Händler, Bauern mit geringem Landbesitz). Daneben standen die absolut Armen, deren Existenz von fundamentalen Mängeln an den lebenswichtigen Gütern (Nahrung, Wohnung, Kleidung) gekennzeichnet war. Da ein ausreichender Lebensunterhalt nicht dauerhaft selbständig erwirtschaftet werden konnte (Bauern ohne eigenen Landbesitz, Fischer, Lohnarbeiter, Tagelöhner, Schuldknechte, Sklaven, auch allein stehende Frauen, Witwen, Prostituierte), waren diese Armen auf familiäre oder gesellschaftliche Unterstützung angewiesen (Armenfürsorge und Almosen, Barmherzigkeit). Als weitestgehend schutzlose Glieder der Gesellschaft waren allein stehende Frauen, Witwen und vor allem Kinder bes. von A. betroffen. Es gab mehr Reiche in den Städten als auf dem Land und umgekehrt mehr Arme in den nichtstädtischen, bäuerlich geprägten Gebieten ( Stadt). Den Armen fehlt es nicht nur an Gütern, sondern auch an Prestige ( Ehre). Ein Durchbrechen der Armutsgrenze war, wenn man einmal unterhalb des Existenzminimums angelangt war, sowohl wirtschaftlich wie sozial nur schwer und selten möglich ( Kultur und Mentalität). Im 1. Jh. n. Chr. führten die polit. instabilen Verhältnisse, die Besitzkonzentration und die hohe staatliche Abgabenlast in den Tetrarchien ( Abgabe) zu zunehmender Verarmung durch Verschuldung von Kleinbauern und Pächtern. Die drastischen Maßnahmen gegen verarmte Schuldner haben sich mehrfach im NT niedergeschlagen (z. B. Mt 5,25f.par.; Mt 18,23 35). Angesichts dieser ökonomisch zugespitzten Situation verwundert die im NT durchgehend bezeugte Distanz gegenüber kumuliertem Besitz und R. an Gütern (vgl. Mk 10,31par.; Jak 1,10f; 5,1ff; 1 Tim 3,8; 1 Petr 5,2 u. a.) und der Ablehnung jeglicher unsozialer Habgier (Röm 1,22; Eph 5,3; Hebr 13,5; Tit 1,11 u. a.) nicht. Sie gehört zu den in sich nicht hinterfragten Wertvorstellungen der ntl. Welt und entspricht dabei nicht nur der ökonomischen Realität in Galiläa und Judäa im 1. Jh. n. Chr., sondern stimmt zugleich mit einer frühjüd. Rezeptionslinie zusammen, in der die
113 Armut / Reichtum 101 Armenfrömmigkeit der Psalmen und Jesajas weitergeführt worden ist (vgl. aus Qumran die Selbstbezeichnung Gemeinde der Armen in 4Q171,II,10; III,10; vgl. 1QM 11,9; 13,13f; 14,6f; 1QpHab 12, u. a.). Grundüberzeugung war dabei, dass Gott sich den Armen in bes. Weise widmet (Jak 2,5). II. 3. Dass sich Jesus bes. den armen und rechtlosen Nicht-Eliten zugewandt hat, stimmt mit der Überzeugung einer Option für die Armen des Gottes Israels (d. h. die Armen stehen unter dem bes. Schutz Jhwhs) und der eschatologischen Erwartung einer Erlösung der Armen überein (Jes 61,1f; vgl. Jes 41,17; 49,13; 66,2). Dabei ist weniger wie bei den atl. Propheten ein sozialkritischer Zug leitend, sondern ein proklamatorischer. In seinem Handeln und seiner Predigt setzt Jesus das Ev. als Frohbotschaft für die Armen um (Lk 4,18f; 7,22). Die mit seinem Auftreten bereits angebrochene basile2a ( Herrschaft) sagt er den Armen (Lk 6,20par.) zu. Diese Zusage darf wegen des Zusammenhangs mit der Person Jesu, seinem Anspruch und seinem Heilshandeln nicht als Vertröstung der Armen missverstanden werden. Der Trost besteht vielmehr in der eschatologischen Umkehrung der Verhältnisse und ist im Wesen Gottes begründet ( Barmherzigkeit). In der ursprünglichen jesuanischen Form der Seligpreisung ist wie in der Logienquelle nicht eine übertragene, sondern die materielle Bedürftigkeit der Armen gemeint (vgl. Lk 6,21). Mit der mt. Umdeutung zu den Armen im Geiste (ow ptvxo; t1 pne4mati) ist eine Abschwächung verbunden, die zugleich vor der Missdeutung schützt, dass materielle A. schon eine Heilsgarantie darstellt. In Mk 10, par. wird Nachfolge radikal als Besitzverzicht zugunsten der Armen konkretisiert. Dass Almosen geben wie im AT und im Frühjudentum der Barmherzigkeit Gottes entspricht (vgl. Lk 6,36), nimmt der von der Naherwartung bestimmten Aufforderung, sich der Gottesherrschaft im Handeln der Nachfolge ganz zu verschreiben, nicht die Schärfe. Das vielleicht ursprünglich selbständige, jetzt kommentierende Sprichwort vom Kamel und dem Nadelöhr (Mk 10,25par.) macht deutlich, dass der Vorrangstellung der Armen die Zurücksetzung der Reichen entspricht (vgl. Mk 10,31par.), auch wenn daraus keine generelle ethische Verurteilung oder Herabsetzung des R. abgeleitet werden kann. Lk gilt als Ev. der Armen, nicht nur, weil dort die Armen als Adressaten des Heilshandelns eine noch größere Rolle spielen, sondern auch, weil Elemente der Armenfrömmigkeit im gesamten Ev. von der Kindheitsgeschichte (Lk 1,5 2,52) an auftauchen und die Komposition bestimmen. In seiner Besitzethik zeigt sich eine deutlichere Distanz gegenüber jeglichem R. (Lk 1,52f; 6,24f), der als Mammon (Lk 16) in diametraler Opposition zum Ev. steht, welches den totalen Besitzverzicht erfordert (Lk 12, ; 12,33; 14,33; 18,22 u. a.). Die Aufforderungen zielen auf die Armenfürsorge, wobei der reiche Zöllner Zachäus (Lk 19,8f), der zumindest die Hälfte seines Vermögens den Armen gibt, zum Paradigma für die Nachfolge wird. Entsprechend der Vision einer Welt ohne Arme (Dtn 15,4) nimmt Lk das pythagoräisch-platonische Ideal der Gütergemeinschaft in Apg 2 5 als sozialethischen Impuls auf ( alles ist allen gemeinsam, vgl. Apg 2,44; 4,32). Die sprachliche Stilisierung der Aufgabe des Privateigentums zugunsten des Gemeinschaftslebens als Liebeskommunismus (E. Troeltsch) ist einerseits irreführend, weil es nicht um die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln geht, andererseits zutreffend, weil das umverteilende Handeln zugunsten der Armen (Ideal der Gerechtigkeit) im Liebesgebot gründet. Ob das Ideal der Gütergleichheit Apg 4,34f in der Jerusalemer Urgemeinde eine fiktive lit. Utopie des Verfassers der Apg blieb oder der Verkauf von Privatbesitz zugunsten der Gemeinde tatsächlich für einen bestimmten Zeitraum praktiziert wurde, ist in der Forschung umstritten ( Gemeinschaft). II. 4. In Apg 6,1f wird ein in der Jerusalemer Gemeinde aufgetretener Streit bzgl. der Unterversorgung von Witwen aus der Gruppe der Hellenisten erwähnt, der durch die Wahl der Sieben ( Amt, Kirche) gelöst wurde. Daraus lässt sich nicht nur schließen, dass in der Jerusalemer Urgemeinde durch die Aufgabe der sozialen Bindungen der ersten Jüngerinnen und Jünger ( Apostel) gemeindliche A. als Problem entstanden war, sondern auch, dass diese durch eine Armenfürsorge auf gemeindlicher Ebene gelindert wurde (vgl. die Wohltaten der begüterteren Tabita zugunsten der Witwen in der Gemeinde in Joppe
114 Askese 102 Apg 9,36 43). Auch in der (einmaligen) Kollekte des Paulus ist eine ökum. Dimension und eine zumindest symbolische Fürsorge für die Armen belegt. Die in den pln. Gemeinden durchgeführte Sammlung für die Armen in Jerusalem (Gal 2,10; 1 Kor 16,1 4; 2 Kor 8f; Röm 15,25 32, vgl. Apg 24,17 und vielleicht auch Apg 20,35), die in der Forschung z. T. in losem Zusammenhang mit dem Ideal der Gütergemeinschaft gesehen wird, ist eine freiwillige Abgabe, die von Paulus als ein im Apostelkonzil in Jerusalem vereinbartes (Gal 2,9f) und als Dank geschuldetes Zeichen der Einheit von Heiden- und Judenchristen (Röm 15,26f, koinvn2a Gemeinschaft) verstanden wird. I. F. Crüsemann, Gottes Ort, in: ders., Kanon und Sozialgeschichte, Gütersloh 2003, ; ders., Israel, die Völker und die Armen, ebd ; ders., Armut und Reichtum, in: ders., Maßstab: Tora, Gütersloh 2003, ; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994; J. Renz/ W. Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik, Darmstadt 1995; M. Schwantes, Das Recht der Armen, Frankfurt/M. 1977; F. Stolz, Aspekte religiöser und sozialer Ordnung im alten Israel: ZEE 17 (1973) ; W. Thiel, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn II. M. Ahrens, Der Realitäten Widerschein, Münster 1995; C. Böttrich, Ideal oder Zeichen?: NTS 49 (2003) ; B. Malina, Wealth and Poverty in the New Testament and Its World: Interp. 41 (1987) ; K. Mineshige, Besitzverzicht und Almosen bei Lukas, Tübingen 2003; V. Petracca, Gott oder das Geld, Tübingen 2003; L. Schottroff/W. Stegemann,Jesus von Nazareth Hoffnung der Armen, Stuttgart ; E. W. Stegemann/W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart Angelika Berlejung (AT) / Christian Frevel (NT) Askese (A.) ( Dachartikel: Ethik) Vorbemerkung: Die Konnotationen, die sich mit dem Begriff A. verbinden, sind weitgehend nicht bibl. begründet, sondern leiten sich in der christl. Theologiegesch. aus stoischem und neuplatonischem Gedankengut und dem monastischen Ideal ab, in dem eine asketische Lesart die Rezeption von Texten wie Num 6,21; Weish 8,21; Mk 10, par.; Mt 19,12; 22,30; 1 Kor 7 bestimmt. I. AT: 1. Bezeichnenderweise begegnet Egkr/teia Askese ( Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit ) relativ selten in der LXX. I. 2. A. als Mittel der Selbstbeherrschung im Rahmen einer Tugendlehre ist dem AT fremd, da es der grundsätzlichen Lebensbejahung des Schöpfers widerspräche und dem Konzept eines Lebens aus der Tora zuwiderliefe. Diese macht eine Anleitung zum gelungenen Leben, wie sie in der hell. Philos. verbreitet war, im eigentlichen Sinne überflüssig. Selbst Weish 8,21 versteht die Fähigkeit zur A. nicht als menschliches Tun, sondern als Gabe Gottes. Eine breitere Übernahme der hell. A.-Konzeption findet sich im hell. Judentum (4Makk 5; Philo von Alexandrien), von dem wiederum ein Einfluss auf das NT (z. B. Gal 5,23) anzunehmen ist. Im AT findet sich eine situative und funktionale A., die an bestimmte Zeiten, Aufgaben und Personen gebunden ist. Sexuelle Enthaltsamkeit ist für Priester im Kontext der kultischen Praxis geboten (Lev 15,16 18; Ex 19,15; Kult). Hier fließen verschiedene Vorstellungen zusammen: Sorge um Verunreinigung, apotropäische Vorsichtsmaßnahmen und der Wille zur Konzentration auf das Heilige ( Reinheit). Fasten als Enthaltsamkeit von Speisen hat seinen Platz bei persönlicher und kollektiver Trauer (1 Sam 7,6; 2 Sam 1,11f), in Notsituationen zur Unterstützung des Bittgebetes (Neh 1,4; Esra 8,21), zur Abwendung der Not (1 Sam 14,24) und an verschiedenen Feiertagen (Lev 16,29.31; Sach 7,3). Allerdings gibt es an dem Fasten ohne Konsequenz prophetische Kritik (Jer 14,12; Jes 58,3 7). Die Speisegesetze (Lev 11; Dtn 14,3 21) mit ihrem Verbot des Verzehrs von Unreinem sind ebensowenig als A. zu bewerten wie der Verzicht auf Sexualität während der Periode der Frau (Lev 18,19; 20,18) oder vor der Ehe. Diese Verhaltensweisen werden keineswegs als Ausnahmen begründet, sondern als gesellschaftlich anerkannte Normen vorausgesetzt, die keiner Begründung über das Gebot hinaus bedürfen. Auf sexuelle Enthaltsamkeit der Frau den Begriff Keuschheit anzuwenden, ist bezogen auf das AT problematisch, da es keinen einheitlichen Begriff zur Beschreibung der normgerechten Sexualität kennt. Erst unter hell. Einfluss entwickelt sich die Vorstellung der Keuschheit als Zeichen der Beherrschung der menschlichen Triebe. Gleichwohl
115 Auferstehung Auferstehung 103 kennt auch das NT trotz der eschatologisch geratenen Ehelosigkeit (1 Kor 7) das Ideal einer dauernden Keuschheit nicht. A. zur Vorbereitung bzw. Herbeiführung von Visionen und Auditionen, eine in fast allen Rel. gebräuchliche Praxis, ist auch atl. bezeugt (Ex 34,28; 1 Sam 28,20; 1 Kön 19,8; Dan 10,3; Mt 4,1f.par.). A. ist Kennzeichen des Nasiräers, der sich alkoholischer Getränke enthalten muss, sein Haar nicht scheren und keine Leichen berühren darf (Num 6,1 7). Sexuelle A. gehört nicht zu den Auflagen. Der Nasiräer war durch die asketische Praxis ein auf Zeit (Ausnahme: Simson Ri 13 16) Ausgegrenzter, der dem Heiligen geweiht war. Aber auch in diesem Fall ist die A. nicht Selbstzweck, sondern geschieht aufgrund eines Gelübdes ( Opfer) und ist damit mit dem Fasten zur Unterstützung des Bittgebetes verwandt. Zur Zeit des 2. Tempels erfreute sich das Institut einiger Beliebtheit. II. NT: 1. Wie in der LXX, so begegnet auch im NT Egkr/teia relativ selten. II. 2. Nach Apg 18,18 war Paulus Nasiräer, was aber weder auf Johannes den Täufer noch auf Jesus zutrifft. Letzterer hat während seines öffentlichen Wirkens keine A. gehalten. Dagegen spricht nicht nur die Fremdmeinung (Lk 7,34: Fresser und Weinsäufer), sondern seine gesamte gesellschaftliche Praxis (Mk 2,18; Mt 11,18 20; Lk 8,1 3). Das Faktum der Ehelosigkeit ( Ehe) und der Verzicht auf familiäres Leben ist kein Erweis der A., sondern im Rahmen der Praxis der Gottesherrschaft zu verordnen. Nachösterlich machen sich Tendenzen einer A. bemerkbar, die sich aus verschiedenen Quellen speisen. So ist der Vegetarismus in Korinth (1 Kor 8) und Rom (Röm 14,1 3) am ehesten aus Sorge um die Verletzung der Speisevorschriften zu erklären. Paulus definiert zur Lösung des gemeindlichen Konflikts Enthaltsamkeit um: Enthaltsamkeit ist im Hinblick auf die Speisen unsinnig, im Hinblick auf den gemeindlichen Frieden wertvoll. Nach 1 Tim 4,1 4 fordert eine Gruppe nicht nur Speise-A., sondern auch Ehelosigkeit. Hier ist allerdings zu erwägen, dass die jesuanische Lebensweise als asketisches Ideal uminterpretiert wird. Das Thema der Ehelosigkeit wird von Paulus in 1 Kor 7 behandelt, wobei es ihm auch hier um einen Kompromiss geht. Er erachtet Ehelosigkeit unter den eschatologischen Vorzeichen und für die Arbeit als Verkündiger des Ev. als erstrebenswert, ohne daraus eine Norm zu machen oder die eheliche Sexualität abzuwerten. Dies geschieht erst in der späteren Rezeption, die die pln. Vorbehalte unberücksichtigt lässt. Da das NT die strenge Sexualmoral des Judentums übernimmt, musste die Bewertung anderer Vorstelllungen verneinend ausfallen (Röm 1,24 27) und konnte als Negativfolie dienen (1 Thess 4,5). Allerdings setzte sich infolge der stoischen und neuplatonischen Philos. (Musonius, Diatriben) und der konservativen Ehegesetzgebung des Augustus ein Trend zu einer konservativen Sexualmoral durch, der die Akzeptanz der jüd.-christl. erleichterte. Nicht übersehen werden sollte, dass Keuschheit in Zeiten einer Pansexualisierung auch ein emanzipatorischer Akt sein kann. I. B. Janowski/H. Lichtenberger, Enderwartung und Reinheitsidee: JJS 34 (1983) 31 61; M. J. H. M. Poorthuis (Hg.), Purity and Holiness, Leiden II. P. Brown, Die Keuschheit der Engel, München 1991; J. A Francis, Subversive Virtue, University Park 1995; A. Rousselle, Der Ursprung der Keuschheit, Stuttgart 1989; L. E. Vaage (Hg.), Asceticism and the New Testament, New York Rainer Kampling Auferstehung (A.) ( Dachartikel: Eschatologie) I. AT: 1. Die verschiedenen Vorstellungen, die mit dem Begriff A. nur unzureichend erfasst werden, können mit den hebr. Verben gjh Qal ( lebendig sein, werden ), gjh Piel ( beleben ), qum Qal ( auf[er]stehen ), pdh, ( loskaufen, erlösen ), lqg, ( nehmen ) und qir Hifil ( erwachen ) formuliert werden. I. 2. Viele atl. Texte teilen die Vorstellung, dass der Mensch nach dem irdischen Tod als Schatten in der Unterwelt (Scheol) weiterexistiert. Doch diese Existenzweise hat nichts mit Leben zu tun, denn die Toten sind von der Welt der Lebenden und auch von Gott total abgeschnitten (vgl. z. B. Ps 6,6; 30,10; 115,17; Sir 17,28; Jes 38,18); die Scheol ist ein Land des Vergessens und des Staubes. Nach und nach entwickelt sich die Vorstellung, dass Gott doch auch Macht über die Toten
116 104 hat. Deutet man die Sätze in Ps 88,11 13 nicht als (zu verneinende) rhetorische, sondern als echte Fragen, dann erwartet der Beter, der sich bereits im Grab sieht, die Hilfe Gottes als ein echtes Wunder. Die Vision von der Wiederbelebung des Totengebeins in Ez 37 ist eine Metapher für die Wiederherstellung Israels als Nation, setzt aber für das Funktionieren des Bildes die Überzeugung voraus, dass Gott tatsächlich die Macht hat, Tote aufzuerwecken. Diesen Gedanken drücken auch 1 Sam 2,6 (Danklied der Hanna) und Jes 53,12 (viertes Lied vom Gottesknecht) aus. Die Hoffnung auf eine Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus formulieren Ps 22,30 und Ps 49,16. In dem letztgenannten Text deutet das unscheinbare Wort aufnehmen (lqg) auf die Entrückung von Henoch und Elija hin, die zu Lebzeiteninden Himmel aufgenommen wurden (Gen 5,21 24; 2 Kön 2,11). Auch Jes 26,19 äußert in rätselhafter Sprache die Hoffnung auf eine A. der Bewohner des Staubes. Begrifflich eng damit verbunden ist Dan 12,2.13: Am Ende der Zeiten wird der Erzengel Michael zum End-Gericht auftreten und für die Gerechten wird es eine A. zum ewigen Leben geben, für die Bösen dagegen zu ewigem Abscheu (in Dan 12,2 mit qir Hifil, erwachen, in Dan 12,13 mit }md, stehen, formuliert). Noch einen Schritt weiter geht Jes 25,8 mit der Hoffnungsaussage, dass Gott einst den Tod für immer vernichten wird (aufgegriffen in Offb 21,4). Es sind nur wenige Spuren in der Hebr. Bibel, die von einer A. von den Toten sprechen. Die Daniel- Stelle Dan 12,1 3 aus der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. zeigt aber, dass zu dieser Zeit die Vorstellung bereits ausgeprägt war. Dies wird durch eine Reihe deuterokanonischer Schriften bestätigt. Die Hoffnung auf eine A. von den Toten wird in der jüd. Märtyrerlegende von 2 Makk 7 klar artikuliert: Die Standhaftigkeit der jungen Männer basiert auf der Überzeugung, dass Gott für seine Diener eintreten wird (Dtn 32,36) und das auch über den Tod hinaus. Weil es undenkbar ist, dass Gott diejenigen, die treu zu seiner Weisung stehen, in einem gewaltsamen Tod untergehen lässt, wird die Hoffnung auf eine Auferweckung zu einem neuen ewigen Leben formuliert (2 Makk 7,9). Die Mutter der sieben Brüder betont in der Abschiedsrede, dass Gott die Welt aus Auferstehung dem Nichts erschaffen habe (2 Makk 7,28) und daher auch die Macht habe, tote Menschen zum Leben zu erwecken. Dieses Kapitel hat eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet. Das philos. 4 Makk fußt ganz auf diesem Text. Auch der Selbstmord des Ältesten Rasi in 2 Makk 14,37 46 (um der sicheren Tötung durch die Folterknechte zu entgehen) zeugt von der Hoffnung auf eine leibliche A., ebenso die Fürbitte des Judas Makkabäus für die Toten in 2 Makk 12, Das Buch der Weisheit hat die Hoffnung auf die A. als einen theol. Zentralinhalt: In der Auseinandersetzung zwischen den Guten (Gerechten) und den Bösen (Frevlern) stellt sich die herausfordernde Frage, wie ein vorzeitiger, gewaltsamer Tod der Gerechten zu deuten ist. Hier bietet Weish 3,1 4 gegenüber der landläufigen Vorstellung, dass ein früher Tod eine Strafe sei, eine Alternative: Der frühe Tod der Gerechten sei eine Wohltat, da sie in Gottes Hand geborgen sind. Der Gerechte geht in Gottes Ruhe ein (Weish 4,7 20). Auch in der griech. Kultur sagte man: Wen die Götter lieben, der stirbt jung (Menandros). Während die Frevler ewiger Vergessenheit anheim fallen, erhalten die Gerechten das ewig gültige Heil (Weish 5,15 16). Entstehungs- wie geistesgesch. stehen diese Aussagen an der Schwelle zum NT. In der außerbibl. frühjüd. Lit. ist die A. der Toten ein weit verbreitetes, tragendes Motiv (vgl. u. a. 1Hen 51,1; 104,1 6; 2Bar 21,23 24; 30,1; 42,7; 50,2; 51,10; PsSal 3,12; 13,11; 14,10; 4Esr 7,32; LibAnt 3,10; 1QS 4, ; 4Q521 Frgm. 2,II; 1QH 14,34). II. NT: 1. Der Begriff A. stammt von griech. Bn/- stas2w. Die Vorstellung der A. kann auch mit den Verben Ege2rv ( aufrichten, auf[er]wecken ) und Bn2sthmi ( auf[er]stehen ) formuliert werden. II. 2. Das NT ist stark vom Gedanken der Überwindung des Todes geprägt. Jesus teilt die Hoffnung auf eine A. der Toten und steht damit auf der Seite der Pharisäer, während hingegen die Sadduzäer diese Auffassung nicht teilen (vgl. Mk 12,18 27par.; Weltbild). Jesus verweist dazu auf die atl. Formel der Gottesoffenbarung Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und schließt daraus, dass die Patriarchen leben, denn Gott ist doch kein Gott von Toten. Ihre Daseinsweise gleicht der der Engel im Himmel (vgl.
117 Auferstehung 105 Mt 22,30par.). Die Vorstellung einer Weiterexistenz nach dem Gericht im Himmel oder in der Hölle setzt Worte wie Mk 9,43 48; Mt 7,21; 8,11par.; 10,32f.par.; Mt 12,41par. als selbstverständlich voraus. Durch die A. Jesu hat die allgemeine Hoffnung konkreten Anhalt an einer Person gefunden. Ausgedrückt wird dies im Joh: Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25f). Der Glaube an Jesus führt demnach zum ewigen Leben, der irdische Tod ist überwunden. Die Akzente einer präsentisch-eschatologischen A. der Toten (Joh 5, ) mischen sich mit einer futurisch-eschatologischen Sicht, die das Tun des Guten bzw. Bösen als Kriterium für das Ergehen nach der A. betont (Joh 5,28f). II. 3. Paulus arbeitet in pastoraler Fürsorge und theol. Tiefe die Hoffnung auf eine A. der Toten in 1 Thess 4,13 18 heraus: Die A. Jesu ist der Grund der Hoffnung, dass Jesus die Verstorbenen zusammen mit ihm in die Herrlichkeit Gottes führen wird. Die Lebenden werden den Verstorbenen beim End-Gericht nichts voraushaben. In 1 Kor 15,12 reagiert Paulus auf entsprechende Zweifel in seinen Adressatenkreisen und stellt den Glauben an die A. der Toten als den zentralen christl. Glaubensinhalt schlechthin dar, denn ein solcher Zweifel würde auch die Auferweckung Jesu in Frage stellen. In der Adam-Christus-Parallele macht Paulus deutlich, dass die A. einer Neuschöpfung gleichkommt: Durch einen Menschen (Adam) kam der Tod, durch einen anderen (Christus) entsteht das neue Leben. Letztlich aber wird am Ende der Zeiten auch der Tod selbst entmachtet (1 Kor 15,26.54). Die genaue Vorstellung, wie die Auferweckten sein werden, lässt Paulus offen und hilft sich mit der Metapher vom Samenkorn (1 Kor 15,42 44) und der Rede von der Verwandlung in einen himmlischen Leib ( Körper). Auch in den nachpln. Schriften des NT ist die A. der Toten in Verbindung mit dem End- Gericht vorausgesetzt (z. B. 2 Tim 4,1; 1 Petr 4,5). Das Gericht über die Toten bei ihrer A. beschreibt die Vision in Offb 20,11 15, ebenso die Vorstellung eines endgültigen Todes (zweiter Tod), den der Tod selbst, die Unterwelt und alle, die nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind, erleiden müssen. Durch diese Vorstellung wird zwischen der heilvollen Erwartung der A. und der apokalyptischen Auffassung vom End-Gericht vermittelt. II. 4. Die A. Jesu ist nach Gestalt und Art der ntl. Texte von vornherein als eine Glaubensaussage charakterisiert, die sich zunächst in formelhaften Bekenntnissen (Apg 2,24.32; 3,15; 4,10; 5,29 u. a.) artikuliert. Erst später folgen Erzählungen über die Auffindung des leeren Grabes. Die Initialzündung für die Aufstellung des Bekenntnisses besteht in der persönlichen Überzeugung der Jünger, Jesus nach seinem Tod gesehen zu haben. Dies wird zunächst in formelhaften Bekenntnissen geäußert, erst später kommt es zu Erscheinungserzählungen. Einen direkten Augenzeugen für das A.-Geschehen als solches gibt es nicht, daher kann davon nicht in empirischer Begrifflichkeit geredet werden. Immer geht es um das Glaubenszeugnis der frühen Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu, das bis heute den eigenen Glauben an Jesus Christus herausfordert. Analysiert werden kann und muss die sprachliche Gestalt der Bekenntnisformeln und Erzählungen, was angesichts des komplexen Befundes hier nur skizzenhaft geschehen kann: (1.) Eingliedrige Formeln begegnen meist in der pln. Brieflit. als partizipiale Gottesprädikation (t<n Ege2ranta IhsoQn Ek nekrmn, [Gott], (der) ihn/jesus aus Toten erweckte, z. B. Röm 4,24; 8,11; 2 Kor 4,14) oder Aussagesatz ( Gott erweckte ihn aus Toten, z. B. Röm 10,9; 1 Kor 6,14), ferner als Relativsatz (1 Thess 1,10) oder Passivsatz mit Jesus/Christus als Subjekt (z. B. Röm 6,4.9; Joh 21,14). Diese Formel bekennt Gottes wirkmächtiges Handeln an dem getöteten Jesus aufgrund der göttlichen Verfügungsgewalt über die Toten, die in einem Schattenreich (Scheol; Unterwelt) räumlich angesiedelt werden (daher aus Toten). Gleichzeitig wird so Jesu Anspruch auf eine unmittelbare Beziehung zu diesem Gott bestätigt und die irdische Verkündigung Jesu legitimiert. (2.) Mehrgliedrige Formeln entfalten das christologische Geheimnis zur Glaubensverkündigung und Taufdeutung. Am bekanntesten ist das Grundbekenntnis des Paulus in 1 Kor 15,3 5, das den Sühnetod Jesu, das Begräbnis und die Auferweckung (jeweils gemäß der Schrift ) sowie die Erscheinung vor den Zeugen einschließt. Weitere Beispiele sind Röm 8,34; Eph 1,20; 1 Petr 1,21. Auch die rettende Funktion Jesu aus dem
118 Barmherzigkeit 106 End-Gericht wird mit der A.-Formel begründet. (3.) Das früheste Zeugnis für die Erscheinungen Jesu findet sich in 1 Kor 15,5 8, wo nur die Tatsache des Ereignisses festgestellt wird, jedoch keine näheren Umstände geschildert werden. Die Formulierung mit dem Passiv (]fuh er wurde gesehen bzw. er ließ sich sehen ) greift den atl. Sprachgebrauch vom Erscheinen Gottes vor den Patriarchen, vor Mose u. a. auf. Dadurch erhält die Wendung erhebliche theol. Bedeutung. Die Äußerungen des Paulus über seine Ostererfahrung (z. B. 1 Kor 9,1; Phil 3,8.10; 2 Kor 4,6) lassen weniger einen empirisch-visionären, sondern eher einen inneren Vorgang der Herzensumkehr vermuten. Paulus spricht auch von einer Enthüllung (Bpok/lzciw) des Sohnes (Gal 1,12.15f) und verwendet damit einen Begriff der Apokalyptik. In diesem Kontext dürfte der ursprüngliche Charakter der A.-Visionen liegen: Jesus ist der endzeitliche Prophet, seine Botschaft das entscheidende Kriterium im Weltgericht (Lk 12,8f), und seine Jünger wissen ihn und sich durch das entscheidende Handeln Gottes legitimiert und aufgerufen zur Weiterführung seiner Verkündigung. Wie auch immer man hist. oder psychologisch die A.-Visionen innerweltlich aufschlüsseln will, entscheidend bleibt die Deutung durch den Glauben als von Gott gewirkte rettende und legitimierende Handlung. Der durch Jesus in seinen Nachfolgern geweckte Glaube an den Gott, der die Entrechteten rettet, erwies sich als stärker als das irdische Scheitern Jesu, der selbst nach seinem Abschiedswort in Mk 14,25 davon überzeugt war, nach dem irdischen Tod von Gott legitimiert zu werden. (4.) Die Ostergeschichten der Evv. kreisen einerseits um die Entdeckung des leeren Grabes und die Botschaft der dort sitzenden Engel (z. B. Mt 28,1 8; Mk 16,1 8; Lk 24,1 12; Joh 20,1 10), andererseits um die Begegnung mit dem Auferstandenen, die formal als Erzählungen der Wiedererkennung (z. B. Lk 24,13 31; Joh 21,1 14; auch 20,14 18) und Beauftragung (Mt 28,16 20; Lk 24,36 49; Joh 20,19 23; Mk 16,14 20) zu beschreiben sind. Diese Ostergeschichten sind wichtige Zeugnisse frühchristl. Glaubenstraditionen, die in narrativer Theol. das unglaubliche Osterereignis ihren Adressaten anschaulich vermitteln wollen. Je nach ihren Fähigkeiten und Zuhörerkreisen greifen sie auf unterschiedliche Überlieferungen und Deutungsmetaphern zurück, sodass unterschiedliche Gestalten, mitunter Widersprüche entstehen, die jedoch nur dann zum Problem werden, wenn man diese Texte irrtümlich als Augenzeugen- und Tatsachenberichte wertet. Hingegen ist gerade bei diesen bibl. Texten nach ihrem theol. Gehalt und ihrem Glaubenszeugnis zu fragen sowie nach den Identifikationsmöglichkeiten, die eine existenzielle Aneignung der Erzählungen und der Inhalte für die je eigene Glaubensgeschichte bieten. I. C. Barth, Die Errettung vom Tode, Stuttgart u. a. 1997; Biki 61 (2006); U. Kellermann, Das Gotteslob der Auferweckten, Neukirchen-Vluyn 2001; G. Kittel, Befreit aus dem Rachen des Todes, Göttingen II. F. Avemarie (Hg.), Auferstehung Resurrection, Tübingen 2001; D. Bauer, Der Tod von Märtyrern und die Hoffnung auf die Auferstehung: BiKi 57 (2002) 82 86; R. Bieringer (Hg.), Resurrection in the New Testament, Leuven 2002; P. Hoffmann, Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung, Stuttgart 1994; U. Kellermann, Das Gotteslob der Auferweckten, Neukirchen- Vluyn 2001; G. Kittel, Befreit aus dem Rachen des Todes, Göttingen Thomas Hieke Barmherzigkeit (B.) ( Dachartikel: Ethik) Barmherzigkeit Vorbemerkung: B. gehört zu den zentralen theol. Begriffen der gesamten Bibel, der die bibl. Ethik wie kaum ein anderer bestimmt. Dieser Befund ist dadurch begründet, dass B. sowohl auf Gott wie auf den Menschen angewandt wird und damit zu einer Letztbegründung ethischen Handelns wird: Aus B. handelt Gott an den Menschen in B.; der Mensch antwortet darauf, indem er die selbst erfahrene göttliche B. wiederum durch barmherziges Handeln am Mitmenschen bezeugt. I. AT: 1. Im AT sind die Begriffe gœsœd ( Liebe, Gunst, Gnade, Güte, Wohlwollen, B. ) und rœgœm/rag a mim ( Mutterleib; Eingeweide, Erbarmen ) zentral. I. 2. Menschliche B. ist nach der Schrift Nachahmung Gottes. Aussagen über Gottes B. gehören zu den festen Titulaturen des AT (Ex 34,6; 2 Chr 30,9; Ps 86,15; 103,8; 145,89; Joël 2,13), die in
119 Barmherzigkeit 107 bundes-, schöpfungs- und geschichtstheol. Kontexten begegnen. In der hymnischen Tradition wird B. gleichsam zu einer Erscheinungsform Gottes, der durch seine B. als gegenwärtig im Gottesvolk Israel erfahren wird (Ps 36,6; 40,12; 61,8; 51,3). Gott ist der Erbarmer (Jes 49,10; 54,10), d. h. B. gehört zu seinem innersten Wesen, was v. a. in der sog. Gnadenformel zum Ausdruck kommt. Die Gnadenformel Ex 34,6f, mit der die Vorordnung der göttlichen B. vor dessen Gerechtigkeit begründet wird, gehört im AT zu den am häufigsten aufgenommenen Texten (vgl. Num 14,18; Jona 4,2; Joël 2,13; Ps 103,8; 11,4; Sir 2,11 u. a.). Qualifiziert ist diese B. durch Treue und Verlässlichkeit, die dem Menschen von Gott zukommt. Dass das hebr. Äquivalent rœgœm/rag a - mim für das deutsche Erbarmen im Wortstamm verwandt mit dem Begriff für Mutterschoß ist, verweist auf eine Emotionalität der B., die sich bes. auf die Schwachen der Gesellschaft erstreckt (Ps 68,6). Hier zeigt sich auch ein sozialkritischer Zug der Konzeption der B., da Gott tut, was den Menschen zukommt. Durch die B. Gottes ist menschlichem Handeln ein Modell vorgegeben, das die Menschen dankbar im Leben miteinander praktizieren sollen. Aufgrund der eigenen Erfahrung ist der Mensch in das Vermögen gesetzt, die empfangenen Wohltaten zu teilen. Dieser Kausalzusammenhang taucht u. a. in der prophetischen Kritik auf, in der die B. Gottes mit der Unbarmherzigkeit der Menschen kontrastiert wird (Am 2,7 10) und den sozialethischen Aspekt des Sabbatgebotes (Ex 20,9 11) trägt. Ethisches Handeln aus B. ist Handeln in erinnernder Vergegenwärtigung der sich je neu erweisenden B. Gottes und ist Zeichen der menschlichen Treue zu Gott (Ijob 6,14). Durch diese theozentrische Begründung wird das Objekt der B. aufgewertet, da die ihm erwiesene B. gleichsam eine Bringschuld des Glaubenden ist. II. NT: 1. Im NT ist der Begriff Xleow ( Mitleid, Erbarmen, B. ) zentral. II. 2. Das NT folgt der atl. Konzeption weitgehend (Lk 1,54; 6,35; Mt 5,45 47; Tit 2,11), erweitert sie freilich um die christologische Komponente in dem Sinne, dass sich das Heil und die B. Gottes in Jesus präsentisch konkretisieren (Lk 2, ). Nach Paulus ist das Rechtfertigungsgeschehen Akt der B. (Röm 11,25), durch die Gott in Kontinuität seines Handelns an Israel und den Völkern Heil schafft. Ntl. wird jesuanisch die B. Gottes zur Richtschnur der menschlichen bestimmt (Lk 6,35; Mt 5,48), die damit als unbegrenzt aufgezeigt wird. Die Werke der B. sind katalogartig in der Erzählung vom Weltgericht aufgezählt (Mt 25,31 46; hier wird nicht das Tun der Werke der B., sondern der Urteilsspruch christologisch begründet). Sie entsprechen weitgehend der Vorstellung des Judentums, das bereits relativ früh eine planmäßige Armenfürsorge als Form der Caritas kannte, die dann in den christl. Gemeinden übernommen wurde ( Armut). Die Caritas als gegenseitige Hilfeleistung und Erweis der geschwisterlichen Liebe ist zunächst binnengemeindlich ausgerichtet; eine außergemeindliche Aktivität hätte sowohl das finanzielle wie das organisatorische Vermögen gesprengt. Dem Almosen kommt dabei eine bes. Aufgabe zu; wenn auch seine Begründungen unterschiedlich sind (eschatologisch: Mt 6,2.19; kulttheol. im Sinne eines Opfers: Spr 10,12; 1 Petr 4,8), so ist der Zusammenhang mit dem Gedanken der B. immer greifbar: Der Besitzende gibt von dem ihm geschenkweise zugekommenen Vermögen ab. Neben dem individuellen Almosen, das der einzelne einem Bedürftigen gibt (Apg 10,2), tritt das Almosen, das der Gemeinde zur Verwaltung übergeben wird (idealtypische Schilderung in Apg 4,34 35). Eine bes. Rolle spielte im frühen Christentum die Kollekte für die Armen Jerusalems (Gal 2,9). Paulus, der sogar einen Vorschlag für die Organisation unterbreitet (1 Kor 16,1 4) und sich intensiv um die Umsetzung der Kollekte sorgt (2 Kor 8 9), sieht darin das Abtragen einer Dankesschuld gegenüber Jerusalem (Röm 15,26 27) und den Erweis des Willens zur Gemeinschaft der Gemeinden untereinander (Röm 15,26; Abgabe). Unzweifelhaft ist, dass die gelungene Caritas in den Gemeinden ihre Attraktivität erhöhte, da dadurch der Anspruch, eine Gemeinschaft in Christus zu sein, wahrnehmbar realisiert wurde. I. M. Franz, Der barmherzige und gnädige Gott, Stuttgart, 2003; R. Kampling, Wer Barmherzigkeit seinem Nächsten verweigert, der verlässt des Allmächtigen Furcht (Hiob 6,14), in: ders. (Hg.), Deus semper maior, Berlin 2001, ; R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart II. S. Dybowski, Barmherzigkeit im Neuen Testament ein
120 Berg 108 Grundmotiv caritativen Handelns, Freiburg 1992; R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart 2000; M. Zehetbauer, Die Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Regensburg Rainer Kampling Berg (B.) ( Dachartikel: Weltbild/Kosmologie). I. AT: 1. B. oder Gebirge (hebr. har; griech. [row) kommt atl. als geographische Bezeichnung (Gebirge von Naftali [= Obergaliläa], von Gilboa, von Efraïm [= Samarien] und von Juda; Libanongebirge; als Einzelberge: Zion, Ebal, Garizim, Hermon, Sinai/Horeb, Karmel, Tabor usw.) und in verschiedenen Verbindungen vor, die eine Beziehung zwischen Jhwh und einem B. herstellen. Gottesberg (Ex 3,1; 4,27; 18,5; 24,13; 1 Kön 19,8) und Jhwh-Berg in Num 10,33 meinen den B. der Sinai/Horeb-Tradition, wohingegen der Jhwh-Berg (har Jhwh) in Jes 2,3 = Mi 4,2; Jes 30,29; Sach 8,3; Ps 24,3 der Zion ist. Der (heilige) B. Gottes (har qodæš { æ lohim) in Ez 28,14.16 bezeichnet den mythischen Götterberg im Norden, der mit dem B. der Zusammenkunft (der Götterversammlung) von Jes 14,13 identisch ist. Wenn parallel zum Zion vom heiligen B. (Ps 2,6; 110,2f) Jhwhs die Rede ist, so ist im allgemeinen der Tempelberg (har habbajit; har bet-jhwh) in Jerusalem gemeint (Mi 3,12 = Jer 26,18). Nach Hab 3,10 sind die personifizierten Berge mit der Urflut ( Meer) als Paar im Sinn eines Merismus zu verstehen. I. 2. Da B. markante Punkte in der Landschaft darstellen, die durch ihre Höhe eine größere Nähe zum Himmel suggerieren, spielten sie im Weltbild als Achsenkreuze, an denen sich die horizontale und vertikale Raumebene schneiden und eine Verbindung von Himmel, Erde und Unterwelt hergestellt wird, eine zentrale Rolle. Im Kontext der ao. Kosmologie, Schöpfungs- und Tempeltheol. kommt dem B., der in der Vorzeit aus dem Urwasser herausragte und Zentrum der Welt ist, als Götterberg bes. Bedeutung zu. Er ist der Ort des ersten Tempels, an dem die Lebensquelle entspringt, der Lebensbaum wächst und als solcher ein Zentrum der Berg Vitalität mit idealen Lebensbedingungen ( Paradies) und sakraler Ort. Als heiliger Hügel spielte er in der mesopotamischen Tempeltheol. eine große Rolle, da dieser Urhügel unter jedem Tempel angesiedelt bzw. die Tempel mit diesem Hügel identifiziert wurden, was sich auch in der Namengebung der Tempel spiegelte (z. B. sumerisch É.KUR = Berghaus ). Neben dem B. des Uranfangs, der zugleich als stabiles, nicht wankendes Weltfundament angesehen wurde, dem B. als Wohnort der Götter, gab es noch die Vorstellung vom B. als Versammlungsort der Götter, die z. B. in Ugarit (Zafon) oder in Griechenland (Olymp) eine große Rolle spielte. Aufgrund der sakralen Sphäre von B. lag es nahe, sie zu vergöttlichen (z. B. Zafon), sie mit einem Berg- und/ oder Wettergott zu verbinden (z. B. Baal-Hermon, vgl. Ri 3,3; 1 Chr 5,23; Baal-Zafon in Ugarit) und/oder sie zum Ort von Kultanlagen zu machen (so nachgewiesen für den Zion, Ebal, Garizim, Hermon, Karmel, z. T. mit Kontinuität des Kultorts bis in christl. Zeit). Berge werden auch atl. als heilige Räume begriffen, wenn sie zu den ersten Werken der Schöpfung (Ijob 15,7; Spr 8,25) gezählt oder als für immer existent bezeichnet werden (Gen 49,26; Hab 3,6). Sie sind Orte der Gottesnähe, Theophanie und Gottesbegegnung (1 Kön 19,8f.11f), sodass sich hier Kulthandlungen nahe legen (Gen 22; Ez 18,6; Hos 4,13). Auch Jhwh hat bes. Beziehungen zu B. (1 Kön 20,28; Gen 31,54; Ri 5,4f). Im AT lässt sich eine gewisse Rivalität zwischen den Jhwh-B. Sinai/Horeb, Zion und Garizim ausmachen. Der Sinai ist der (bislang nicht eindeutig lokalisierte) B. der Selbstoffenbarung Jhwhs, des Bundesschlusses ( Bund) und der Gesetzgebung (Ex 19 Num 10) sowie Ort der Theophanie Jhwhs und somit sein Wohnsitz. Alle wichtigen Gesetzescorpora des AT werden hier (literarhist. sukzessiv) verortet. Horeb ist ein Alternativname für den Sinai, der von der dtn.-dtr. Tradition geschaffen wurde, ohne den älteren Sinai zu verdrängen. Der Zion in Jerusalem ist zwar eine geographisch lokalisierbare Größe, doch liegt seine Bedeutung in seiner theol. Dimension. Er ist Weltberg, Paradiesberg, mit dem Götterberg im Norden identifizierter Tempelberg und Wohnsitz Jhwhs (Ps 46; 48). Der lokalisierbare B. Garizim südwestlich von Sichem (in der Nachbarschaft des B. Ebal)
121 Beschneidung Beschneidung 109 war nach Dtn 11,29; Jos 8,33 Ort der Proklamation des Segens. Hier entstand im Zuge der Auseinandersetzungen um den nachexil. Jhwh-Kult in Jerusalem 450 v. Chr. ein Jhwh-Tempel, der Kultort der Samaritaner war. Er wurde zwar von Johannes Hyrkanus Ende des 2. Jh. v. Chr. zerstört, doch war damit die Heiligkeit und Kontinuität des Kultorts nicht gebrochen, der bis heute den Samaritanern als Zentrum dient. II. NT: Der Traditionskomplex des B. (zu den Begriffen s. o.) spielt im NT keine dem AT vergleichbar große Rolle. Vereinzelt wird in der Darstellung des Lebens Jesu in den Evv. an der Tradition des B. als exemplarischer Ort der Gottesnähe angeknüpft, wenn hier verschiedene B. erwähnt werden, die nicht notwendig als geographische Angabe zu verstehen sind (B. des Gebets [Mk 6,46par.; Lk 6,12], B. der Versuchung [Mt 4,8], der Verklärung [Mk 9,2 8par.; 2 Petr 1,18] und der Sendung [Mt 28,16]). Mt verlegt (im Unterschied zu Lk) die erste große Predigt Jesu auf einen B. (Bergpredigt; Mt 5,1), der somit zum Ausgangspunkt seiner Botschaft (vgl. Mt 28,16) wird. An geographischen Größen kennt das NT die B. Sinai (Apg 7,30.38; Gal 4,24f), Zion (Hebr 12,22; Offb 14,1) und den Ölberg (Mt 21,1). Joh 4,20f diskutiert die Frage der rechten Anbetung Gottes in Jerusalem oder auf dem Garizim, die von Jesus als irrelevant abgetan wird, da es nicht auf den Ort, sondern auf den Geist der Anbetung ankommt. Sinai und Zion werden in Hebr 12,18ff (präfiguriert durch Gal 4,24f) antitypisch gegenübergestellt: Der Sinai steht für das Gesetz, der Zion für den neuen Bund. Die eschatologischen Vorstellungen, die im AT, Judentum und Qumran (11Q05 22) mit dem Zion verbunden wurden, finden sich nur in Offb 14,1 modifiziert aufgenommen, wenn am Ende der Zeit das Lamm mit seinen Getreuen auf dem Zion stehen und von dort aus die Erneuerung des Gottesreichs beginnen wird. I. C. Breytenbach, Zeus und Jupiter auf dem Zion und dem Berg Garizim: JSJ 28 (1997) ; V. Haas, Vorzeitmythen und Götterberge in altorientalischer und griechischer Überlieferung, Konstanz 1983; H. Irsigler (Hg.), Wer darf hinaufsteigen zum Berg JHWHs?, St. Ottilien 2002; B. Jacobs, Bergheiligtum und Heiliger Berg, in: J. Hahn/C. Ronning (Hg.), Religiöse Landschaften, Münster 2002, 31 47; M. A. Klopfenstein, Auszug, Wüste, Gottesberg, in: W. Dietrich (Hg.), Leben aus dem Wort, Bern u. a. 1996, ; M. Metzger, Gottheit, Berg und Vegetation in vorderorientalischer Bildtradition: ZDPV 99 (1983) II. K. P. Fischer, Der Berg in den Evangelien Zeichen für die Völker: BN 99 (1999) 42 54; T. Söding, Die Predigt Jesu und die Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen: GuL 73,6 (2000) ; A. Standhartinger, Jesus, Elija und Mose auf dem Berg: BZ 47 (2003) Angelika Berlejung Beschneidung (B.) ( Dachartikel: Kult) Vorbemerkung: Unter B. versteht man verschiedene operative Eingriffe an den Geschlechtsteilen von Jungen und Mädchen, in der Regel das Entfernen der Vorhaut beim männlichen und der Klitoris beim weiblichen Geschlecht. Der Brauch ist seit dem Neolithikum belegt und heute außer im jüd. und muslimischen Bereich vor allem in Afrika und im ozeanisch-australischen Raum verbreitet. In den meisten Fällen handelt es sich um einen Ritus beim Übergang zur Geschlechtsreife, der bei Jungen aber auch in das Säuglingsalter vorverlegt werden kann und dem Zweck dienen soll, den Mann zum Mann und die Frau zur Frau zu machen. I. AT: 1. Das Judentum kennt nur die männliche B. (hebr. mula). Aus Hdt. (2,104,1 3) erfahren wir, dass sie in der Antike bei Kolchiern, Ägyptern, Äthiopiern sowie Phöniziern und Syrern üblich war; zu letzteren gehören die Israeliten und ihre Nachbarn, die in Jer 9,24f aufgezählt werden. Für Ägypten ist die B. auch ikonographisch bezeugt (Abb. 14). Bei den Ostsemiten und den Philistern (vgl. 1 Sam 18,25 27 u. a.) scheint sie hingegen nicht Brauch gewesen zu sein. Über die Praxis und Bedeutung der B. im vorexil. Israel wissen wir nichts. Die einschlägigen Belege im AT stammen aus nachexil. Zeit. Gen 17,23f; 34,24 und Jos 5,2ff schildern die (nachgeholte) B. bei Erwachsenen, Gen 17,25 bei einem dreizehnjährigen Jungen; Gen 34 und Ex 4,24 26 stellen einen Bezug zur Heirat her, die Exodusstelle schreibt dem Beschneidungsblut ( Blut) apotropäische Wirkung zu. Das alles erlaubt vielleicht den Schluss, dass die B. in alter Zeit, wie fast überall auf der Welt, ein Mannbarkeitsritus war.
122 110 Abb. 14: Auch im alten Ägypten war die Beschneidung üblich. Quelle: O. Keel/M. Küchler, OLB 2, Abb I. 2. In nachexil. Zeit ist dem Ritus eine theol. Bedeutung als Identitätsmerkmal Israels zugewachsen. Diese ist im AT durchgängig vorausgesetzt. Am deutlichsten ist das in den priesterschriftlichen Texten zu greifen. In Gen 17,10 14 wird die B. als Zeichen des Bundes eingesetzt, der Abraham und die von Sara abstammenden Nachkommen von allen anderen trennt (V ). Alles Männliche im Hause Abrahams soll sofort an der Vorhaut beschnitten werden, alle Nachkommen am achten Tag nach der Geburt (vgl. Lev 12,3). Das Gebot erklärt den ewigen Bund, zu dem sich Gott verpflichtet hat (Gen 17,7), zum Bund an eurem Fleisch (V. 13) und fügt damit der Verheißung Gottes die Verpflichtung Israels hinzu. Wer sie unterlässt, hat den Bund gebrochen und soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden (V. 14). In Gen 17,23 27 und 21,4 wird die Anweisung genauestens befolgt. Die B. heißt im Judentum bis heute der Bund und gilt als Inbegriff des Gesetzesgehorsams. In der rabb. Lit. wird dem Beschneidungsblut gelegentlich (über Ex 4,24 26 LXX) soteriologische Wirkung zugeschrieben; wie das Blut Jesu in den Einsetzungsworten ( Abendmahl) wird es mit dem Blut des Bundes in Ex 24,8 in Beziehung gesetzt. Konstitutiv für die B. als Identitätsmerkmal ist der Gegensatz zu den Unbeschnittenen. Er besteht in der Kultfähigkeit, wie sich bei der Teilnahme am Pascha zeigt, wofür die B. Voraussetzung ist (Ex 12,43 49). Aus diesem Grund müssen auch Nichtisraeliten, die in der jüd. Beschneidung Hausgemeinschaft leben oder in dieselbe eintreten wollen, beschnitten sein (Gen 17,12.23; 34). Die B. ist Teil der kultischen Reinheit (vgl. Esra 6,19 22; Jes 52,1; Ez 44,7.9; im Bild Lev 19,23). Als bes. grobe Verunreinigung gilt die Bestattung unter Unbeschnittenen, die in Ez 31,18; 32,19ff den (beschnittenen) Ägyptern und in Ez 28,10 Tyrus angedroht wird. Als Merkmal der Kultfähigkeit ist die B. schließlich zu einer Metapher für die innere Befähigung oder Bereitschaft zum Gottesgehorsam geworden. In diesem Sinne ist von der B. des Herzens (Lev 26,41; Dtn 10,16; 30,6; Jer 4,4; 9,25; Ez 44,7.9; Jub 1,23 25; 1QpHab 11,13; 1QS 5,5) oder von unbeschnittenen Ohren (Jer 6,10; 1QH Sukenik 18,20) und Lippen (Ex 6,12.30; 1QH Sukenik 2) die Rede. Die Metapher erlaubt es, unter den am Fleisch Beschnittenen zwischen Frommen und Sündern zu unterscheiden. Bes. Bedeutung als Unterscheidungsmerkmal und Akt des Bekenntnisses hat die B. am Fleisch, ebenso wie die Sabbatobservanz ( Sabbat) und die Einhaltung der Speisegesetze, in hell.-röm. Zeit erlangt. Unter Antiochus IV. war sie zeitweise bei Androhung der Todesstrafe verboten (1 Makk 1,48.60f; 2 Makk 6,10). Reformfreudige Juden ließen sie operativ rückgängig machen (1 Makk 1,15), während Mattatias und seine Anhänger unbeschnittene Kinder mit Gewalt der B. zuführten (1 Makk 2,45f). Für die Frommen in Israel bedeutete sie nicht nur die Absonderung von den Völkern und den Frevlern in Israel zum Zwecke der kultischen Reinheit, sondern zugleich die Befreiung von den bösen Mächten dieser Welt (Jub 15,25ff; 30,12f; CD 6,4 6). Die Erfahrungen der makkabäischen Krise hatten eine rigorose Praxis zur Folge. Wer in eine jüd. Familie einheiraten, zum Judentum übertreten oder auch nur auf jüd. Territorium wohnen bleiben wollte, musste sich beschneiden lassen (Est 8,17 LXX; Jdt 14,10; Ios. ant.iud. 20,145; 13,257f.318f.397). Dagegen forderten manche Erleichterung für die Proselyten (vgl. Ios. ant.iud. 20,38 48; Sib 4, ). Andere versuchten, den Ritus ihren griech. Lesern verständlich zu machen (Philo spec. 1,1 12). II. NT: Über die Frage der B. (griech. peritom1) beim Übertritt von Proselyten kam es auch unter den frühen Christen auf dem sog. Apostelkonzil
123 Besitz / Gut / Eigentum Besitz / Gut / Eigentum 111 zum Streit (Gal 2; Apg 15; vgl. 11,1 18). Jesus war Jude und nicht Christ. Darum wurde er ebenso wie Johannes der Täufer, Paulus und viele andere am achten Tag beschnitten (Lk 1,59; 2,21; Phil 3,5). Als jedoch das Evangelium auch unter den Unbeschnittenen immer mehr Zulauf fand, stellte sich die Frage, ob diese in das Judentum eintreten, sich beschneiden lassen und das Gesetz des Mose auf sich nehmen sollten. Aufs Ganze gesehen setzte sich die Meinung des Paulus durch, dass es nicht darauf ankomme, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, die Gebote Gottes zu halten ( Weisheit), und dass folglich jeder so bleiben solle, wie ihn der Ruf Gottes getroffen habe (1 Kor 7,18; vgl. Gal 5,6; 6,15; Apg 16,3; 21,21ff). Die pragmatische Lösung basiert auf der theol. Einsicht, dass Gott den Menschen allein durch den Glauben befähigt, die Gebote Gottes zu halten (Röm 3,21 31). Paulus legt daher großen Wert auf die B. des Herzens, die nicht einfach mit der B. am Fleisch gegeben sei (vgl. Apg 7,8.51), sondern von Gott durch den Geist vollzogen werde (Röm 3,25 29). Die B. Abrahams, das Zeichen des Bundes von Gen 17, wird mit Gen 15,6 als Siegel der Gerechtigkeit aus Glauben interpretiert (Röm 4). An die Stelle der B. am Fleisch tritt die Taufe in den Tod Jesu Christi als Ritus zum Eintritt in das neue Leben (Röm 6; Phil 3). I. A. Blaschke, Beschneidung, Tübingen u. a. 1998; K. Grünwaldt, Exil und Identität, Frankfurt/M. 1992; G. Schneemann, Die Deutung und Bedeutung der Beschneidung nach Exodus 4,24 26: CV 32 (1989) II. J. M. G. Barclay, Paul and Philo on Circumcision: NTS 44 (1998) ; F. W. Horn, Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum: NTS 42 (1996) Reinhard G. Kratz Besitz / Gut / Eigentum (B./G./E.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) Vorbemerkung: In der Antike gibt es wie in anderen vorindustriellen Gesellschaften nicht die Vorstellung eines unbegrenzten Wachstums, sondern vielmehr die der begrenzten Güter. Die durchgängige Erfahrung und allgemeine Annahme ist, dass von (fast) allen Gütern, materiellen wie immateriellen, in der Welt nur ein begrenztes und meist (zu) knapp bemessenes Quantum existiert. Da also nur die Verteilung der Güter variabel ist, muss die Vermehrung des eigenen Anteils an begrenzten Gütern wie Land, Reichtum ( Armut) oder Ehre stets auf Kosten anderer gehen. Jeder plötzliche oder stetige Zuwachs erscheint unter dieser Voraussetzung unnatürlich und erklärungsbedürftig; er weckt nicht nur den Neid der anderen, sondern auch den Verdacht, auf unlautere Weise durch übernatürliche Mittel (Magie) oder Betrug erworben zu sein. Eine übernatürliche Quelle anderer Art ist der göttliche Segen, dem der Fromme seinen Reichtum verdankt (vgl. Gen 30,27; 39,2 5). Dieser Segen als Ausdruck der göttlichen Patronage kann seinerseits als begrenztes Gut vorgestellt werden und Neid erwecken (vgl. Gen 4,3 8). Neben der Disposition zu Eifersucht/Neid (vgl. Koh 4,4; Mt 20,15) verbindet sich mit der Vorstellung der begrenzten Güter ein prinzipieller moralischer Vorbehalt gegen die als Selbstzweck betriebene Besitzakkumulation. Akzeptiert wird hingegen die prestigefördernde demonstrative Zur-Schau-Stellung von Reichtum, Überlegenheit und Macht (wozu auch das großzügige Verschenken gehört), sofern die betreffende Autorität als legitim gilt (vgl. 1 Kön 10). Zum Image des ehrbaren Mannes gehört die Bereitschaft, großzügig zu geben (Spr 3,27f). Nur wenige Güter, die meist (wie das Licht der Sonne) der göttlichen Sphäre angehören, unterliegen nicht der Begrenzung und können und sollen neidlos weitergegeben werden, z. B. die Weisheit (Weish 7,13f); allgemein unbegrenzte Güter bleiben einer paradiesischen imaginary time ( Alt) vorbehalten. Nur Gott als der Vollkommene kann alles und allen jederzeit reichlich schenken und neidet niemandem das Gute (Mt 5,45; Philo Cher ; vgl. auch den Einspruch der philos. Theol. gegen die in der griech.-röm. Welt weit verbreitete Furcht vor dem Neid der Götter bzw. des Schicksals, Plat. Tim. 29e; Aristot. metaph. 1,2,13, 982b/ 983a). I. AT: 1. Das AT kennt keinen abstrakten Begriff für E. Die zahlreichen Begriffe des Wortfelds nehmen E./B. jeweils unter konkreten Aspekten in
124 112 den Blick. So wird z. B. die Art der Aneignung benannt: Kauf durch die Wurzel qnh ( erwerben, kaufen mit den Derivaten miqnm = Erwerb, B., bes. Viehbesitz ; miqna = Erwerb, Kauf ; qinjan = B., Habe, E., Vermögen ), Erbschaft oder (auch: kriegerische) Inbesitznahme durch die Wurzeln jrš ( in B. nehmen, unterwerfen, aus dem B. verdrängen, beerben mit den Derivaten j e reša, j e rušša und moraš[a] = B. ), ngl ( als B. erhalten, in B. nehmen, als B. verteilen, Besitzer werden, E. haben mit dem Derivat nag a la = B., unveräußerlicher Erbbesitz ; hier ist im Allgemeinen die reguläre Erbfolge und gleichzeitig der individuelle Anteil an einem Gesamterbe gemeint). Mit der Aufteilung eines (gemeinsamen) B. haben zu tun gelæq ( Teil, Besitzanteil, B., Gewinn ; von glq = [zu/ver]teilen, Anteil erhalten/ geben ), gæbæl ( Seil, [Mess-]Schnur mit der Bedeutung das Abgemessene, abgemessener Landbesitz ) und goral ( Los[teil] mit der Bedeutung Anteil, Erbteil ). Die Verfügungsgewalt des Eigentümers betonen { a guzza ( E., Grundbesitz, von {gz = ergreifen, fassen, festhalten ) und ba}al ( Herr, Besitzer ). Im Sinne von Potenz und Vermögen können ko a g ( Kraft, Gewalt, Fähigkeit ) und kabod ( Gewicht, Ehre, Herrlichkeit ) auch den B. meinen. Weiter sind zu nennen }ošær ( Reichtum ), hon ( Güter, Vermögen ), tub ( G., Wohlstand, Glück, Güte, Schönheit ; von der Wurzel tob = gut sein ). Umfassend für den gesamten B. stehen auch metonymisch bajit ( Haus ) und Umschreibungen wie alles, was deinem Nächsten gehört (Ex 20,17; Dtn 5,21). Dem Begriff des individuellen Privateigentums am nächsten kommt s e gulla ( E.; bes. königlicher Privatbesitz, 1 Chr 29,3; Koh 2,8; am häufigsten für Israel als Jhwhs Privateigentum Ex 19,5; Dtn 7,6; 14,2; 26,18; Ps 135,4; Mal 3,17). I. 2. Grundsätzlich wird im AT der B. positiv bewertet. Gottes Segen verheißt Reichtum (Dtn 15,4; Ps 112,1 3), ein Leben in Armut dagegen ist unerträglich (Sir 40,28f). Gewarnt wird aber vor Habsucht (Sir 31,5 8), Hartherzigkeit (Dtn 15,7) und blindem Vertrauen auf den unsicheren B. (Spr 23,4f; Sir 11,18f). Legitimes E. ist zu achten und steht unter Gottes Schutz (Ex 20,15.17; Lev 19,11; Dtn 5,19.21; vgl. auch Dtn 19,14; 27,17; Spr 22,28), Regelungen für den Fall der absichtlichen oder unbeabsichtigten Schädigung fremden G. Besitz / Gut / Eigentum finden sich im Bundesbuch (Ex 21,18 22,16). Als wichtigster B. und Reichtum (auch als Zahlungsmittel) galt den viehzüchtenden (Teil-)Gesellschaften des AO Viehbesitz (Gen 13,2.5; 26,13f; 1 Sam 25,2), den bäuerlichen der Landbesitz. Dabei ist E. im Israel der atl. Zeit nicht zuerst individuelles Privateigentum, sondern das Nutzungs- und Zugriffsrecht sozialer Gruppen auf Güter aller Art, an dem der Einzelne partizipiert. Das Land z. B. gilt als der gemeinsame Erbbesitz ganz Israels (Dtn 12,9f; dagegen ist es im Heiligkeitsgesetz Jhwhs bleibendes E. und den Israeliten nur als Beisassen zur Nutzung überlassen, Lev 25,23); die einzelnen Sippen und Familien partizipieren daran mit ihrem jeweiligen Besitzanteil (vgl. die ideale Szene der Landverteilung Jos 13 21). Eine Verfügung über diesen familiären Erbbesitz ist nur eingeschränkt möglich, denn die konservative bäuerliche Mentalität mit ihrer Sippenethik fordert, dass das Land als unveräußerliche Lebensgrundlage der Familie unbedingt erhalten bleiben muss (Lev 25,23; Num 36,6 9; 1 Kön 21,3). Die Verfügungsgewalt über jeden B. wird dadurch eingeschränkt, dass Vermögen immer zur Unterstützung der bedürftigen Mitglieder des jeweiligen sozialen Netzwerkes verpflichtet. Dieses traditionelle gemeinschaftsbezogene Verständnis des E. begründet auch eine Reihe von Ansprüchen der Armen in Israel (Ex 23,10f; Lev 19,9f; 23,22; Dtn 14,28f; 24,19 22; Armut). Eine einschneidende Veränderung bedeutete das Aufkommen bzw. die Ausweitung der Geldwirtschaft in staatlicher Zeit, da nun handel- und akkumulierbare Güter immer wichtiger wurden. Diese neue Mentalität war vor allem Sache der städtischen Eliten ( Sozialstatus). Ihr Streben nach Besitzakkumulation führte zu sozialen Verwerfungen und brachte die schwächeren und rückständigeren Teile der Bevölkerung teilweise in Elend und Abhängigkeit. Verurteilt wird dies in der prophetischen Sozialkritik (vgl. Am 8,4 8; positiv dagegen die Darstellung von Josefs Handeln in Gen 47,13 26). Der Widerspruch der traditionellen Mentalität richtete sich insbes. gegen die neue Einstellung zum immobilen B., also gegen den Handel mit dem ererbten Grund und Boden (1 Kön 21; Jes 5,8; Mi 2,1f). Überhaupt wird es im AT abgelehnt, Güter auf die Qualität von Handelswaren zu reduzieren und mit ihnen
125 Besitz / Gut / Eigentum 113 nur zum Zweck des Profitmachens umzugehen. Das betrifft neben den Akkumulationspraktiken der Großgrundbesitzer und polit. Mächtigen auch das Zinsnehmen (Ex 22,24; Dtn 23,20f) und den Handel (Sir 26,29); beides gilt wegen des erzielten Profits bei fehlender eigener Wertschöpfung prinzipiell als betrügerisch (vgl. ähnlich die Ablehnung des schmutzigen Handels bei Cic. off. 1,42,150f, dort allerdings mit der Unterscheidung von vulgärem Krämertum und ehrenhaftem Groß- und Fernhandel; vgl. auch Aristot. pol. 1,3,10 22, 1256b-1258a). Die Abneigung gegen den Handel bestimmt die nachexil. bibl. Überlieferung vor allem in Auseinandersetzung mit dem phönizischen Mittelmeerzwischenhandel der pers.-hell. Zeit. Positiv wird der Handel nur beurteilt, wo er zum Reichtum Israels bzw. seiner Könige beiträgt (1 Kön 10,15). Die an der bäuerlichen Mentalität und am Sippendenken orientierten Programme einer Sozialreform im Dtn/DtrG, Heiligkeitsgesetz und ChrG wollen den dauernden Erhalt des Familienbesitzes durch Schuldenerlass, Freilassung aus Schuldsklaverei und die Rückgabe von verkauftem/verpfändetem Familienbesitz nach Ablauf einer bestimmten Frist sichern (Lev 25,8 55; Dtn 15,1 18; Neh 5,1 13; 10,32; vgl. außerdem die Anordnung einer regelmäßigen Sozialabgabe Dtn 14,28f; 26,12f). In der Realität fanden diese Bestimmungen freilich kaum Beachtung (1 Makk 6,49 53; Jer 34,8 17; das Jobeljahr blieb eine rein lit. Utopie; vgl. auch die rabb. Bestimmungen zur Umgehung der Rückgabeverpflichtung, den Verjährungseinspruch [Prosbul] Hillels, mshevi 10,3 6). Als gelebte Utopie wird das Prinzip des kollektiven B. in der institutionalisierten Gütergemeinschaft der Essener bzw. in Qumran zeichenhaft umgesetzt (vgl. Philo apol. 11,4; prob. 85f; Ios. bel.iud. 2,122; ant.iud. 18,20; 1QS 6,19f). Vergleichbare Ideale gibt es in der griech.-hell. Welt (Diog. Laert. 8,10; Plat. rep. 416d-417b; Plat. leg. 5,739b-e), aber auch entschiedene Befürworter des Privateigentums (Aristot. pol. 2,1,1 2,2,16, 1260b-1264b; Diog. Laert. 10,11). II. NT: 1. Für B. sind v. a. folgende Vokabeln wichtig: klvrow ( Los, Anteil, Erbteil ), klhronom2a ( Erbe, Erbteil, B. ), ploqtow ( Reichtum ), uhsazr3w ( Schatz ), mamvncw (aram. mamon[a] = Mammon, B., Reichtum, Vermögen ). II. 2. Anders als im AT werden B. und Reichtum im NT überwiegend kritisch bis negativ thematisiert. Während dies im AT nur der Fall ist, wo B. durch Beraubung, Ausbeutung und Unterdrückung erworben ist, gilt im NT weithin (bes. in der Logienquelle, im lk. Sondergut und bei Jak) der Reichtum per se als Gefahr für den Glauben (Mt 6,24par.; Mk 4,19par.; 10,17 25par.; Lk 12,15 21). Das AT ist geprägt von der Ausgangserfahrung einer kleinteiligen bäuerlichen Gesellschaft ohne allzu großen Besitzunterschiede ( ein Mann, ein Haus, ein Erbanteil, vgl. Mi 2,2), das NT dagegen von der Erfahrung größter Besitzungleichheit, da sich in der extrem stratifizierten Gesellschaft des röm. Imperiums das Vermögen in den Händen einer kleinen sozialen Elite konzentrierte, die auf nur 1 5 % der Bevölkerung veranschlagt wird, während die Angehörigen der unteren Schichten vielfach am Rande oder unterhalb des Existenzminimums lebten; eine Mittelschicht im modernen Sinn gab es nicht. Die Anhänger der Jesusbewegung und die Mitglieder der frühen christl. Gemeinden gehörten zumeist den unteren Schichten an. Sie waren zwar nicht alle im engeren Sinne arm und bedürftig, d. h. besitzlos bzw. bettelarm ( Armut), zählten aber jedenfalls nicht zur Macht- und besitzenden Elite, sondern allenfalls zu deren Gefolgsgruppen. Immerhin setzt die Besitzlosigkeit Jesu ( Jesus Christus), der Apostel und urchristl. Wandercharismatiker ebenso wie das spätere System entlohnter gemeindlicher Funktionsträger voraus, dass es eine gewisse Anzahl von Anhänger/innen bzw. Gemeindegliedern gab, die in der Lage waren, sie zu unterhalten wie auch die absolut Armen zu unterstützen (vgl. Mt 6,2 4; 27,57; Mk 6,7 11par.; Lk 8,1 3; 10,3 9par.; Apg 17,4.12; 1 Kor 9,13f; 1 Tim 5,17f; 6,17 19). Schon bald musste das Anrecht auf solche Unterstützung geregelt werden (2 Thess 3,6 12; 1 Tim 5,3 16; Did 11,3 13,7). Der Unterschichtperspektive des NT entspricht die kritische Sicht auf die Reichen und die Seligpreisung der Armen (Lk 6,20.24; Jak 2,5; 5,1 6). Arm und reich beinhalten auch klischeehafte Charakterzuschreibungen, nämlich demütig vs. hoffärtig (Mt 5,3; Lk 1,46 55; vgl. schon Ps 37). Die Reichen werden pauschal der Ausbeutung (Jak 2,6; 5,4) und Habsucht geziehen. Das kommende Gottesreich wird diesen
126 Bild 114 ungerechten Besitzverhältnissen ein Ende machen (Lk 6,24f; 16,25). Christus ist das Vorbild für die Liebe (2 Kor 8,9), die bereit ist zu unbegrenztem Geben (Lk 6,29f.par.), zum Besitzverzicht (Mk 10,21par.; Lk 12,33f; 14,33; 19,8) und zum solidarischen Teilen (Lk 3,10f; 14,12 14; Apg 2,44f; 4,32 37; 2 Kor 8f, Hebr 13,16; Jak 2,15 17; Did 4,5 8). Die Warnung vor Habgier ist fester Bestandteil der Paränese (1 Kor 6,10; Eph 5,3.5; Hebr 13,5). Nur im Gleichnis werden die Praktiken der Besitzakkumulation und sogar betrügerische Verhaltensweisen als Bildspender fruchtbar gemacht (Mt 25,14 30par.; Lk 16,1 9). Als wünschenswert gilt nicht der Reichtum, sondern das Nötige (1 Tim 6,6 10; vgl. schon Spr 30,8f). Die geforderte innere Freiheit vom B. hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Topos der Unabhängigkeit von den zeitlichen Glücksgütern in der hell. und kaiserzeitlichen Philos. (Sen. epist. 17 und 98; vgl. 1 Kor 7,29 31; Phil 4,11 13), doch ist im NT die Autarkie kein Wert an sich. Wichtiger ist der Gedanke, dass aller B. nur von Gott anvertraut ist (vgl. Mt 25,14 30par.; vgl. auch den Topos vom treuen Verwalter, Lk 12,42 46par.; 1 Kor 4,2; 1 Petr 4,10; laut Philo Cher ; spec. 1,295 ist nach Lev 25,23 und Ijob 1,21 die gesamte menschliche Existenz und Lebenszeit so zu betrachten; vergleichbare Gedanken finden sich bei Sen. epist. 88,12). In Kontinuität zum AT steht das NT mit alledem, insofern nur B., der der Verpflichtung zur solidarischen Unterstützung des Nächsten nicht entzogen wird, als legitim gilt. Unter sozioökonomischen Gesichtspunkten kann man von Mutualismus (lat. mutuus bzw. engl. mutual =gegenseitig) sprechen, der sich sowohl als alternative ökonomische Überlebensstrategie wie auch als explizites Gegenmodell zu den dominierenden hierarchischen Relationen darstellt, d. h. zum Patron-Klient-Modell und zum Euergetismus (zur Schau gestellte Wohltaten, vgl. Lk 22,24 27). Der Topos von Gottes Eigentumsvolk ( Volk) wird im NT auf die Gemeinde übertragen (Eph 1,14; Tit 2,14; 1 Petr 2,9); ihr Erbteil ist bei Gott (Apg 20,32; Röm 8,17; Gal 3,29; 4,7; Kol 1,12; 1 Petr 1,4). Doch auch die (ungehorsame) Welt insgesamt ist Gottes E. (Joh 1,11). I. R. Kessler, Gott und König, Grundeigentum und Fruchtbarkeit: ZAW 108 (1996) ; J. Pastor, Land and Economy in Ancient Palestine, London 1997; R. Westbrook, Property and the Family in Biblical Law, Sheffield 1991; C. J. Wright, God s People in God s Land, Grand Rapids II. M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche, Stuttgart 1973; B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart u. a. 1993; J. J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, Edinburgh 1998; V. Petracca, Gott oder das Geld, Tübingen u. a. 2003; E. W. Stegemann/W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart u. a ; G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, München Klaus Neumann Bild (B.) ( Dachartikel: Kult) Bild Vorbemerkung: In sämtlichen Kulturen des AO wurden die Götter in B. (hebr. pœsœl, Schnitzbild, Skulptur, Götterbild, masseka Gussbild oder sœmœl Bild ; griech. glzpt3w, aber auch exk5n oder ezdvlon), d. h. in anthropomorphen und theriomorphen Götterdarstellungen verehrt. Formen der anikonischen Götterverehrung, wie die steinernen Masseben und hölzernen Ascheren, standen nicht in Konkurrenz zum Bilderkult, sondern waren eine parallele Erscheinung. I. AT: 1. Es wäre ein Wunder, wenn es sich im alten (vorexil.) Israel und Juda anders verhalten haben sollte. Doch genau das behauptet die Bibel, die mit aller Macht gegen die Götterbilder und andere Kultsymbole polemisiert und im Hauptgebot des Dekalogs Darstellungen der anderen Götter wie der eigenen Gottheit streng verbietet (Ex 20,4; Dtn 5,8; vgl. Dtn 4,15 18). Doch wogegen polemisiert und was verboten werden muss, das liegt im Bereich des Möglichen, und so ist damit zu rechnen, dass man auch in Israel und Juda seine Götter ursprünglich einmal in diversen Arten von B. (Schnitzbildern, Repräsentationsbildern usw.) und verwandten Objekten verehrte, wozu es in der Sprache der Bibel eine überaus differenzierte Terminologie gibt (s. o.). Dafür spricht nicht nur die scharfe Polemik der bibl. Schriften, die einen Anlass gehabt haben muss, sondern auch der archäologische, ikonographische und epigraphische Befund. Auch er ist nicht über jeden Zweifel erhaben. So wurde bisher kein B. gefunden, das durch eine zugehörige Inschrift eindeutig als Darstellung Jhwhs ausge-
127 Bild 115 wiesen wäre. Doch hat dies nicht allzu viel zu besagen: Auch von Milkom, dem Gott der Ammoniter, oder Kemosch, dem Gott der Moabiter, haben sich, soweit unsere Kenntnis reicht, keine Plastiken oder andere Darstellungen erhalten. Vielleicht hängt das Fehlen von Belegen damit zusammen, dass die Kultbilder der syr.-paläst. Kleinstaaten nach ihrer Eroberung von den Assyrern und Babyloniern abtransportiert wurden, wie es Reliefs und Inschriften für Gaza, Aschdod, Aschkelon und Samaria dokumentieren. Vor Ort haben sich im kultischen Kontext (bisher) nur Masseben gefunden ( Tempel von Arad). Wie die Ausgrabungen des (edom.?) Heiligtums Gorvat Qitmit im Negev aus dem späten 7. Jh. v. Chr. beweisen, schließen sich Masseben- und Bilderkult keineswegs aus. Im Übrigen dürften angesichts der bescheidenen Dimensionen der Kleinstaaten ohnehin nicht sehr viele Exemplare der teuren Kultbilder in Gebrauch gewesen sein. Nach dem Untergang der Monarchien ist gegen Ende der E-Zeit denn auch eine deutliche Tendenz zur Bevorzugung von Kultemblemen, -standarten und -symbolen zu verzeichnen, die mit der in den bibl. Schriften einsetzenden Polemik und Kritik der B. unter dem Vorzeichen des ersten Gebots Hand in Hand geht. Deutlichere Hinweise als aus dem Bereich der Staatsrel. haben sich für die private und regionale Frömmigkeit gefunden. Vereinzelt haben sich bronzene Statuetten von Göttern (seltener Göttinnen), wie sie in der B-Zeit üblich waren, auch in der E-Zeit im 1. Jt. v. Chr. erhalten. Verbreiteter waren jedoch, nicht zuletzt wieder aus ökonomischen Gründen, Statuetten aus Stein, Terrakotta und Holz. Bei den Kleinterrakotten dominieren im 1. Jt. die weiblichen Darstellungen gegenüber den männlichen. Bes. auffällig sind die judäischen Pfeilerfigurinen aus dem 8./7. Jh. v. Chr., bei denen allerdings nicht klar ist, ob es sich um Darstellungen einer Göttin (Aschera) und Objekte der Verehrung oder um einfache Symbolträger der Fruchtbarkeit, also um Amulette und Hilfsmittel der Götterverehrung handelt. Immerhin kennt man die Darstellung eines Götterpaares aus dem 8. Jh. v. Chr., die das inschriftlich für dieselbe Zeit belegte Götterpaar Jhwh und seine Aschera darstellen könnte (Abb. 15). Aber auch Tierdarstellungen, darunter der in der Abb. 15: Terrakotte aus Tell Bet Mirsim. Ein Götterpaar auf einem Sphingenthron. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb E-Zeit II wieder vermehrt auftauchende (Apis-) Stier, sind belegt. Der Befund ist also sehr vielfältig und lässt auf ein ungebrochenes Verhältnis zu bildlichen Darstellungen von Göttern und Göttinnen schließen. Doch ist auch er nur als indirektes Zeugnis für die Existenz von Kultbildern in Israel und Juda zu werten, da der kultische Kontext in den meisten Fällen fehlt. I. 2. Ein indirektes Zeugnis bieten, zieht man die Polemik ab, auch die bibl. Texte. Sie wissen davon, dass und wie Kultbilder behandelt wurden: dass sie aus allerlei Materialien von Fachleuten hergestellt, durch kultische Riten belebt und geweiht werden mussten, damit die Gottheit ihnen einwohnt (Jes 44,9 20; Jer 10,3 5.8f), und dass sie bekleidet (Jer 10,9; Ez 16,18), mit Speiseopfern genährt (Ez 16,18f), mit Rauchopfern gnädig gestimmt (Jes 66,3; Ez 8,11) sowie durch Proskynese und Gebet verehrt wurden (Jes 2,8.20; 44, ). Ganz unbefangen erzählt Ri von der Anfertigung eines Kultbildes für den privaten Gebrauch. Aus 1 Kön 12,26 33 erfährt man, dass Jerobeam zwei Stierbilder, eines in Bet- El und eines in Dan, aufgestellt haben soll, die Jhwh repräsentierten (V. 28). Späte Reflexe darauf sind die berühmte Geschichte vom goldenen Kalb in Ex 32 sowie die Polemik des Hosea in Hos 8,5f; 10,5f, 13,2. Man kann fragen, ob der Baal von Samaria (1 Kön 16,32) und der Baal von Jerusalem (2 Kön 23,4) in Wirklichkeit nicht (nur) den Baal, sondern (auch) Jhwh verkörperten. Dass Aschera nicht nur ein hölzernes Symbol der Fruchtbarkeit, sondern eine Gottheit, und zwar vermutlich
128 Bilderverbot 116 die Gattin Jhwhs war, geht aus 1 Kön 15,13; 2 Kön 23,4.6f hervor. Die eherne Schlange im Tempel zu Jerusalem (2 Kön 18,4) und die Andeutungen in Ez 8,10 lassen auch an Tierbilder als Gegenstand der kultischen Verehrung denken. I. 3. Die Ablehnung der Götterbilder im AT gründet auf dem in exil. Zeit entstandenen ersten Gebot, der Forderung der Ausschließlichkeit Jhwhs, und dem monotheistischen Bekenntnis (zu einer anderen Einschätzung der Entstehung des ersten Gebotes und des Bilderverbotes Bilderverbot). Unter dieser Prämisse wurden zuallererst die fremden Götter und ihre B. geächtet und mit der Zeit wurde ihre Ausrottung aus Israel verlangt (Dtn 12; vgl. 2 Kön 23). Mit den B. der fremden Götter fielen aber auch die Kultbilder Jhwhs und der anderen in Israel und Juda verehrten, einheimischen Gottheiten in Ungnade. Sämtliche B. aus Silber und Gold, Holz und Stein wurden zum Fremdkult gerechnet und unter Verbot gestellt, nicht zuletzt um Verwechslungen auszuschließen und sich, um als Einheit überleben zu können, von allen anderen zu unterscheiden. Die Polemik nach innen und außen wurde zunächst mit dem ersten Gebot auf der theol. Ebene geführt. Mehr und mehr nahm sie jedoch rationalistische Züge an und führte den Bilderkult aus sich selbst ad absurdum (Jes 40,18 20; 41,6f; 44,9 20; 45, ; 46,5 8; Jer 10,1 16; Ps 115,4 8; 135,15 18). Namentlich attackiert werden Dagon von Aschdod (1 Sam 5) und die bab. Götter Nebo und Bel/Marduk (Jes 46,1; Jer 50,2; 51,44). Der Theol. des Kultbildes wurde ihre Grundlage, die göttliche Herkunft und die in Mesopotamien durch das Ritual ( Ritus) der Mundöffnung bewirkte Belebung des Gottesbildes, entzogen, womit die B. auf die Materialien begrenzt und als leblose Artefakte von Menschenhand der Lächerlichkeit preisgegeben werden konnten. Diese Entwicklung setzt sich in hell.-röm. Zeit fort und trifft sich hier mit der philos. Götterkritik von innen (Bar 6; Weish 13 15). Daneben hat sie in dieser Zeit jedoch vor allem identitätsstiftende Bedeutung in der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus (Jub; Zusätze zu Dan) und gehört zum Programm des makkabäischen Widerstands (1 Makk 5,68; 13,47). An die Stelle der Kultbilder trat die Tora (1 Makk 3,48). Zeitweise und je nach kulturellem Kontext wurde im späteren Judentum das Bilderverbot auf bildliche Darstellungen aller Art ausgedehnt (vgl. Dtn 4). II. NT: Für das NT (zur Terminologie s. o.) ist die Ablehnung und Polemik gegen den Bilderkult selbstverständlich. Kultbilder gelten als Inbegriff des Heidentums (Röm 1,23), als menschliches Machwerk (Apg 17,24f; 19,26) oder Ort der Dämonen (1 Kor 10,20f). Die Bekehrung zu Christus ist gleichbedeutend mit dem Abschwören von den Götzen, Götzendienst folglich Abfall von Christus (1 Kor 10,7; Gal 5,20; 1 Thess 1,9). I. A. Berlejung, Die Theologie der Bilder, Fribourg 1998; C. Frevel, Du sollst dir kein Bildnis machen!, in: B. Janowski/N. Zchomelidse (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Stuttgart 2003, 81 93; O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Fribourg ; K. van der Toorn (Hg.), The Image and the Book, Leuven II. I. Baldermann u. a. (Hg.), Die Macht der Bilder, Neukirchen- Vluyn 1999; F.-W. Eltester, Eikon im Neuen Testament, Berlin Reinhard G. Kratz Bilderverbot (B.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) Bilderverbot I. AT: 1. Das B. ist weder ein allgemeines Kunstverbot noch verbietet es die bildliche Darstellung bestimmter Phänomene der sichtbaren Welt. Es richtet sich ausschließlich gegen die Anfertigung bzw. den Gebrauch von materiellen Kultbildern (hebr. pœsœl Skulptur, masseka Gussbild ), seien es solche des eigenen Gottes oder solche anderer Gottheiten ( Bild). Für die Frage nach seiner Herkunft gibt es unterschiedliche Modelle, von denen das religionsgesch. Modell die größte Wahrscheinlichkeit besitzt. Archäologische, epigraphische und ikonographische Zeugnisse sowie bibl. Texte lassen keinen Zweifel daran, dass auch im Israel und Juda des 1. Jt. v. Chr. Gottheiten in Gestalt ihrer Kultbilder verehrt wurden. Die Distanzierung des Jhwh-Glaubens vom Bilderkult seiner Umwelt bzw. von jeder Form eines baalisierten Jhwh-Kults (Hosea) hängt eng mit der Ausschließlichkeitsforderung und dem (späten) monotheistischen Bekenntnis zusammen. I. 2. Die Geschichte des B. lässt sich wie folgt skizzieren: Im Kult der vorstaatlichen und frühkönig-
129 Bilderverbot 117 lichen Zeit gibt es keinen Hinweis auf ein Jhwh- Kultbild. Lade (1 Sam 3,3; 4,4 u. a.), Keruben (1 Kön 6,23ff; 8,*1ff) und Stierbild von Bet-El (1 Kön 12,26 32dtr.) ist die Funktion gemeinsam, die Präsenz einer nicht abbildbaren Gottheit anzuzeigen (anikonische Jhwh-Verehrung). Die prophetische Kritik an Kultbildern (Hos 13,2 u. a.) hat ihren Ursprung in der Forderung der Alleinverehrung Jhwhs, die als intolerante Jhwh- Monolatrie zuerst im Nordreich (1 Kön 18,21) auftrat. Der Alleinverehrungsanspruch Jhwhs des 9./8. Jh. v. Chr. hat als Spezialfall die erste Bilderkritik (Hos 13,4; Ex 32, und als deren Konsequenz das spätere B. (Ex 20,4par.) geboren. Mit der dtn. Forderung der Verehrung des einen Gottes Jhwh (Dtn 6,4) an der einen Kultstätte (Dtn 12,4 7) ist der entscheidende Schritt vom Polyjahwismus (vgl. Kuntilet }Akrud, Hirbet el-kom) zum Monojahwismus getan. Für das Verständnis des B. in den beiden Dekalogen (Ex 20,4par.) sind zwei Aspekte entscheidend: Das B. verbietet die Herstellung von Kult-/Götterbildern aus Stein, Holz, Ton oder Metall (Ex 20,4; 34,17; Dtn 4, ; 27,15 u. a.). Zudem steht das B. im Zusammenhang mit dem Fremdgötterverbot (Ex 20,3; Dtn 5,7), ist also eine Konkretisierung der Forderung nach Alleinverehrung Jhwhs. B. und Fremdgötterverbot haben eine gemeinsame Geschichte, die in den bes. Gottesvorstellungen Israels gründet. Spätestens im 8. Jh. v. Chr. wird die prophetische Bilderkritik als Kritik an der Ambivalenz des Kultbildes zu einer Funktion des Alleinverehrungsanspruchs Jhwhs. Sie verfolgt das Ziel, die Bildlosigkeit und damit die Unverfügbarkeit Jhwhs zu wahren. In nachexil. Zeit lassen sich unterschiedliche Tendenzen erkennen: Begründet wird das B. nur in der Paränese Dtn 4,15 18: Israel habe am Horeb keinerlei Gestalt (t e muna) gesehen, Jhwh aber habe zu ihm aus dem Feuer gesprochen. Deshalb solle es kein Kultbild (pœsœl) von der Gestalt irgendeines Standbildes (sœmœl) nach dem Vorbild eines Mannes, einer Frau oder eines Tieres machen und auch die Gestirne nicht verehren. Nicht die Gestalthaftigkeit Gottes wird bestritten, sondern deren sichtbare Wahrnehmung in der Theophanie am Gottesberg. Seit der hell. Zeit schließlich wird die mit dem B. verbundene Ausschließlichkeitsforderung von paganen Autoren als herausragendes Spezifikum der jüd. Rel. verstanden, sei es negativ als Ausdruck ihrer Fremdartigkeit, sei es positiv als Zeichen einer philos. Gottesvorstellung. Bis heute wird sie als Argument für die prinzipielle Andersartigkeit der bibl. Gottesvorstellung angeführt. II. NT: 1. Das NT setzt sowohl das atl. B. als auch das Fremdgötterverbot durchgehend voraus, da es in der Kontinuität zum AT die Alleinverehrung Gottes fordert. Auf diesem Hintergrund greift Paulus auf die jüd.-hell. Götzenpolemik zurück, wenn er in 1 Thess 1,9 und 1 Kor 8 und 10 scharf zwischen christl. Gottesverehrung und heidnischem Götzendienst (exdvlolatre2a) unterscheidet (vgl. ezdvlon Gestalt, Bild, Götze ). Das NT übernimmt hier den Sprachgebrauch der LXX (vgl. ezdvlon als Götze in Apg 7,41; 15,20; Röm 2,22; Offb 9,20 u. a.). Analog kann auch exk5n (im Griech. für Abbild, Statue, Gleichnis, Manifestation ; vgl. Hdt. 2,130,4; Plat. leg. 11,931a) in der LXX für von Menschenhand gemachte Götterbilder verwendet werden (vgl. LXX Dtn 4,16; 2 Kön 11,18; 2 Chr 33,7; Dan 2f). Im NT findet exk5n Verwendung als Münzbild des Kaisers (Mk 12,16par.), das im Kontext des verwerflichen Kaiserkultes wahrgenommen wird (vgl. das Bild des Tieres, vor dem die Menschen zur Proskynese gezwungen werden, in Offb 13,14f; 14,9.11; vgl. die Nähe zu Dan 3), und als Gestalt bzw. Götzenbild eines vergänglichen Menschen, mit dem die Götzendiener die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschen (Röm 1,23; vgl. LXX Ps 105,20). II. 2. Grundlegend für das NT ist die Aufnahme des atl. Motivs der Gottebenbildlichkeit ( Ebenbild) des Menschen (vgl. 1 Kor 11,7 mit der schwierigen, in Gen 1,26 28 so nicht vorgegebenen Zuordnung der Geschlechter). Im Zusammenhang der Adam-Christus-Typologie hält Paulus fest: Diejenigen, die aufgrund ihrer menschlichen Geburt das Bild des Irdischen tragen, werden durch Gnade auch das Bild des Himmlischen tragen, d. h. an der verklärten Herrlichkeit des Auferstandenen teilhaben (1 Kor 15,49; vgl. 2 Kor 3,18; Röm 8,29: Gleichgestaltetwerden mit dem Bilde Christi ; zu dieser Vorstellung vgl. mit anderen Akzenten auch Philo LA 1,31f; opif. 134). Als Höhepunkte christologischer Bekenntnisaus-
130 Blut 118 sagen deuten 2 Kor 4,4 und Kol 1,15 Jesus Christus als Ikone (exk5n) Gottes: Gott selbst ist gegenwärtig und offenbart sich in ihm. Der unsichtbare, nicht in einem Kultbild abbildbare transzendente Gott wird ansichtig in menschlichem Fleisch (vgl. in Joh 1,14 die Fleischwerdung des Logos und die Schau seiner Doxa (= Herrlichkeit); in den Past. das Erscheinen der Gnade Gottes bzw. der Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, Tit 2,11; 3,4). Auch Philo ordnet dem Logos anders als Paulus allerdings in eingeschränkter Repräsentanz als exk5n Gottes die hypostasierte Erkennbarkeit Gottes (H. Jonas) zu (vgl. Philo conf. 96f; 148; LA 3,100). I. A. Berlejung, Die Theologie der Bilder, Fribourg 1998; C. Dohmen, Das Bilderverbot, Königstein u. a ; C. Frevel, Du sollst dir kein Bildnis machen!, in: B. Janowski/N. Zchomelidse (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Stuttgart 2003, 23 48; S. Schroer, In Israel gab es Bilder, Fribourg II. I. Baldermann u. a. (Hg.), Die Macht der Bilder, Neukirchen- Vluyn 1999; F.-W. Eltester, Eikon im Neuen Testament, Berlin 1958; O. Keel, Das biblische Kultbilderverbot und seine Auslegung im rabbinisch-orthodoxen Judentum und Christentum, in: P. Blickle u. a. (Hg.), Macht und Ohnmacht der Bilder, München 2002, 65 96; R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium, Tübingen Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Blut (B.) ( Dachartikel: Anthropologie) Blut I. AT: 1. Wie in den meisten anderen Kulturen auch, ist B. in der Bibel ein bes. Saft. Das B. (hebr. dam, griech. auma) steht für Vitalität und die individuelle Persönlichkeit des Menschen, es gilt als Sitz der Lebenskraft aller höheren Lebewesen ( Leben). Deshalb genießt B. eine bes. hohe Wertschätzung, in der das Bemühen zu erkennen ist, das B. der Verfügung durch den Menschen zu entziehen. Die gerade am AT geübte Kritik, es werde zu leichtfertig und zu viel B. vergossen, verkennt die gleichzeitig gegebene hohe Wertschätzung und Tabuisierung des B. Neben die physische treten die soziologische und die kultische Dimension des B. I. 2. Das Wissen um die Grundsubstanz des Lebens war in der Antike begrenzt. Unmittelbar einsichtig war nur der Zusammenhang von Blutvergießen und Auslöschung des Lebens. Als Sitz der Lebenskraft war B. daher nahe liegend. In den Erzählungen von der Menschenschöpfung spielt B. häufig eine zentrale Rolle, etwa in dem akkad. Atramhasis-Mythos, wo das B. eines Gottes mit Lehm vermischt wird oder im bab. Mythos enuma eliš, wo Marduk aus dem B. des Gottes Kingu den Menschen formt. Demgegenüber fällt für den bibl. Bereich auf, dass dort B. weder in den Schöpfungsberichten Gen 1 3 noch in Menschenschöpfungspassagen (z. B. Ps 139,13f; Jes 44,2; Jer 1,5; Ez 37,5f) eine Rolle spielt. Erst in Weish 7,1f, aus dem 1. Jh. v. Chr., wird die beobachtete Gerinnung des B. (unter hell. Einfluss) mit der Entstehung des Menschen im Mutterleib in Verbindung gebracht. Möglicherweise steht diese Vorstellung auch in Ijob 10,10 und später in Joh 1,13 im Hintergrund. I. 3. Verwandtschaft wird aufgrund der Unkenntnis des physisch-genetischen Zusammenhangs bibl. nicht über den Terminus B., sondern über Fleisch ausgedrückt (Gen 2,23; Lev 18,6; Ri 9,2). Erst im Zusammenhang der Institution der Blutrache wird B. quasi zur sozialen Kategorie. Dem nächsten männlichen Verwandten eines Mordopfers ist es danach als Auslöser des B. (go{el haddam) erlaubt, den Mörder zu töten, es sei denn, dieser flüchtet in eine Asylstadt, um sich einem ordentlichen Rechtsverfahren zu stellen (Num 35; Dtn 19; Jos 20). Das Instrument der Blutrache ist nicht als maßlose Rache, sondern als Begrenzung der Vergeltung zu verstehen. Vom Ursprung her ist ihr Ziel der (durch Abschreckung und Tabuisierung wirksame) Schutz des Lebens in einem Kontext, in dem eine staatlich organisierte Strafverfolgung ( Verbrechen) fehlt. Da das Vermeiden von Blutvergießen oberstes Ziel ist, kann B. als Synonym für Gewalt, insbes. Mord stehen. Für absichtliche Tötungsdelikte steht häufig der Plural (Ex 22,1f; Dtn 19,10; Hos 4,2) und Mörder werden als Blutmenschen bezeichnet (2 Sam 16,8; Ps 26,9 u. a.). Das unschuldig vergossene B. stellt eine die Dynamik des Lebens noch weitertragende Macht- und Gefahrensphäre dar. So schreit das B. von der Erde, auf die es vergossen wurde, wenn es unbedeckt bleibt (Gen 4,10; 37,26; Dtn 21,1 9; Ijob 16,18 u. a.). Von dem Glauben an eine bes. Wirksphäre des B. zeugt auch die formelhafte Wendung das
131 Blut 119 B. komme über jemandes Haupt (Jos 2,19; 2 Sam 1,16; 1 Kön 2,33; Ez 18,13; Mt 27,25; Apg 5,28; 18,6 u. a.), mit der eine symbolische Schuldübernahme für den Tod eines Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Der Pascha-Ritus, bei dem Türsturz und Türpfosten mit B. zur Abwehr eines lebensbedrohlichen Nacht-Dämons ( Dämon) bestrichen werden (Ex 12,20), wie auch die dunkle Erzählung von der Beschneidung des Blutbräutigams (Ex 4,24 26) zeigen archaische Reste von apotropäischen (Unheil abwehrenden) Blutriten. In kultischem Kontext ist B. hochgradig mit Reinheit und Heiligkeit konnotiert. Durch den physischen Kontakt durch Besprengen oder Bestreichen wird der Gegenstand oder die Person geheiligt (Ex 29,20f; Lev 8,23f) bzw. bes. deutlich in dem Aussatzritual Lev 14 gereinigt. Die Ausgießung des B. kommt bei allen blutigen Opferarten ( Opfer) vor. Sie wird stets am Brandopferaltar vorgenommen. Dennoch ist das Ausgießen des B. am Altar selbst kein Opfervorgang, denn auch das B. einer profanen Schächtung soll am Altar ausgegossen werden. B. ist also im engeren Sinn keine Opfermaterie. Sie ist es nur insofern, als dass das B. an Gott, den Geber allen Lebens, zurückgegeben wird. Zugleich soll das B. als Sitz des Lebens der magischen Manipulation entzogen werden, wobei es einen rituellen Umgang mit B. im Kult durchaus gibt. Bes. herauszustellen ist die Blutapplikation im Kontext der Sühneriten an Vorhang, Altar oder der Deckplatte der Lade/ Kapporœt (Ex 29,16; Lev 1,5.11; 3,2.8.13; 4,6.17; 7,2; 16,14 u. a.). Durch den Kontakt überträgt sich die reinigende und damit sühnende Heiligkeit des B. auf die Symbole der Gottesbeziehung, an denen durch die Sünde Unreinheit haftet ( Versöhnung). Im Kontrast zu der sühnenden Funktion des B., die für die ntl. Rezeption des B. Christi von Bedeutung ist (1 Petr 1,2.19; Hebr 9f u. a.), steht die verunreinigende Kraft des B. Diese gilt nicht nur für das unschuldig vergossene B. (Num 35,33f; Ez 22,4; Ps 106,38 u. a., vgl. den Blutacker Apg 1,19), sondern auch für das Menstruationsblut oder das bei einer Geburt austretende B., das die Frau ohne Zutun unrein werden lässt (Lev 12,7; 15,19). Der Sexualkontakt mit einer Menstruierenden ist deshalb nach Lev 20,18; Ez 18,6; 22,10 untersagt. Die durch den Blutfluss unreine Frau kann durch den liminalen Kontakt mit der Heiligkeit des vollkommen Reinen wieder gesund, d. h. auch rein werden (Mt 9,20 22; Mk 5,25 34; Lk 8,43 48). Da die Lebenskraft im B. sitzt (Lev 17,11; Dtn 12,23), ist bibl. der Genuss von Menschenblut tabuisiert (vgl. 2 Sam 23,17; 1 Chr 11,19), auch wenn manche Kriegsschilderung vom Trinken des B. spricht (Ez 39,18f; Sach 9,7.15; Jes 49,26; Offb 16,6). Auch der Genuss tierischen B. bleibt generell untersagt (Gen 9,4; Ex 22,30; Lev 11,8; 19,26; Dtn 12, ; 15,23 u. a., vgl. im Apostelkonzil Apg 15,20.29; 21,25). Vor der Kultzentralisation im 7. Jh. v. Chr. soll die Schächtung von Tieren nur an Heiligtümern stattfinden. Das B. soll aufgefangen und am Altar ausgegossen werden. Damit soll das B. jeglicher Manipulation entzogen und dem Geber allen Lebens zurückgegeben werden, der am Altar in bes. Weise präsent ist. II. NT: 1. Die engen Verbindungen zwischen beiden Testamenten in der Auffassung vom B. (griech. auma) wurden bereits aufgezeigt. Hier geht es um wenige ergänzende Aspekte, wobei der Bundeskontext des AT mit eingebunden wird. Wenn im Kontext des Abendmahls (Mk 14,24; Mt 26,28; Lk 22,20; 1 Kor 11,25; Joh 6,48 58) vom Trinken des B. Jesu die Rede ist, kann das in jüd. Sicht als anstößig empfunden werden. Traditionsgesch. Hintergrund des Kelchwortes ist die Verbindung des Segensbechers beim Paschamahl mit dem Bundesschluss am Sinai. Der Bundesschluss bedient sich mit dem Blutritus in Ex 24,8 der Symbolik zweier gleicher Teile, um beide Vertragspartner gleichwertig einzubinden (vgl. die beiden Tierhälften Gen 15 oder das Zwei-Tafel- Motiv im Sinaibund), formt daraus aber einen singulären Ritus. Der Altar vertritt den göttlichen Partner, mit der anderen Hälfte des B. wird das Volk nach der Verlesung der Bundesurkunde als Bundespartner besprengt und so der Bund geschlossen. Das Besprengen mit dem B. des Opfertieres hat neben der Symbolisierung des Bundesschlusses zugleich reinigende und heiligende Wirkung für das Volk (vgl. den Bezug zu Ex 19,6). Im Kelchwort wird der Zusammenhang des Bundesblutes aus Ex 24 eingespielt und bei Mt mit der Sündenvergebung verknüpft. Hier mag zwar auch der Gottesknecht von Jes 52,13 53,12 im Hintergrund stehen, jedoch spielt das Paradig-
132 Böse 120 ma des Sühnopferkultes die primäre Rolle. Diese Linie wird in der Aussage aufgenommen, dass das B. Christi erlöst (Röm 5,9; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; Hebr 9,13f; Offb 1,5), Jesus Christus der Sühnort (Wlast1rion) ist (Röm 3,25) oder sein B. der Besprengung Sühne wirkt (Hebr 12,24; vgl. 1 Petr 1,2; 1 Joh 1,7 u. a.). I. T. Abusch, Blood in Israel and Mesopotamia, in: S. M. Paul u. a. (Hg.), Emanuel, Leiden 2003, ; C. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, Neukirchen- Vluyn 2002; K. Koch, Der Spruch Sein Blut bleibe auf seinem Haupt und die israelitische Auffassung vom vergossenen Blut, in: ders., Spuren des hebräischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 1991, ; A. Schenker, Das Zeichen des Blutes und die Gewißheit der Vergebung im Alten Testament: MThZ 34 (1983) II. F. V. Reiterer, Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut : HlD 37 (1983) 16 35; ders., Was soll es bedeuten: Erlöst durch Blut?: HlD 37 (1983) Christian Frevel Böse (B.) ( Dachartikel: Ethik) I. AT: 1. Das Hebr. kennt eine Vielzahl von Begriffen für das B. Wichtig sind ra}a ( B., Übel, Unheil, Bosheit ) und ra} ( böse, schlecht, bösartig, hässlich, Subst. das B., Schlechte ). I. 2. Das B. der Begriff ist im AT eng verbunden mit Sünde und Verbrechen/Unrecht wird in der Bibel nicht primär theoretisch, sondern allenfalls in narrativer Form (Gen 1 11) reflektiert. Das B. wird vor allem als Widerfahrnis der Wirklichkeit des menschlichen Lebens gedeutet. Da es grundsätzlich die von Gott seiner Schöpfung eingeschriebene gute Ordnung verletzt (Ps 82), ist jedes B. immer auch gegen Gott selbst gerichtet und zugleich ein Frevel am Heiligen. Es geschieht als Provokation (Gen 38,7; 39,9; Dtn 4,25; Ri 2,11; Jes 59,15) ihm zuwider. Der Gedanke, dass das B. Gottes Zorn und End-Gericht nach sich zieht (Ps 85,4; 69,25; Hos 4,1; Jes 13,19; 47,10; Jer 4,26; 1 Thess 4,6; Kol 3,5), ergibt sich zunächst aus seinem Schöpfersein und seinem Wächteramt über seine Schöpfung, dann aus der Offenbarung seines Willens in der Tora, die dem Menschen ein Leben ohne Anheimgabe an das B. ermöglicht (Dtn 30,15; Mi 6,8). In der dtr. Böse Theol. wird dieser Zusammenhang zu einem zentralen Motiv der Geschichts- und Bundestheol. ( Bund), indem das B., das Israel tut, als gewusstes und bewusstes Handeln gegen Gott qualifiziert wird. Die Frage nach dem Woher des B. wird bibl. nicht eindeutig beantwortet. Neben der Vorstellung der Pankausalität Gottes (1 Kön 21,29; Jes 45,7; Ijob 1,21; 5,18) wird das B. dem Wollen des Menschen zugeschrieben (Gen 4,7; 8,21; Mk 7,21 23). Die Problematik der Beziehung beider Vorstellungen zueinander wird in Gen 2f deutlich: Trotz der Setzung Gottes (Gen 2,17) entscheidet sich der Mensch für das in der Schlange inkorporierte B., die aber ein Geschöpf Gottes ist (Gen 3,1). Dass das B. wirksam wird, ist der Verantwortung des Menschen zuzuschreiben. Das B. erhält erst durch sein Tun Anteil an der Welt, indem er es aus einer potentiellen zu einer wirklichen Größe in der Schöpfung macht. In Gen 2f geht es mithin nicht primär um den Ursprung des B., sondern um seine Wirksamkeit. Neben der theo- und anthropologischen Herleitung des B. ist die Rolle der das B. hervorrufenden Dämonen und des Widersachers/Teufels im AT im Gegensatz zum NT gering. Dabei ist damit zu rechnen, dass die Texte diesen Aspekt wegen der möglichen Infragestellung der Macht des einen Gottes unterdrücken; es finden sich im AT nur geringe Spuren (Ps 91; Ijob 2,1 7), während diese Konzeption im NT breit belegt ist (Mk 4,15; Lk 8,2.29; 10,18; Joh 8,44; 2 Kor 4,4; 1 Thess 2,18; 1 Joh 3,8 10; Offb 12,9). Das B. findet seine Realisierung in allen Taten, die gegen Gott und seine Schöpfung gerichtet sind. Sie zerstören das Opfer, die Gemeinschaft und letztendlich den Täter selbst. Der Tun-Ergehen- Zusammenhang ist keineswegs mechanisch zu verstehen, sondern denkt von der Erkenntnis her, dass das Leben dessen, der B. tut, notwendig ein defizitäres sein muss, da ihm die Nähe zu Gott und den Mitmenschen fehlt (1 Kön 11,6; 2 Sam 12,9; Am 5,14 15; Mt 13,49; Röm 2,8). Selbst wenn er erfolgreich ist, lebt er in der Sphäre des Bösen und des Todes. Daher ist es ntl. auch möglich, diese Vorstellung eschatologisch zu erweitern: Der das B. Tuende verfällt dem B. auch nach seinem Tod als Fortschreibung seines Erdenlebens ( End-Gericht).
133 Bote / Sendung / Mission 121 II. NT: 1. Im NT wird das B. mit den Begriffen ponhr2a ( Bosheit, Schlechtigkeit, Gemeinheit ) und kak2a ( Schlechtigkeit, Bosheit ) formuliert. II. 2. Auch wenn sich im NT Qualifizierungen des Äon und der Welt als dem B. zugehörig finden (Gal 1,4; 1 Joh 5,19), so überwiegt doch in Rezeption atl. Tradition der Aspekt, die Schöpfung als die Möglichkeit zum Guten wahrzunehmen, in der Gott das B. nicht zur alleinigen Macht werden lässt (Gen 50,20), sondern es dem Menschen ermöglicht, es zu überwinden. Der Noachbund (Gen 9,1 17) ist ebenso Ausweis des Wollens Gottes, trotz des B. seine Schöpfung bleibend zu bejahen (Gen 8,21f), ebenso wie die Bundestreue und die Tora als Weg zum Leben des Guten (Dtn 30,15). Ntl. konkretisiert sich der Gedanke der Überwindung des B. durch Gott in der Christologie. Im Tun Jesu, insbes. in seinen Dämonenaustreibungen (Lk 7,21; 8,2; 10,18), wird das B. überwunden und die Schöpfungsordnung anfänglich wieder hergestellt. Nach der zentralen Glaubensaussage des NT ist durch Kreuz und Auferstehung die Macht des B. gebrochen. Von hierher erhält die ethische Aufforderung, dem B. zu widerstehen bzw. von ihm abzulassen, ihr argumentatives Gewicht. Freilich steht auch christl. Leben unter dem eschatologischen Vorbehalt der ausstehenden Vollendung, sodass die Bitte, vor dem B. bewahrt zu bleiben (Mt 6,13; Lk 11,4), bis zur vollkommenen Vollendung der guten Herrschaft Gottes (1 Kor 15,23 28) gültig bleibt. Problematisch war offensichtlich die Erfahrung des B. im Raum der Gemeinde ( Kirche); hier findet sich die Lösung der Separation (1 Kor 5,13; 2 Joh 10) neben der, das B. im Vertrauen auf Gott auszuhalten (Mt 5,44; 22,10; 2 Tim 2,24). Der Bibel gelingt es, das B. im Rahmen der verschiedenen theol. Traditionen so zu integrieren, dass es weder eine Infragestellung Gottes noch der Menschen bedeutet, und zwar ohne das B. zu verharmlosen oder zu verabsolutieren. Der Verharmlosung wird entgegengewirkt, indem das B. als eine Verletzung des göttlichen Wollens zugleich als Frevel gedeutet wird; Gewalt und Not der Menschen gehen Gott unmittelbar an, weil sie in letzter Konsequenz gegen ihn gerichtet sind. Dem Geheimnis des B. (2 Thess 2,7) verfällt das NT nicht, weil es als letzte Sicherheit, das B. zu bestehen, Gott weiß. Die feste Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes, die ihn alle Not der Menschen wenden lässt, ist angesichts der Wirklichkeit der Menschen, von denen die Bibel erzählt, oft eine verzweifelte Hoffnung gegen die Wirklichkeit des B. Daher ist die Frage nach der Dauer des Ertragenmüssens des B. (Ps 6,3; 13,1.2; 35,17; 74,10; 79,5; 80,4; 89,46; 94,3; 119,84) letztlich die Frage nach dem Erweis Gottes als der, der das B. sieht und sich seiner Schöpfung erbarmt (Ex 3,7; Offb 21,4). I. W. Dietrich/C. Link, Die dunklen Seiten Gottes, Neukirchen- Vluyn / ; S. Rosenberg, Von der Macht des Bösen, Berlin 2001; U. Rüterswörden, Das Böse in der deuteronomischen Schultheologie, in: T. Veijola (Hg.), Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen, Göttingen 1996, II. E. Brandenburger, Das Böse, Zürich 1986; G. Gordon, Evil and Christian Ethics, Cambridge 2001; W. Kirchschläger (Hg.), Das Phänomen des Bösen, Luzern Rainer Kampling Bote / Sendung / Mission (B./S./M.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Bote / Sendung / Mission I. AT: 1. B. (Singular: mal{ak) als Übermittler einer Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger sind im AO wie im AT vielfach belegt. Ein B. ist im Moment seiner Verkündigung funktional identisch mit seinem Auftraggeber (2 Sam 11,18ff; Neh 6,3), wodurch jede Misshandlung/ Beleidigung bzw. Schützung/Ehrung des B. unmittelbar den Auftraggeber trifft (1 Sam 25,4ff; 2 Sam 10,1 14). I. 2. Ein B. legitimierte sich mit der Botenformel (ko {amar NN = so spricht NN ), die die folgenden Worte als authentische Wiedergabe der Botschaft des Absenders auswies, und mit dem B.- Spruch (Ich-Rede des Absenders mit der Botschaft z. B. Gen 32,5f). Die Botschaft konnte schriftlich (2 Sam 11,14) oder mündlich (Gen 32,4 7) übermittelt werden, wobei im letzteren Fall die Zuverlässigkeit des Boten gewährleistet sein musste (Spr 13,17; 25,13). Der B. gab auch die Antwort an seinen Auftraggeber weiter (Gen 24,66; 1 Kön 2,30; 2 Kön 19,8ff) und konnte, so dieser ihn mit einer Bevollmächtigung ausgestat-
134 122 Bote / Sendung / Mission tet hatte, stellvertretend handeln (1 Sam 19,11 21; 2 Kön 6,32). Die Unverletzlichkeit des B. gehörte zum Botenrecht. B. wurden auch von Gott gesandt (šalag). Es handelte sich dabei um Engel, Priester (Mal 2,6f) und Propheten. Letztere erhielten von Gott einen Sendungsauftrag, der in den prophetischen Berufungserzählungen (Jer 1,7; Jes 6,8) explizit erwähnt sein kann, aber immer von Bedeutung ist (2 Sam 24,13; Hag 1,12; Sach 2,13). Die Autorität einer göttlichen Sendung gilt auch für den Retter Gideon (Ri 6,14), den Perserkönig Kyrus als Vollstrecker des göttlichen Willens (Jes 48,16) sowie Mose und Aaron (Ps 105,26). Ein Prophet wurde von Gott zu einem bes. ausgezeichneten Individuum (David 2 Sam 24,13) oder dem Volk (Jer 7,25; 25,4; 26,5; 29,19; 35,15; 44,4; Jes 6,9) gesandt. Dass die Propheten als Gottesboten zu verstehen sind, zeigt sich auch darin, dass ihre Botschaft mit der einleitenden B.-Formel ( so spricht Jhwh ) und dem folgenden B.-Spruch gestaltet ist. Der B.-Spruch ist je nach Zweck der Sendung als Drohwort (Am 7,11), Scheltwort (Jer 4,18), Mahnwort (Am 5,4f) oder Heilswort (Jes 2,2 5) formuliert. Für das Dtn. und die dtr. Lit. wurden Propheten geschickt, um das Volk im rechten Weg zu unterweisen. Die adäquate Reaktion der Adressaten wäre das Hören (Jer 7,26; 25,5; 26,4f; 29,19; 35,15; 44,5; Ohr) und entsprechende Handeln gewesen. Unheilspropheten lebten als Überbringer schlechter Nachrichten in der Gefahr der Misshandlung und Ermordung (Jer 1,8; 36; 38). Dies galt als Bruch des Botenrechts und verletzte Gott (als den Auftraggeber) selbst. Wie bei den profanen B. ist auch die Glaubwürdigkeit des prophetischen B. ein Problem. Propheten ohne göttlichen Sendungsauftrag sind Lügenpropheten (Jer 14,14f; 23,21.32; 27,15; 28; 29,9, vgl. Neh 6,12 14), den wahren Gottgesandten erkennt man jedoch erst mit dem Eintreffen seiner Botschaft (Jer 28,9; Dtn 18,9 22). I. 3. Mission als Verkündigung einer Glaubensüberzeugung mit dem Ziel der Bekehrung Andersgläubiger ist bis in die exil. Zeit nicht belegt. In der nachexil. Lit. zeigt sich jedoch eine universale Orientierung des Jhwh-Glaubens, der auch andere Völker miteinschließt (Jona, Jes 2,1 4; 42,6; 49,6f; 60,1 22; 66,18ff). Die hell. beeinflusste jüd. Lit. der Spätzeit (Weish, JosAs, Flavius Josephus) warb für jüd. Monotheismus und Ethik, was missionarisch wirkte. II. NT: 1. Sendungsterminologie begegnet häufig im NT, insbes. die Verben für (aus)senden Bpost0llv (132-mal), Ejapost0llv (13-mal) und p0mpv (79-mal). Oft wird damit alltägliches Geschehen umschrieben; Kommunikation verlief in der Antike häufig über B., selbst dann, wenn Geschriebenes übermittelt wurde (Briefzustellung durch B. Phil 2,25.28; Offb 1,11). Gesendet werden Personen zur Mitteilung von Botschaften (Lk 7,6; Mt 11,2; Apg 19,31), zur Übergabe von Sachwerten (Phil 4,16; Apg 11,29), zur Ausführung von Aufträgen (Mt 14,10; Lk 15,15; Joh 1,33). Sender sind übergeordnete Personen (Mt 2,8; 22,7) oder Gott, neben den im NT der erhöhte Christus tritt (Mk 1,2; Lk 1,19.26; 4,26; Offb 22,16); von beiden wird häufig die Sendung des Geistes ausgesagt (Lk 24,49, vgl. Apg 1,4f; 2,33; Joh 14,26; 15,26; 16,7; Gal 4,6; 1 Petr 1,12). Die extensive theol. Verwendung des Alltagsinstituts der Sendung im NT ist in atl. Sprachformen verwurzelt, die prophetisches B.- und Sendungsbewusstsein zum Ausdruck bringen. II. 2. Die Synopt. kennzeichnen Jesus als von Gott gesandten Propheten in der Nachfolge atl. Propheten. Explizite Aussagen über seine Sendung enthalten Lk 4,18 (Jesus bezieht die Sendungsaussage von Jes 61,1f direkt auf sich, die schon Lk 7,22par. zugrunde liegt) und Mt 15,24 (Sendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel). Indirekt ordnet Jesus sich in die Kette der an Israel gesandten und verworfenen (getöteten) Propheten ein (Mk 12,1 9; Lk 13,34par.). Auch in Selbstaussagen über den Zweck seines Gekommenseins nimmt Jesus eine atl. Botenformel auf (Ijob 1,15 17; Dan 9,23; 10,14) und lässt ein klares Sendungsbewusstsein erkennen. Auf den hist. Jesus könnten die folgenden Uluon- Worte zurückgehen: Mk 2,17b; Lk 7,34par.; Mt 10,34f.par. Analog dazu dürften nachösterliche Zusammenfassungen der Botschaft Jesu gebildet worden sein wie Mk 1,38 (inhaltlich zu verknüpfen mit 1,14f: das Evangelium, die Herrschaft Gottes); Mk 10,45; Mt 5,17 und Lk 19,10. Jesus bezog seine Jünger ( Apostel) in seine Sendung ein und sandte sie seinerseits zur Mission aus (Mk 3,14f; 6,7 13; Lk 10,2 16par.), wobei sie ihn und damit letztlich Gott, der ihn ge-
135 Bote / Sendung / Mission 123 sandt hatte, vollmächtig vertraten (Lk 10,16par.; Joh 5,23; 13,20, vgl. Mk 9,37.41). In einer durch mündliche Kommunikation dominierten Gesellschaft war dies ein geeigneter Weg, massenmedial wirksam zu werden. Das Gleichnis vom großen Festmahl (Mt 22,1 14; Lk 14,16 24) reflektiert in den wiederholten Aussendungen bereits die erfolgreiche Mission unter den Heiden und damit den nachösterlichen Sendungsauftrag der Jünger. II. 3. Im Joh ist die Sendungsterminologie zentraler Bestandteil der christologischen Reflexion und Legitimation. Die Wendung der Vater, der mich gesandt hat (Z p0mcaw me pat:r) wird formelhaft gebraucht (Joh 5,37; 6,44; 8,16 u. a.) und mit dem Verb Bpost0llv vielfach narrativ variiert (5,36; 6,57; 10,36; 20,21; auch in 1 Joh). Sie wird eingesetzt, um die Legitimität des Anspruchs Jesu und die enge Bindung des (präexistenten) Sohnes an den Vater zu unterstreichen. Gegenüber der Fülle dieser Aussagen fällt auf, dass Paulus nur zweimal von der Sendung des (präexistent gedachten) Sohnes spricht (Röm 8,3; Gal 4,4) und dabei wahrscheinlich urchristl. Bekenntnistradition aufnimmt (vgl. Apg 3,20.26). II. 4. Von den Missionsbefehlen des Auferstandenen verwendet nur Joh 20,21 Worte des Sendens, auch sonst ist, abgesehen vom Begriff Apostel für die Träger der Mission, Sendungsterminologie im Zusammenhang der Reflexion über den missionarischen Auftrag eher selten (Röm 10,15; 1 Kor 1,17). Es dominieren Wortfelder des Verkündigens bzw. des Zeugnisablegens (m/rtzw, khr4ssv, epaggel2yomai usw.). Alle einschlägigen Texte bearbeiten auf ihre Weise den nachösterlichen Übergang von der auf Israel beschränkten Verkündigung Jesu zur Völkermission, am knappsten Mk, der in einem Vers der eschatologischen Rede die Verkündigung des Ev. unter allen Völkern zum eschatologischen Muss erklärt (Mk 13,10, vgl. 14,9). Bei Mt weitet der Auferstandene selbst seinen ursprünglich auf Israel beschränkten Missionsauftrag (10,5f; 15,24) auf alle Völker aus (Mt 28,19, vgl. 24,9.14). Apg 1,8 entwirft das Modell einer kontinuierlichen Zeugenschaft, die, ausgehend von Jerusalem, über Judäa und Samarien schließlich die Enden der Erde (d. h. Rom) erreicht. Diesem Konzept folgt der anschließende Aufriss der Apg (bis 8,3: die Apostel in Jerusalem; 8,4 11,18: die Hellenisten und die Apostel in Samaria und den Küstengebieten; dann von Antiochia ausgehende Mission mit Barnabas und Paulus als herausgehobenen, von Jerusalem unterstützten Missionaren. Paulus bringt schließlich das Ev. über Kleinasien und Griechenland nach Rom, wo er es ungehindert verkünden kann, Apg 28,31). Charakteristisch für die im Rückblick harmonisierende Darstellung des Lk ist, dass er Petrus die entscheidenden Schritte zur Heidenmission setzen lässt (Apg 10 11,18; 15,7 21) und Paulus bis zuletzt (noch in Rom: Apg 28,17 31) immer zuerst vor den Juden sprechen lässt, bevor er nach Abweisung durch sie zu den Heiden geht. Dagegen sah sich Paulus selber spätestens seit dem Apostelkonzil als Heidenapostel, dem das Ev. der Unbeschnittenheit anvertraut war (Gal 2,7 9). Er bediente sich zahlreicher Mitarbeiter, die er mit dem Auftrag und der Vollmacht, in seinem Namen zu lehren und zu handeln, in die Gemeinden schickte (meist p0mpv: 1 Thess 3,2.5; 1 Kor 4,17; 16,3; 2 Kor 8,18.22; 9,3; Phil 2, ; Kol 4,8f; Eph 6,22; Tit 3,12). Er war stolz darauf, Initiator und Garant der kompromisslosen beschneidungs- und gesetzesfreien Heidenmission (Gal 2,1f.5.11ff) zu sein und hatte infolgedessen mit heftiger judaistischer Gegenmission in seinen Gemeinden zu kämpfen (Gal; 2 Kor; Phil 3). In Röm 15,15 24 gibt er Einblick in sein Missionsverständnis: Er habe nur dort, wo Christi Name noch unbekannt war, seinen Auftrag darin gesehen die Heiden zum Gehorsam zu bringen durch Wort und Werk, in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes. Er tat dies von Jerusalem aus ringsumher bis nach Illyrien und wolle nun, da er in diesen Gegenden keinen Raum mehr habe, über Rom nach Spanien weiterziehen (wozu es dann durch seine Gefangennahme nicht mehr kam). In der Paulusschule stehen Darstellungen des Apostels als Versöhner zwischen Juden und Heiden (Eph, vgl. 2,11 22; 3,1 13; 4,1 6) neben ganz auf das Heidenchristentum hin orientierten Paulusbildern mit antijudaistischem Einschlag (1 Tim 2,1 7; 4,1 5; 2 Tim 4,17; Tit 1,10.14). I. J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, Stuttgart u. a. 1998; J. T. Greene, The Role of the Messenger and Message in the Ancient Near East, Atlanta 1989; W. Groß, Prophet gegen In-
136 Bund 124 stitution im alten Israel?, in: ders., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern, Stuttgart 1999, ; R. G. Kratz, Die Propheten Israels, München 2003; J. Krispenz, Grammatik und Theologie in der Botenformel: ZAH 11 (1998) ; B. Lang, Wie wird man Prophet in Israel?, Düsseldorf 1980; S. A. Meier, The Messenger in the Ancient Semitic World, Atlanta II. J. Ådna/H. Kvalbein (Hg.), The Mission of the Early Church to Jews and Gentiles, Tübingen 2000; J.-A. Bühner, Der Gesandte und sein Weg im vierten Evangelium, Tübingen 1977; M. de Jonge, God s Final Envoy, Grand Rapids 1998; J. P. Miranda, Der Vater, der mich gesandt hat, Bern ; J. Roloff, Apostolat Verkündigung Kirche, Gütersloh 1965; O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen-Vluyn Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Bund (B.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) Bund I. AT: 1. Wo im AT ein B. (b e rit) geschlossen oder geschnitten (karat) wird, wird ein Verhältnis zwischen zwei Bündnispartnern begründet oder erneuert. Der Begriff B. umschreibt immer einen Bereich, innerhalb dessen der Bündnispartner in Frieden leben kann (vgl. Jos 9,15), er bezeichnet also ein verpflichtendes Gemeinschaftsverhältnis. Die Art der Verpflichtung kann eine Zusage sein, die man gegenüber einem anderen übernimmt (Selbstverpflichtung, Jos 9,15; 1 Sam 11,1; 2 Kön 23,3 u. a.), oder ein Gebot, das dem anderen auferlegt wird (Fremdverpflichtung: Gen 26,28; 2 Kön 11,4; Gen 26,28 u. a.). Daneben gibt es die Übernahme wechselseitiger Verpflichtungen gleichberechtigter Partner (Gen 31,44; 1 Sam 23,18; 1 Kön 5,26 u. a.). Parallel zum Begriff B. können Wörter für Eid oder Schwur stehen. Bündnisse werden öfter im Heiligtum geschlossen, wo die Gottheit bzw. sie repräsentierende Masseben Zeugenfunktion übernehmen (vgl. 1 Sam 23,18). Zu den begleitenden Symbolhandlungen gehören die Übergabe von Geschenken, der Tausch von Kleidern und Waffen, der Handschlag, das gemeinsame Mahl und Selbstverfluchungsriten (vgl. Gen 15,17f; Jer 34,18 u. a.). I. 2. Im theol. Kontext beschreibt die Kategorie B. das Gottesverhältnis Israels. Der locus classicus für dieses Deutungsmuster des Jhwh/Israel-Verhältnisses ist die zweiseitige Bundesformel von Dtn 26,16 19, die als sachliche Bestimmung der Mitte des AT besagt, dass Jhwh der Gott Israels und Israel das Volk Jhwhs ist. Die darin zum Ausdruck kommende Selbstbindung Jhwhs an sein Volk ist von diesem nicht einklagbar, ihre Einhaltung aber erwartbar. Gott kündigt seinen B. nicht auf, auch wenn er aufgrund der Sünde Israels Grund dazu hätte. Den für die atl. Bundestheol. grundlegenden Aspekt der Selbstbindung Gottes hat die P zu einer Periodisierung der Heilsgeschichte durch Bundesschlüsse ausgebaut (Noachbund Gen 9 und Abrahambund Gen 17). Die im Abrahambund gebündelten Väterverheißungen werden in Ex 6,2 8 aufgegriffen und in der Sinaiperikope mit der Ankündigung von der Einwohnung Jhwhs in Israel eingelöst (Ex 29,45f Gottesvorstellungen). In der dtn.-dtr. Tradition wird der B., nach Vorläufern in der Prophetie des 8./7. Jh. v. Chr., erstmals (?) zu einer theol. Grundkategorie, die die Phraseologie der neuass. Vertragstexte rezipiert (vgl. Dtn 13; 28), aber zum Unterpfand der Treue Jhwhs zu seinem Volk umdeutet. Charakteristisch ist dabei die lokale Festlegung des B. und der mit ihm verbundenen Zusagen und Forderungen auf dem Horeb sowie die Konkretisierung seiner Heilssetzungen im Dekalog (Dtn 5,2f.6ff, vgl. Dtn 4,13 u. a.). In diese Tradition gehört auch die späte Verheißung des neuen Bundes in Jer 31,31 34, der als reiner Gnadenbund unkonditioniert ist, kollektiv gedacht und individuell verinnerlicht wird. Herkunft und Alter eines B. Gottes mit Israel sind nach wie vor umstritten. Insbes. lässt sich eine mosaische Datierung nicht erweisen. Das sog. Bundesschweigen der Prophetie des 8. Jh. v. Chr., die Konzentration der Bundesvorstellung auf die dtn.-dtr. Lit. sowie der sekundäre Charakter der Bundesschlüsse in der nichtpriesterlichen Sinaiperikope (Ex 19; 24; 34?) führen zur Annahme der dtn. Herleitung der Bundesvorstellung in spätvorexil. Zeit. II. NT: 1. Die ntl. Verwendung von B. (diau1kh) orientiert sich weitgehend an der atl. Vorgabe: B. meint das bibeltheol. zentrale, verbindliche Wechselverhältnis zwischen Jhwh und seinem Volk Israel (vgl. Dtn 26,16 19). An wenigen Stellen tritt die profane Verwendung von diau1kh als Testament, die auch in anderen Vorkommen mitschwingt, in den Vordergrund (vgl.
137 Bund 125 Gal 3,15 17; Hebr 9,16f). Während im Frühjudentum B. und Tora teils sehr eng zusammenrücken (1 Makk 2,27; LibAnt 11,5; Philo det. 67f; vgl. ShemR 47,3), bezieht sich B. in den Qumranschriften auf den exklusiven Erwählungsanspruch der Gemeinde, im B. mit Gott zu stehen (1QS 1,8 Gnadenbund ; 5,11 Gottesbund ; 8,16f B. der Einung ; in CD 6,19f; 8,21 lautet die Selbstbezeichnung: Gemeinde des neuen B. im Lande Damaskus ). II. 2. Das NT kennt keine ausgeführte einheitliche Bundestheol., so sehr sich im Blick auf die Sendung Jesu Christi eine Aufnahme und beginnende Einlösung des verheißenen neuen Bundes aus Jer 31 aufdrängt: Das früheste Vorkommen des Begriffs B. findet sich im Becherwort der Herrenmahlsüberlieferung (vgl. die beiden Varianten in Mk 14,24/Mt 26,28 und 1 Kor 11,25/Lk 22,20), das kulttypologisch Ex 24 aufnimmt bzw. das Motiv des neuen Bundes aus LXX Jer 38,31 34 rezipiert ( Abendmahl). Inhaltlich wird der stellvertretende Sühnetod Jesu hier als göttliche Stiftung eines eschatologisch neuen, universalen B. gedeutet. Da das Motiv des B. in der synopt. Jesusüberlieferung sonst nicht begegnet (vgl. aber Lk 1,72; Apg 3,25; 7,8), wird strittig diskutiert, ob dieses theol. Motiv auf das letzte Mahl Jesu zurückgeht oder als eine sehr frühe, sachgerechte nachösterliche Prägung anzusehen ist. Ebenfalls kontrovers wird die Frage verhandelt, ob Joh, ohne den Begriff B. zu verwenden, bundestheol. denkt und argumentiert. II. 3. In polemischer Auseinandersetzung mit seinen innergemeindlichen Gegnern verwendet Paulus B. in Gal und 2 Kor in zwei verschiedenen Gegenüberstellungen, die nicht im Sinne der späteren heilsgesch. Negation (vgl. Barnabasbrief) bzw. des Substitutionsmodells (vgl. Iust. Mart. dial.) missverstanden werden dürfen ( Schrift): Gal 3,15 18 ordnet die testamentarische Verheißung an Abraham dem erst später erlassenen Gesetz vor und sieht die Verheißung an den Nachkommen Abrahams in Jesus Christus erfüllt. In Gal 4,21 31 kritisiert Paulus nicht pauschal die Heilsgeschichte Israels, sondern das Gesetz als Heilsprinzip, dessen Geltung den Heilstod Jesu überflüssig machen würde (Gal 2,21). Auch in 2 Kor 3,4 18 treten nicht einfach zwei sich ablösende Heilsepochen hintereinander. Freilich stellt Paulus in polemischer Zuspitzung den Gesetzesdienst des Mose und den apostolischen Dienst der Evangeliumsverkündigung gegeneinander. In Röm 9 11, wo er grundsätzlich auf die Heilsgeschichte Israels zu sprechen kommt, betont er den B. Gottes mit Israel als bleibendes, unbereubares Erwählungszeichen (Röm 9,4: die Bünde ; 11,29). Nach 11,26f (vgl. LXX Jes 59,20f; 27,9) wird der kommende Retter aus Zion ganz Israel erlösen und so Gottes B. mit Israel endzeitlich erfüllen. II. 4. Allein im Hebr entfaltet sich eine ausgesprochene Bundestheol.: Beeinflusst vom Bundesmotiv in der Herrenmahlsüberlieferung und bestimmt von der Deutung des Sühnetodes Jesu als eine ein für alle Mal rettende hohepriesterliche Heilstat, versteht Hebr die in Jesus Christus heraufgeführte neue Heilsordnung als den neuen B. Jesu Sendung öffnet in seinem Tod, seiner Auferstehung und Erhöhung den Zugang zu der eschatologischen Gottesgemeinschaft, die alles Irdisch-Vergängliche in den Schatten stellt (vgl. Hebr 8,4f; 9,11 14). Hebr setzt hier gut mittelplatonisch eine Dichotomie von Irdisch-Vergänglichem und Himmlisch-Ewigem voraus. Da dieser neue B. Gottes durch den Bürgen (Hebr 7,22) und Mittler (Hebr 8,6; 9,15; 12,24) Jesus im Modus der Verheißung gegeben ist, gilt es auch für Christen, der noch ausstehenden Vollendung in Geduld und Ausdauer entgegenzugehen. Die Rede vom ersten (Hebr 8,7.13; 9, ) B. Gottes zielt auch hier nicht auf eine Substitution, sondern stellt der auf den Sinaibund zurückgeführten levitischen Kultordnung mit ihrer vorläufigen Dauer und begrenzten Heilswirkung (Hebr 8,7 13; 10,15 18; vgl. LXX Jer 38,31 34) das in Jesus Christus erwirkte Heil kultmetaphorisch reinterpretiert gegenüber. Diese neue Heilsordnung verkündet Hebr als neuen (Hebr 8,13; 9,15; 12,24), ewigen (Hebr 13,20) und besseren (Hebr 7,22; 8,6) B. Gottes, der Israel nicht ohne uns (Hebr 11,40) zur Vollendung führen will. I. W. Groß, Zukunft für Israel, Stuttgart 1998; E. Otto, Die Ursprünge der Bundestheologie im Alten Testament und im Alten Orient: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 4 (1998) II. K. Backhaus, Der Neue Bund und das Werden der Kirche, Münster 1996; ders., Hat Jesus vom Gottesbund gesprochen?:
138 Buße 126 ThGl 86 (1996) ; H. Frankemölle (Hg.), Der ungekündigte Bund?, Freiburg Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Buße (B.) ( Dachartikel: Kult) I. AT: 1. Das deutsche Wort B., das mit bessern zusammenhängt, bezeichnet eine rel. Haltung oder Handlung, die in bes. Weise bibl. konnotiert ist. Es ist die Wiedergabe dessen, was in der Bibel Umkehr meint. Im AT steht dafür die hebr. Verbalwurzel šub umwenden, zurückkehren, im nachbiblischen Schrifttum auch das Substantiv t e šuba (vgl. CD 19,16). B. heißt Umkehr zu Gott. Sie setzt voraus, dass man aus eigenem Verschulden von Gott getrennt ist, aber etwas dafür tun will, dass diese Trennung aufgehoben und die Gottesbeziehung wieder hergestellt wird. I. 2. Das Theologumenon begegnet im AT vor allem im späten Deuteronomismus und in der damit verwandten chronistischen Lit. Ihr Gegenstand ist die Geschichte Israels, ihr Geschichtsbild denkbar einfach: Jhwh hat Israel (mit der Berufung der Erzväter und dem Exodus) erwählt und ihm das Gesetz des Mose gegeben. Von Mose an (Dtn 4,30; 30,2.8.10) hat er Propheten gesandt, die zum Gesetzesgehorsam aufriefen, vor den Folgen des Ungehorsams warnten und die Umkehr predigten (2 Kön 17,13; 2 Chr 15,1 4; 24,19; 36,15f; Neh 9,26; vgl. noch 1 Sam 7,3; 1 Kön 8, ; 2 Chr 6, ; 7,14f; 30,6.9). Aber Israel ist nicht umgekehrt (2 Chr 36,13; Neh 9,35) und musste darum ins Exil. Die Umkehrforderung der Propheten und das leuchtende Beispiel des Königs Joschija (2 Kön 23,25) bestehen dennoch weiter. Wer umkehrt, wird gerettet (Neh 1,9), wer Jhwh sucht, von dem lässt er sich finden (2 Chr 15,4; vgl. Dtn 4,29f). Auch wenn der Tempel in 1 Kön 8,48 die Gebetsrichtung ist, ist Umkehr als Gesetzesgehorsam auch ohne den Tempel möglich und verleiht dem im dtr. und chronistischen Schrifttum vorausgesetzten vor- wie nachexil. Tempelkult einen neuen Sinn. Dasselbe Konzept liegt den einschlägigen Belegen in den Prophetenbüchern zugrunde. Bei den Buße nachexil. Texten versteht sich dies fast von selbst. Sach 1,4.6 und Mal 3,7 argumentieren mit der Schuld der Väter und werben für die Umkehr. Ebenso Ezechiel (Ez 14,6), der die Schuld der Väter auf den Gottlosen wälzt (Ez 18,1ff; 33,9.10ff sowie 3,19; 13,22; vgl. Jes 55,7). Joël 2,12f zitiert im Umkehrruf die Verheißung des Gesetzes (Ex 20,5f; 34,6f), Jona 3,8 10 lässt aus demselben Grund (Jona 4,2) die Heiden sich zum Herrn bekehren. Dan 9,13 beklagt, dass das Volk nach allem, was geschehen ist, wie es im Gesetz des Mose geschrieben steht, noch immer nicht umgekehrt sei. Angesichts dieser Beleglage erscheinen auch die Umkehrpredigten der vorexil. Propheten in anderem Licht. Man lässt sie die Umkehr predigen, um das längst eingetretene Gericht zu begründen und künftigen Generationen den Weg zu weisen. Es handelt sich durchweg um Nachträge. Jeremia bewegt sich schon sprachlich eindeutig in den spätdtr.-chronistischen Bahnen (vgl. bes. Jer 35,14f; 44,4f sowie 18,8.11; 23,14f.22; 24,7; 25,5; 26,3; 34,15; 36,3.7); doch kann dasselbe Anliegen auch auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden (Jer 3,10.14; 4,1; 5,3; 8,5; 15,7; 31,18f). In Jesaja, Hosea und Amos halten sich die Warnungen (Jes 6,10; 31,6; Hos 5,4.6; 7,10.16; 11,5; Am 4,6 12) und die Heilsverheißungen (Jes 10,21f; 19,22; Hos 3,5; 12,7; 14,2f) in etwa die Waage. I. 3. Als kultischen Hintergrund der Umkehrtheol. hat man öffentliche Buß- und Bettage am Tempel zu regelmäßig wiederkehrenden oder bes. Anlässen vermutet. Solche Feiern sind für die nachexil. Zeit bezeugt (Sach 7,3.5; 8,19; Jes 58,3ff; Joël 1,14; 2,15; Jona 3) und in 2 Chr 20 und Neh 9 beschrieben. Für die vorexil. Zeit lassen gelegentliche Erwähnungen, und seien sie spät (1 Sam 7,6; 31,13; 1 Kön 21,9.12; Jes 22,12; Jer 14,12; 36,6.9), lediglich auf öffentliche Trauer- und Fastenzeremonien ( Trauer) schließen, wie sie auch im privaten Bereich üblich waren. Der Gedanke der B. oder Umkehr dürfte ihnen allerdings fremd gewesen sein. Wie überall im AO dienten sie dazu, die Gottheit gnädig zu stimmen und diese zur Umkehr zu bewegen. Dabei mag auch ein Schuldeingeständnis hilfreich gewesen sein, doch fehlte das Bewusstsein, von Gott abgefallen zu sein, den anderen Göttern abschwören und das Gesetz halten zu müssen. Erst der Gedanke des göttlichen
139 Dämon Dämon 127 Gerichts in der prophetischen Überlieferung ( Propheten) hat die Voraussetzung für dieses Bewusstsein geschaffen, das sich in exil.-nachexil. Zeit allmählich entwickelte. I. 4. Im späten AT (Ijob 22,23; 36,10; Ps 22,28; 51,15) und in der ihm nahestehenden Lit. der hell. Zeit (Jdt 5,21; Tob 13,6; Bar 4,2; Sir 5,7; 8,5; 17,24 26; 18,21; 48,15) ist die Umkehr zum theol. Topos geworden. Ähnlich wie die Beschneidung des Herzens ( Beschneidung) zielt er darauf, die Beachtung der üblichen rel. Pflichten zu vertiefen, und ist bestens geeignet, um Grenzen innerhalb des Judentums zu markieren. So bezeichnet die Gruppe von Qumran den Eintritt in ihre Gemeinschaft als Umkehr zum Gesetz des Mose (1QS 5,8; CD 16,1f; 4Q171 2,2f) oder Umkehr zur Wahrheit (1QS 6,15), ihren Auftrag als Umkehr zu seinem Bund (1QS 5,22) und sich selbst als Bund der Umkehr (CD 19,16). Der Topos konnte so den Verlust des zweiten Tempels 70 n. Chr. leicht überstehen und erhielt im rabb. Judentum einen festen Platz im rel. Leben des Einzelnen. II. NT: 1. Die B. im NT beginnt mit der Bußpredigt Johannes des Täufers, der den Zorn Gottes ankündigt und angesichts dessen zu Umkehr (griech. met/noia, Sinnesänderung, Umkehr ) und Taufe zur Vergebung der Sünden aufruft und Früchte der Buße, d. h. gute Werke, verlangt (Mk 1,4par.; Lk 3,7 9.16f.par.; vgl. Apg 13,24). Die Botschaft erinnert an Sir 5,6f, ist hier aber eschatologisch aufgeladen. Ähnliche Gerichtsdrohungen werden in Lk 13,3.5; Mt 11,20 22par. und Mt 12,41par. von Jesus überliefert. Sie werden gemeinhin für echt gehalten, obwohl sie nicht so recht zur Ankündigung des Gottesreiches passen wollen, welche in der Regel ohne den Umkehrruf ergeht. Die nachösterliche Jesusüberlieferung hat beides zusammengedacht (Mk 1,15; 6,12; Mt 3,2; 4,17). II. 2. In der Evangelientradition hat sich ansonsten nur Lukas des Themas angenommen. Bei ihm steht die Umkehr des Sünders im Zentrum (Lk 5,32; 15,7.10). Die Umkehr zur Vergebung der Sünden wird in der Missionspredigt auf Jesus Christus und das Evangelium bezogen (Apg 2,38; 3,19; 20,21; 26,20; von der Bußpredigt des Johannes 19,4; mit anderen Worten 1 Thess 1,9f) und unter alle Völker getragen (Lk 24,47; Apg 11,18; 17,30). Ist man einmal Christ geworden, kommt es darauf an, bei dem gewonnenen Glauben zu bleiben. Dazu ermahnt die Offb in ihren Sendschreiben (Offb 2,16.21f; 3,3.19) angesichts der letzten Zeit, in der Abfall und Unglaube grassieren (9,20f; 16,9.11). Dazu ermahnt aber auch Hebr 6,1.6; 12,17, wonach es für Abgefallene keine zweite Chance zur Umkehr gibt. Doch die Christenheit hatte sich auf eine lange Zeit einzurichten und so musste auch lange Zeit für die B. bleiben (2 Petr 3,9 nach Röm 2,4), die Eingang in die Paränese ( Ermahnung) fand (2 Kor 7,9f; 12,21; 2 Tim 2,25). I. M. J. Boda, From Complaint to Contrition: ZAW 113 (2001) ; E. K. Dietrich, Die Umkehr (Bekehrung und Buße) im Alten Testament und im Judentum bei bes. Berücksichtigung der neutestamentlichen Zeit, Stuttgart 1936; M. Mulzer, Die Buße der Tiere in Jona 3,7f und Jdt 4,10: BN 111 (2002) 76 89; J. Unterman, From Repentance to Redemption, Sheffield 1987; R. A. Werline, Penitential Prayer in Second Temple Judaism, Atlanta II. J. G. Crossley, The Semitic Background to Repentance in the Teaching of John the Baptist and Jesus: Journal for the Study of the Historical Jesus 2 (2004) ; I. Goldhahn-Müller, Die Grenze der Gemeinde, Göttingen 1989; H. Löhr, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, Berlin u. a. 1994; G. D. Nave, The Role and Function of Repentance in Luke-Acts, Atlanta Reinhard G. Kratz Dämon (D.) ( Dachartikel: Weltbild/Kosmologie). I. AT: 1. D. sind im Vorderen Orient seit alters her bezeugt und im AT mit mannigfaltiger Terminologie vertreten. Zu nennen sind die D.-Gruppen der šedim (akkad. Lehnwort und eigentlich gutmeinende Schutzgeister; Dtn 32,17; Ps 106,37), rijjim (= zur Wüste Gehörende ; Jes 13,21; 34,14; Jer 50,39) und s ec irim ( Haarige, Bocksgeister ; Lev 17,7; Jes 13,21; 34,14; 2 Chr 11,15). Als einzelne D. treten Asasel (Lev 16,8.10), Lilit (Jes 34,14) und Aschmodai (Tob 3,8) auf. Verderber (Ex 12,23), Lügengeister (1 Kön 22,19 23), böse Geister (1 Sam 16,14; Sir 39,28f) oder schlagende Engel in Jhwhs Auftrag (2 Sam 24,15f; 2 Kön 19,35; Jes 37,36) stehen in ihrer Lebensfeindlichkeit den D. nahe. Die LXX übersetzt diverse hebr. Gottesbezeichnungen (z. B. in Jes 65,11 den Gott
140 128 Dämon Abb. 16: Der mesopotamische Dämon Pazuzu. Quelle: O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament am Beispiel der Psalmen, Göttingen , Abb. 93. Gad; vgl. auch Ps 95,5; Dtn 32,17) mit D., wodurch die Götter der Völker abqualifiziert bzw. dämonisiert werden. I. 2. Dämonen und ruhelose Totengeister sind als Zwischenwesen Feinde der Schöpfung, der Ordnung und des Lebens, Verkörperungen des Chaos und der unberechenbaren Gefahr. Sie stecken hinter Krankheiten (Ps 91,5f; 1 Sam 16,14f; 18,10), Kindstod (Lamaštu, spät identifiziert mit der Winddämonin Lilit) oder Hitzewellen (Pazuzu; archäologisch in Palästina als Amulettkopf bezeugt); sie siedeln in der Wüste, in Ruinen, Hausecken und Türschwellen (Zef 1,9; 1 Sam 5,5) und allen Orten, die auf die Unterwelt hin durchlässig sind (Löcher, Brunnen). Sie spielten vor allem in der persönlichen Religiosität eine Rolle, konnten (basierend auf der Denkvoraussetzung, dass sie Gottheiten unter-, Menschen jedoch überlegen sind) mit Amuletten, Beschwörungen bzw. Exorzismen (Tob 6; 1 Sam 16) bekämpft werden und wurden ikonographisch zumeist als möglichst monströse Mischwesen dargestellt (Abb. 16). Ihre kultische Verehrung war nicht üblich und wird atl. im Kontext rückschauender Kultpolemik gegen Götzen entgegen der geltenden Praxis postuliert (Lev 17,7; 2 Chr 11,15; Ps 106,37). Auch wenn hinter dem atl. Asasel ursprünglich wohl nicht der Eigenname eines D. stand, sondern sich das Eliminationsritual in Lev 16 gegen den göttlichen Zorn richtete (B. Janowski/G. Wilhelm), entwickelte sich im Frühjudentum aus Asasel eine komplexe Figur (ApkAbr 13,6 14; 23,5.9; 1Hen 8,1; 9,6; 10,4 8; 55,4 u. a.), die den Menschen das Metallhandwerk beibrachte, als Schlange Adam und Eva im Paradies verführte und vom Messias dereinst gerichtet werden wird. Die Entwicklung, die die atl. an sich unbedeutenden Asasel und Lilit im Frühjudentum genommen haben, ist für eine Zeit symptomatisch, in der die Anzahl der D. sprunghaft anstieg. Seit der ausgehenden Perserzeit spielten D. in Jehud eine immer größere Rolle; dies könnte u. a. auf den ausgeprägten Dualismus zurückzuführen sein, der zunehmend das Weltbild bestimmte und dessen Herkunft eventuell mit den Lehren des Zarathustra und der sich entwickelnden Apokalyptik zu verbinden ist. Für das Frühjudentum waren D. (im Anschluss an Gen 6,1 4) gefallene Engel (2Hen 7) und dem Fürsten der Auflehnung (Jub 10,1.14; 1Hen 15) bzw. Widersacher/Satan unterstellt. Mit diesem Anführer an der Spitze kämpften sie im dualistischen Weltszenario Qumrans am Ende der Zeiten auf der Seite der Finsternis (1QM 1,1 13; 13,1 11; Licht). Nach später Auffassung befreit Gott von D., wobei er sich eines Menschen (David: 1 Sam 16 und Pseudo-Philo 60,3; Salomo: Ios. ant.iud. 8,45) oder Engels (Rafael: Tob 6,16) bedienen kann. Ihre endgültige Überwindung wird in eschatologischer Hoffnung erst vom Messias erwartet (TestLev 18, ; Pseudo- Philo 60; Jub 23,9). II. NT: 1. Im NT findet sich da2mvn (= Gottheit ; Mt 8,31), öfter aber das davon abgeleitete und negativ qualifizierte (substantivierte Adjektiv neutrum) daim3nion, das auch durch pneqma Bk/uarton unreiner Geist (Lk 8,29) oder pneqma ponhr3n böser Geist (Lk 8,2) ersetzt werden kann. Die ursprünglich neutrale Bedeutung Gottheit findet sich in Apg 17,18, wo Paulus von den Athenern als Prediger fremder Gottheiten (daim3nia) beschrieben wird. II. 2. Die ntl. Dämonologie schließt an den spätatl. bzw. frühjüd. Vorstellungen an. D. sind Teil des dem Menschen und der Schöpfung feindlichen Heers. Sie sind Beelzebul/Beliar (Mk 3,22f.par.; 2 Kor 6,15), Satan (Offb 12,9) unterge-
141 Dekalog Dekalog 129 ordnet und verursachen als seine Hilfsboten zumeist Besessenheit, Krankheiten und (seltener) Verwahrlosung bzw. unsoziales Verhalten. Sie werden von Jesus (Mk 1,21 28par.; 7,24 30par.; Mt 12,43 45par.) exorziert (nicht im Joh), der diese Macht bzw. Vollmacht an seine Jünger weitergibt (Lk 10,17 20; Apg 8,7). Die D. erkennen Jesus als erste als den Christus (Mk 1,24; vgl. aber 1 Joh 4,1 6), weil ihre Macht von nun an gebrochen ist. Sie werden durch Jesus endgültig überwunden, dessen Wirken das Reich und Heil Gottes bereits im Jetzt exemplarisch verwirklicht. Der Gläubige ist durch Jesus von der Macht der D. befreit (Röm 8,38f; Eph 1,21). I. G. Ahn/M. Dietrich (Hg.), Engel und Dämonen, Münster 1997; B. Janowski/G. Wilhelm, Der Bock, der die Sünden hinausträgt, in: dies. (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament, Fribourg u. a. 1993, ; A. Lange/H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Die Dämonen, Tübingen 2003; W. Röllig, Begegnungen mit Göttern und Dämonen der Levante, in: T. Hölscher (Hg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike, München u. a. 2000, 47 66; K. van der Toorn/B. Becking u. a. (Hg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden u. a II. M. Hasitschka, Dämonen und Teufel bei Johannes: Protokolle zur Bibel 1 (1992) 79 84; B. Kollmann, Jesu Schweigegebote an die Dämonen: ZNW 82 (1991) ; A. Lange/H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Die Dämonen, Tübingen 2003; C. Strecker, Jesus und die Besessenen, in: W. Stegemann/B. J. Malina u. a. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53 63; H. Weber, Dämonen, Besessenheit und Exorzismus im Neuen Testament und ihre Wirkungsgeschichte: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (1999) Angelika Berlejung Dekalog (D.) ( Dachartikel: Weisheit/Gesetz) I. AT: 1. Ex 20,2 17 und Dtn 5,6 21 bieten in zwei verschiedenen, im Wesentlichen aber übereinstimmenden Fassungen eine Zusammenstellung ethischer Grundsätze. Sie wird in Anknüpfung an Dtn 4,13; 10,4 (vgl. Ex 34,28) als D. (} a sœrœt hadd e barim zehn Worte ) bezeichnet. I. 2. Traditionell werden verschiedene Zählungen der Gebote vertreten. Im Anschluss an Dtn 4,13; 5,22; 9,9ff u. a. wird überdies versucht, die Gebote auf zwei Tafeln zu verteilen, wobei unklar ist, ob das Elterngebot zur ersten oder zur zweiten Tafel gehört. Traditionelle Zählungen der Gebote des Dekalogs Ex 20 Dtn 5 jüd. griech.- orth. / ref. röm.-kath. / luth. V. 2 V. 6 I. I. I. V. 3 V. 7 II. V. 4 6 V II. V. 7 V. 11 III. III. II. V V IV. IV. III. V. 12 V. 16 V. V. IV. V. 13 V. 17 VI. VI. V. V. 14 V. 18 VII. VII. VI. V. 15 V. 19 VIII. VIII. VII. V. 16 V. 20 IX. IX. VIII. V. 17a V. 21a X. X. IX. V. 17b V. 21b X. In Ex 20 folgen auf eine Präambel, in der Jhwh sich als Sprecher des Textes vorstellt und an die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten erinnert ( Exodus), (I., die folgenden Angaben gehen von der röm.-kath./luth. Zählung aus) das Verbot, andere Götter als Jhwh zu haben, Kultbilder herzustellen, und sie (d. h. Götter und Kultbilder) zu verehren. Im vorliegenden Textzusammenhang sind V. 2/3 6 durch V. 5 zu einem Gebot verbunden. Dabei ist vorausgesetzt, dass Jhwh ohne Kultbild verehrt wird. Ursprünglich beinhaltete das Bilderverbot vielleicht (auch) ein Verbot der Herstellung von Kultbildern Jhwhs. In V. 7 folgt (II.) das Verbot, den Namen Jhwh zu missbrauchen bzw. leichtfertig zu gebrauchen (das im Judentum wie im Christentum letztlich zur Ersetzung des Namens Jhwh durch die Gottesbezeichnung der Herr geführt hat). Mit (III.) dem Sabbatgebot und (IV.) dem Gebot, die (alten) Eltern zu ehren, folgen zwei Gebote, die ebenso wie die vorhergehenden Verbote knapp begründet werden. Die drei folgenden Verbote (V.) des Tötens, (VI.) Ehebrechens und (VII.) Stehlens sind demgegenüber so kurz wie möglich formuliert. Den Abschluss bilden drei Verbote von Übergriffen gegen den Nächsten bzw. Nachbarn : (VIII.) Gegen ihn darf keine falsche Aussage gemacht werden und (IX.) sein Haus sowie (X.) seine Frau, sein Personal, seine Tiere
142 130 und sein sonstiger Besitz dürfen nicht begehrt werden. In Dtn 5 sind die Gebote V. bis X. durch und miteinander verbunden zu einem Gebot. So liegt in Dtn 5 eigentlich ein Pentalog mit fünf abwechselnd längeren und kürzeren Geboten vor. Im Zentrum steht das Sabbatgebot, das in Dtn 5 nicht wie in Ex 20 mit Verweis auf die Schöpfung begründet wird, sondern mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Bei den Verboten handelt es sich im Hebr. um sog. Prohibitive ( du darfst nicht ) und nicht um indikativische Aussagen ( du wirst nicht ); die Gebote sind durch ihre imperativische Formulierung ohnehin klar als solche kenntlich. Als Adressaten stehen dem D. erwachsene, Haus und Hof besitzende Männer vor Augen, die ihre alten Eltern zu versorgen haben und deren Kinder noch in ihrem Haus leben ( Familie). Sinngemäß konnten sich aber auch andere Israeliten beiderlei Geschlechts die Gebote zu eigen machen. Im D. sind allgemeine und grundlegende Bestimmungen für das alltägliche Leben der Israeliten zusammengestellt. Sie werden z. T. mit der Aussicht auf Belohnung oder Bestrafung durch Jhwh begründet, aber nicht mit rechtlichen Sanktionen versehen. Deshalb handelt es sich beim D. nicht um ein Rechtsdokument, sondern um einen ethischen Text. (Das zeigen auch die rechtlich kaum handhabbaren Verbote des Begehrens.) Durch den einleitenden Verweis auf die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten wird klargestellt, dass die folgenden Ge- und Verbote die Freiheit des Einzelnen begrenzen, um in der Gemeinschaft ein möglichst großes Maß an Freiheit für alle zu bewahren. Die beiden ersten Gebote schützen die Freiheit vor falschen rel. Bindungen und vor dem Missbrauch der Rel., indem sie die Verehrung Jhwhs als des unverfügbaren Grundes der Freiheit Israels nach außen und innen gegen Formen der Gottesverehrung abgrenzen, die den Menschen in Dienst nehmen, statt ihn zu befreien. Sabbat- und Elterngebot ( Sabbat) gewähren Menschen wie Tieren gegen alle ökonomischen Zwänge Freizeit und schützen die Würde von Menschen, die nicht mehr leistungsfähig sind. Mit Leben, Ehe und Besitz sichern die drei folgenden Kurzverbote (V. VII.) die Grundlagen eines Lebens in Freiheit vor Übergriffen. Die drei letzten Gebote (VIII. X.) Dekalog wehren auch indirekte bzw. verdeckte Übergriffe ab und fordern zur Pflege einer genügsamen Haltung auf, die dem Nächsten das Seine nicht missgönnt. Der D. steht in Ex 20 wie in Dtn 5 den jeweils folgenden Rechtsbestimmungen voran (dem Bundesbuch in Ex sowie den weiteren Gesetzen in Ex-Num bzw. dem dtn. Gesetz in Dtn 12 26). Ihnen gegenüber ist er dadurch ausgezeichnet, dass er von Jhwh vor ganz Israel am Sinai bzw. Horeb proklamiert wurde (wobei im vorliegenden Kontext allerdings unklar bleibt, ob die Israeliten die Gebote gehört und auch verstanden haben, oder ob sie ihnen durch Mose gleichsam übersetzt werden mussten). Der D. kann verstanden werden als ein Versuch, die ethischen Grundlagen der Rechtsordnung Israels zu formulieren. Von daher erklären sich die Spannungen, die z. T. zwischen den möglichst allgemein gehaltenen Grundsätzen des D. und den konkreten und detaillierten Rechtsbestimmungen bestehen. So ist z. B. das Töten (von Menschen) ethisch grundsätzlich untersagt, wird aber rechtlich in bestimmten Fällen ( Krieg, Todesstrafe) gleichwohl als unumgänglich erachtet. Entsprechendes gilt etwa auch für das Stehlen, das unter bestimmten Umständen (Mundraub) rechtlich zugestanden wird. Die Spannungen zwischen dem D. und den Gesetzen des Pentateuch zeigen, dass ethische Werte und Normen immer nur unvollkommen in rechtliche Ordnungen überführt werden können. Deshalb muss das Recht (aber auch das Ethos) immer wieder kritisch geprüft und weiterentwickelt werden (vgl. etwa die zunehmende Erschwerung der Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen im AT von Ex 21,12 17 über Dtn 19 bis hin zu Num 35). Ansatzweise wird eine solche Rechtsentwicklung im AT erkennbar, wenn Mose (im vorliegenden Textzusammenhang des Pentateuch) im Dtn einer neuen Generation von Israeliten eine um das dtn Gesetz ergänzte Tora verkündet (vgl. dann auch Jos 24,25f; 2 Kön 22f; Neh 8 10; 12,44ff). Literarisch ist der D. wohl in mehreren Stufen gewachsen. Darauf deuten zum einen die Differenzen zwischen den beiden Fassungen in Ex 20 und Dtn 5, v. a. die (jüngere?) Begründung des Sabbatgebots mit Verweis auf die Schöpfung (Gen 1) in Ex 20 gegenüber der (älteren?) Begründung
143 Dekalog 131 mit Verweis auf den Exodus in Dtn 5 sowie die (ältere?) Abfolge der beiden letzten Gebote in Ex 20 (Haus Frau usw.) gegenüber der (jüngeren?) Abfolge in Dtn 5 (Frau Haus usw.). Zum anderen spricht in den Geboten I. und II. Jhwh in der 1. Person selbst, während in den Geboten III. und IV. über Jhwh (3. Person) gesprochen wird (in V. X. wird Jhwh nicht erwähnt). Die beiden Gruppen V. VII. und VIII.-X. heben sich formal voneinander ab und überschneiden sich inhaltlich (Schutz der Ehe und des Eigentums). Die Entstehungsgeschichte des D. ist in der Forschung umstritten und wohl nicht mehr in allen Einzelheiten rekonstruierbar. Beim gegenwärtigen Stand der Erforschung der atl. Literaturgeschichte wird man jedenfalls die vorliegende Gestalt des D. in Dtn 5 nicht früher als in der späten Königszeit ansetzen. Ex 20 setzt in der Begründung des Sabbatgebots Gen 1 voraus und kann deshalb in der jetzt vorliegenden Fassung nicht früher als in der Zeit des bab. Exils entstanden sein. Eine ältere Version von Ex 20 könnte aber Dtn 5 bereits vorgelegen haben. Auf Mose geht der D. sicher nicht zurück. Außerhalb des Pentateuch wird im AT nur selten und allenfalls andeutungsweise auf den D. Bezug genommen. Ijob 24,14f spielt vielleicht auf die Gebote V., VII. und VI. an. Jer 7,9 und Hos 4,2 könnten noch weitere Gebote (älterer Fassungen?) des D. im Blick haben; möglicherweise handelt es sich hier aber auch um (Anspielungen auf) Traditionen, auf die bei der Formulierung des D. zurückgegriffen wurde. Im Pentateuch finden sich in Dtn 12 26, aber auch im sog. Bundesbuch in Ex gewisse Parallelen zum D. in der thematischen Abfolge der Gesetze. Sie könnten auf redaktionelle Bearbeitungen zurückgehen, die verdeutlichen sollten, dass es den Gesetzen des Pentateuch darum geht, das Ethos des D. in Rechtsordnungen umzusetzen. Demgegenüber scheint Lev 19, wo alle Gebote des D. der Sache nach aufgenommen, aber konsequent mit ganz verschiedenartigen anderen Bestimmungen vermischt werden, einer Überordnung des D. über die übrigen Gesetze der Tora kritisch zu widersprechen: Die Israeliten sollen alle Ordnungen und Rechtsbestimmungen Jhwhs befolgen (Lev 19,37, vgl. V. 18). II. NT: Diese Diskussion wird in der an das AT anschließenden frühjüd. Lit. weitergeführt. In der rabb. Lit. wird auf der Linie von Lev 19 eine Sonderstellung des D. abgelehnt. Demgegenüber deuten Textfunde (Papyrus Nash, Tefillin aus Qumran) darauf hin, dass der D. als Zusammenfassung der Tora separat überliefert wurde. In diesem Sinne wird auch im NT mehrfach auf den D. Bezug genommen. In Mk 10,17 22par. fasst Jesus die Gebote Gottes zusammen, indem er die Gebote V. VIII. und IV. des D. zitiert (und bei Mk noch um das Gebot, niemanden zu berauben, ergänzt; in der Parallele Mt 19,16 22 findet sich stattdessen noch das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18). Daneben steht in Mk 12,28 34par. die Zusammenfassung des Gesetzes im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als dem höchsten Gebot. Der D. (und hier bes. die Gebote für das zwischenmenschliche Verhalten) und das Liebesgebot stellen also offenbar zwei sachlich gleichwertige Möglichkeiten dar, die Bestimmungen der Tora kurz und prägnant zusammenzufassen. In Röm 13,9f stehen die Gebote VI., V., VII. und IX./X. des D. exemplarisch für die Forderungen des Gesetzes; sie können ihrerseits zusammengefasst werden im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18, vgl. Gal 5,14; Jak 2,8). Damit wird die Entfaltung und Konkretisierung von Ethik und Recht nicht überflüssig, vielmehr wird ihr ein Freiraum eröffnet, der auch Korrekturen und neue Entwicklungen zulässt. I. G. Braulik, Die deuteronomischen Gesetze und der Dekalog, Stuttgart 1991; F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, München 1983; C. Dohmen, Was stand auf den Tafeln vom Sinai und was auf denen vom Horeb?, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Vom Sinai zum Horeb, Würzburg 1989, 9 50; F.-L. Hossfeld, Der Dekalog, Fribourg u. a. 1982; W. H. Schmidt u. a., Die Zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik, Darmstadt 1993; T. Veijola, Moses Erben, Stuttgart u. a II. C. Burchard, Nächstenliebegebot, Dekalog und Gesetz in Jak 2,8 11, in: E. Blum (Hg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1990, ; R. H. Fuller, The Decalogue in the New Testament: Interp. 43 (1989) ; D. Lioy, The Decalogue in the Sermon on the Mount, New York u. a Thomas Krüger
144 Diaspora Ebenbild 132 Diaspora (D.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) I. AT: 1. Der hebr. Begriff gola bezeichnet die Vertreibung der Israeliten ins Exil sowie das Leben der Deportierten außerhalb des Landes. I. 2. Seit dem Untergang Israels 724/720 v. Chr. und Judas v. Chr. gibt es eine israelit. bzw. jüd. D.; über viele Jahrhunderte hinweg waren vor allem die Diasporagemeinden in Babylon und Ägypten wichtig. Vom Konzept des Exils unterscheidet sich die D. dadurch, dass sie ihren Aufenthalt außerhalb des Heiligen Landes als dauerhaft ansieht (Jer 29,1 9 [dagegen Jer 29, 10 14]; 45,1 5). Die Rückkehr der D. findet erst im Eschaton statt, zusammen mit allen anderen Völkern (Jes 2,2 5; 43,5 7; 45,14f; 49,12.22f; 55,5; 60,3 14; 66, ), wobei der D. mitunter eine missionarische Funktion zugeschrieben werden kann (Jes 66,18 21; vgl. Sach 8,23). Das Loben Gottes unter den Völkern in den Psalmen (Ps 18,50; 57,10; 96,3; 96,10; 108,4) definiert nicht nur die liturgische Rolle Israels in der Welt, sondern macht den Psalter zusätzlich D.- inklusiv. Mit den aus dem Jh. v. Chr. stammenden D.-Novellen (Josefsgeschichte Gen 37 50*; Ester; aramäisches Daniel-Buch Dan 2 6*; Tobit) behauptet sich die D. nicht nur gegen ihre jeweilige Umwelt, sondern auch gegen den Aufruf der Heimkehrer, es ihnen gleich zu tun (Gen 12,1 3; 11,27 12,5) und gegen den Alleinvertretungsanspruch der bab. Gola (Esr 1,5 11). II. NT: 1. Das Wort D. kommt vom griech. diaspor/ und bedeutet Zerstreuung. Es wird heute überall dort verwendet, wo Menschen eines bestimmten Glaubens als Minderheit in einer durch andere rel. Traditionen geprägten Umwelt leben. II. 2. Das NT setzt eine breit über den östlichen Mittelmeerraum und Vorderen Orient verteilte jüd. D. als Selbstverständlichkeit voraus (Apg 2,5 11). Zahlreiche Protagonisten frühjüd. Geschichte stammen aus der D. (z. B. Paulus aus Tarsus). Die im NT erwartete Sammlung der Verstreuten von den Enden der Erde nimmt die Existenz einer D. auf, öffnet sie aber in Anlehnung an die Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion stellenweise auch für Angehörige nichtjüd. Völker. Die Zwölfzahl der Jünger Jesu bildet die Wiederherstellung Israels vorgreifend ab und unterstreicht die Sendung Jesu an ganz Israel. Nach Hebr 13,14 (2 Kor 4,1 5,10 generalisierend) existiert jeder Christenmensch in einer D.-Situation auf dieser Seite des Eschatons (vgl. auch 1 Petr 1,1; Jak 1,1). Damit befindet sich dieser in der gleichen Situation wie die atl. Glaubensvorbilder von Abel bis Abraham (Hebr 11,1 13) und bis zu den letzten der Propheten (Hebr 11,14 40). Die reale D.-Situation der frühen Kirche in und bald zwischen Synagoge und Imperium und die Entfremdung der frühen Christinnen und Christen von ihren Herkunftsgemeinschaften wird (wahrscheinlich über den realen Befund hinaus, vgl. jedoch 2 Kor 11,21 12,10) als Hass und Verfolgung erfahren (Mt 24,9; Joh 15,18 16,4). Vom selbst auferlegten Exil der frühchristl. predigenden Wanderradikalen ist in diesem Kontext wohl eher abzusehen. Die reale Situation der Christenheit wird in Eph 2,11 22 spirituell auf den Kopf gestellt: Als Teil der paganen Welt waren die Christen und Christinnen Fremdlinge und sind es jetzt, durch Christus mit Israel vereint, vor Gott nicht mehr. I. R. Albertz, Der Gott des Daniel, Stuttgart 1988; R. P. Carroll, Exile! What Exile?, in: L. L. Grabbe (Hg.), Leading Captivity Captive, Sheffield 1998, II. J. H. G. Barclay (Hg.), Negotiating Diaspora, London 2004; G. Theißen, Wir haben alles verlassen (Mc. X 28): NT 19 (1977) ; W. C. van Unnik, Das Selbstverständnis der jüdischen Diaspora in der hellenistisch-römischen Zeit, Leiden Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Ebenbild (E.) ( Dachartikel: Anthropologie) Diaspora Vorbemerkung: Die Gottebenbildlichkeitsaussage ist eine wichtige, aber nicht zentrale anthropologische Aussage in der Schrift. Dass der Mensch als Gottes Bild geschaffen ist, findet sich nur selten explizit ausgesagt, ausgehend vom ersten Schöpfungsbericht in Gen 1,26f, damit verbunden in Gen 5,1 3 und Gen 9,6 und schließlich aufgenommen in Weish 2,23; Sir 17,3 und Jak 3,9. Eng verbunden mit diesen Stellen ist die Aussage in Ps 8,6, wo der Mensch nur wenig geringer als
145 Ebenbild 133 Gott erschaffen ist. Im NT wird Christus als Bild Gottes entfaltet. Die anthropologischen Grundlagen der Gottebenbildlichkeit des Menschen werden im AT ausgeführt. I. AT: 1. Die Aussage vom Menschen als Bild Gotteswirdin Israel erstmalig in der Exilszeit formuliert, als ein reales Königtum in Israel nicht mehr existiert. In der exil. (oder frühnachexil.) Priestergrundschrift wird die königsideologische Aussage demokratisiert und auf alle Menschen übertragen. Dazu werden in Gen 1,26 zwei Bildbegriffe benutzt, die es erlauben, die Ebenbildlichkeit näher zu bestimmen. Der erste, rælæm, meint eine Statue, ein Rundbild oder eine Plastik und ist am ehesten als Repräsentationsbild wiederzugeben. Der zweite, d e mut, bezeichnet eine Nachbildung, ein Abbild oder die Ähnlichkeit. Lasst uns Menschen machen als unser Repräsentationsbild, als unsere Ähnlichkeit wäre eine treffende Übersetzung. Es fällt auf, dass beide Begriffe im AT nicht im Kontext der Bilderpolemik auftauchen oder für ein Kultbild verwandt werden. Beide Aussagen von Gen 1,26 ergänzen einander in dem Grundtenor, dass nicht eine Aussage über die Qualität des Menschen, sondern über seine Funktion gemacht wird. Hier ist der enge Zusammenhang mit dem Herrschaftsauftrag zu beachten. Dabei geht es nicht um eine bedingungslose Naturbeherrschung und ein unterdrückendes Niedertrampeln der Tierwelt (nicht: unterwerft sie euch!), sondern wieder in einer der Königsideologie entlehnten Vorstellung um Bewahrung und Verantwortung. Der Mensch ist beauftragt, die von Gott gut erschaffene Welt in Ordnung zu halten. Wenn der Mensch als Repräsentationsbild Gottes bestimmt ist, ist er als Stellvertreter Gottes zum verantwortlichen Verwalter der Schöpfung eingesetzt. Wie der König durch sein Handeln das Chaos, das in den Feinden präsente und bedrohliche Böse Tag für Tag zurückdrängt und der guten Schöpfung Raum und Lebensmöglichkeit schafft, so soll auch der Mensch in seinem Handeln die Ordnung der Schöpfung bewahren und umsorgen (Abb. 17). Er übt in seiner Herrschaft Gewalt aus (hebr. die Verben rdh niedertreten, den Fuß aufsetzen und kbš dominieren ), die lebensförderlich ist und bedrohliche wie zerstörende Gewalt verhindert. Abb. 17: Sandalen aus dem Grab Tutanchamuns (ca v. Chr.). Die militärischen Bogen und die gebundenen Feinde symbolisieren die Bedrohung der Ordnung, die der König durch sein Auftreten bzw. in seinem königlichen Handeln zurückdrängt und so die Entfaltung des Lebens ermöglicht. Quelle: S. Schroer/T. Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, Abb. 91. Die Blickrichtung der Gottebenbildlichkeitsaussage geht von Gott auf den Menschen zu der Schöpfung unter ihm, nicht vom Menschen zu Gott. Es ist eine Funktions-, nicht eine Qualitätsaussage, weshalb statt von Ebenbildlichkeit besser von Gottesbildlichkeit gesprochen wird. I. 2. In der Auslegung von Gen 1,26f hat man lange das formuliert, was den Menschen von den Tieren scheidet. So wurden seine Rationalität, sein (Selbst-)Bewusstsein und seine Sprachfähigkeit, sein aufrechter Gang oder die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz als Inhalt der Gottebenbildlichkeit gesehen. Für das angemessene Verständnis der Aussage hängt viel am Bildbegriff, der in der Moderne von dem Gedanken der Kopie und des getreuen Abbildes geprägt ist. Jedoch hat das Bild in der Antike durchgehend mehr repräsentative als abbildende Aspekte. In der ao. Königsideologie gilt der König als E. Gottes. Insbes. in Ägypten, aber auch im Zweistromland, wird dem König ab dem 18. Jh. v. Chr. bis in ptolemäische Zeit als Abbild des Schöpfergottes eine Gottähnlichkeit zugesprochen, die ihn
146 134 zum Repräsentanten Gottes macht. Durch sein Amt repräsentiert der König die göttliche Ordnung, die er gegen das drohende Chaos durch sein Regierungshandeln aufrechtzuerhalten sucht. Der König ist so Schützer der Lebensordnung, Anwalt der Schwachen und Beschützer der Armen. Außer in der äg. Lehre des Merikare (2100 v. Chr.), wo die Ebenbildlichkeit mit einem bes. Bildbegriff von allen Menschen ausgesagt wird, fehlt in den ao. Aussagen der Schöpfungsbezug. Dagegen wird in der bibl. Königsideologie der König nie explizit als Bild Gottes gefasst, auch wenn die Aufgaben der ao. Auffassung vom Amt des Königs weitestgehend entsprechen. I. 3. Die Aufnahme der Aussage von Gen 1,26 in Gen 5 überträgt die Verantwortlichkeit in der Stammelternperspektive auf die Nachkommen Adams (und Evas). So wie der Mensch Gott entspricht, soll auch Set seinem Vater Adam entsprechen (Gen 5,3). Hier wird die auch im AO verbreitete Vorstellung, dass der leibliche Sohn als Bild des Vaters bezeichnet wird, aufgenommen und mit der Gottesbildlichkeitsaussage verknüpft. Die reine Funktionsaussage wird damit verlassen. Diesen Eindruck macht auch Gen 9,6, wo das Tötungsverbot mit der Ebenbildlichkeit des Menschen begründet wird. Auch hier steht der Relationsbegriff im Hintergrund. Die Tötung eines Menschen durch den Menschen wird als Aufgipfelung der Verletzung des schöpfungsgemäßen Schutzauftrages verstanden. Es geht um den unbedingten Schutz des Lebens, der dem Menschen wiederum in der Priestergrundschrift als Auftrag zugewiesen wurde. I. 4. Innerhalb der hebr. Bibel ist die Gottesbildlichkeitsaussage auffallend selten aufgenommen. Lediglich Ps 8,6 scheint in der Linie von Gen 1,26 zu stehen. Unter dem Einfluss von platonischer Ideenlehre und einem Bildbegriff, der einer Urbild-Abbild-Relation Rechnung trägt, kommt es in der griech. Bibel zu einer Verschiebung der Aussagetendenz hin zu einer Qualitätsaussage. Schon das kat exk3na Tmet0ran ( gemäß unserem Bild ) der LXX-Übersetzung von Gen 1,26 (etwa 3. Jh. v. Chr.) geht in diese Richtung. Noch deutlicher zeigt sich die Tendenz in Weish 2,23 (1. Jh. v. Chr.), wo die Ebenbildlichkeit als Unsterblichkeit verstanden ist. Damit wird die Ebenbildlichkeit zu einer verlierbaren Eigenschaft (vgl. Ebenbild auch ApkMos XX, 1f). Dazwischen steht Sir 17 (Anfang 2. Jh. v. Chr.), wo einerseits die Gottesbildlichkeit noch eindeutig eng mit dem Herrschaftsauftrag von Gen 1 verknüpft ist, andererseits aber schon die beiden Schöpfungsberichte zusammen gelesen werden. Das ist die Voraussetzung für ein Verständnis der Aufnahmen der Ebenbildlichkeitsaussage im NT. II. NT: 1. Für die Rede von der Ebenbildlichkeit benutzt das NT überwiegend den griech. Terminus exk5n, wobei z. T. die Aussage auch ohne den Begriff formuliert wird. So ist in Eph 4,24 der Mensch nach Gott geschaffen (t<n kat8 ue<n ktisu0nta). Die Gottesbildlichkeit des Menschen als Schöpfungsauftrag wird im NT nicht ausführlicher thematisiert. Die Ebenbildlichkeit sagt eine Qualität des Menschen aus. Dabei geht lediglich Jak 3,9 wie selbstverständlich davon aus, dass dem Menschen die Gottebenbildlichkeit eignet. Insbes. wo die Gottebenbildlichkeit von Christus ausgesagt wird und der Mensch in der Neuschöpfung diesem ebenbildlich angeglichen wird, erscheint die Gottebenbildlichkeit des Anfangs als verlorengegangene Eigenschaft. Indem Adam sündigt, setzt er sich in einen Widerspruch zu dem Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist. Da nun alle Menschen nach dem alten Adam geschaffen sind, fehlt allen Menschen von jeher die Gottebenbildlichkeit aufgrund der Sünde. So kann Paulus in Röm 3,23 zu dem Schluss kommen: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Dem neuen Adam hingegen, der ohne Sünde ist, kommt die Gottebenbildlichkeit in bes. Weise zu. Er ist Bild Gottes (2 Kor 4,4), sodass die in ihm im Glauben neu geschaffenen Menschen wieder der Gottebenbildlichkeit teilhaftig werden können (Röm 8,29; 1 Kor 15,49). Die Aussagen bei Paulus ruhen also auf der Christologie und verschieben die Ebenbildlichkeit des Menschen von der Schöpfungswirklichkeit des Anfangs zur Erlösungswirklichkeit des Endes ( Anthropologie). Die Aussage, dass Christus das E. Gottes ist, hat ihre Vorgänger in Weisheitsspekulationen wie etwa Weish 7,24 27, wo die Weisheit Bild der Güte Gottes, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft ist, und bei Philo von Alexandrien, für den das Bild Gottes der Logos ist, durch den die ganze Welt geschaffen ist. Diese Linie wird aufgenommen in dem
147 Ehe 135 Kolosserhymnus (Kol 1,15), wo die ganze Schöpfung auf den präexistenten Christus hin geschaffen ist, der das Bild des unsichtbaren Gottes ist. Dieser wird als wirksame Repräsentation Gottes in der Menschwerdung an die Welt vermittelt. II. 2. Nur auf dem Hintergrund einer Neuschöpfung in Christus ist der problematische Midrasch 1 Kor 11 zu verstehen, wo der Mann als Abglanz Christi gilt und der Frau nur eine vom Mann abgeleitete Gottebenbildlichkeit zuzukommen scheint. Da die Frau hier entgegen dem Wortlaut von Gen 1 3 als Zweiterschaffene hinter dem Mann rangiert, droht die Aussage in einen Widerspruch zu Gen 1,26f zu geraten, wo betont wird, dass die Gottesbildlichkeit dem zweigeschlechtlich geschaffenen Menschen gleichermaßen zukommt. III. Obwohl die Ebenbildlichkeit keine zentrale Stellung in der Bibel hat, ist sie doch als Spitzenaussage der bibl. Anthropologie zu bezeichnen. Die Differenz zwischen beiden Testamenten ist dabei nicht zu verwischen. Die auf den Schöpfungsauftrag bezogene und bleibend gültige Aussage Gen 1,26f darf nicht durch die von Christus her bestimmten und auf die Erlösung ausgerichteten ntl. Aussagen verdrängt werden. Beide behalten in bibl. theol. Perspektive gleiches Recht. Während die funktional verstandene Gottesbildlichkeitsaussage die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung festhält, macht die qualitativ verstandene Gottebenbildlichkeitsaussage deutlich, dass der sündige Mensch dem Auftrag Gottes nur bedingt entspricht und erst durch die Erlösung entsprechen kann. I. W. Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?: JBTh 15 (2000) 11 38; N. Lohfink, Die Gottesstatue, in: ders., Im Schatten deiner Flügel, Freiburg , 29 48; R. Oberforcher, Biblische Lesarten zur Anthropologie des Ebenbildmotivs, in: A. Vonach/G. Fischer (Hg.), Horizonte biblischer Texte, Göttingen u. a. 2003, II. H. Merklein, Christus als Bild Gottes im NT: JBTh 13 (1998) 53 75; S. Vollenweider, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes, in: H.-P. Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes Herrscher über die Welt, Neukirchen-Vluyn 1998, Christian Frevel Ehe (E.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Ehe I. AT: 1. Für E. ist kein hebr. Wort vorhanden. Der Akt der Eheschließung wird mit dem Verbum b}l Qal oder lqg {išša (= eine Frau nehmen ) ausgedrückt. Beide Wendungen sehen den Sachverhalt vom Mann aus. Das Nomen ba}al ( Herr ) wird für den Ehemann im Sinn des dominierenden Eheherrn im Verhältnis zu seiner Ehefrau ({išša), der Verheirateten (= b e }ula = Part. Passiv Fem.), gebraucht. Auch das in Bezug auf Besitzverhältnisse neutralere {iš ( Mann ) kann den Ehemann bezeichnen, der bei der Heirat den aktiveren Part hatte. I. 2. Die E. war für Männer wie Frauen im AO die Lebensform, die man von ihnen im Rahmen eines gesellschaftlich als erfolgreich bewerteten Lebens erwartete. Die Eheregelungen im AT entsprechen im Wesentlichen dem ao. Gewohnheitsrecht (z. B. Inzesttabu Lev 18). Eine E. wurde von dem Vorstand der beiden beteiligten Familien oft noch im Kindesalter der Betroffenen arrangiert oder auch erst später, z. T. mit Mitsprache der Betroffenen (Gen 24,2ff.58; 28,2 mit 29,18; Dtn 7,3). Die Liebe war keine Voraussetzung der Eheschließung, wohl aber erwünschte Begleiterscheinung oder Konsequenz (Gen 24,67). E. mit Ausländern ( Fremder) wurden erst in der exil.- nachexil. Zeit problematisiert. Zwei verschiedene Positionen sind im AT fassbar: Während die Moabiterin Rut (Rut 3f) als ein Glücksfall für ihren judäischen Mann Boas angesehen wird, sind die sog. Mischehen in Gen 27,46 verpönt, in Dtn 7,3f verboten und wurden im Zuge der Neukonstitution der Identität Judas in der nachexil. Zeit zwangsweise aufgelöst (Esra 9f). I. 3. Ehelosigkeit war kein gesellschaftliches Ideal. Außereheliche Liebe kam schnell in den Verruf der Entehrung der unverheirateten Frau oder erfüllte den Tatbestand des Ehebruchs (ni{uf, na{ a fuf), wenn die Frau verlobt oder verheiratet war. Während von der Ehefrau sexuelle Ausschließlichkeit gefordert wurde, sodass jeder sexuelle Kontakt mit einem anderen Mann Ehebruch war (Num 5,11 31), galt ein Mann (egal ob verheiratet oder nicht) nur als Ehebrecher, wenn er mit der Verlobten oder Ehefrau eines an-
148 136 Ehe deren Geschlechtsverkehr hatte, da er dann in fremde Eigentumsrechte eingriff. Der Gang zur käuflichen Prostituierten ({išša zona) oder zur unverheirateten Frau zählte folglich nicht als Ehebruch. Ehebruch war verboten (Ex 20,14; Lev 20,10; Dtn 5,18), hatte strafrechtliche Konsequenzen und wurde mit Steinigung geahndet (Lev 20,10; Dtn 22,22 27 vgl. Ez 16,38 40). Bei der Heirat verbanden sich zwei ehrenhafte und ebenbürtige (meist durch Besitzgleichstand symbolisiert) Familien, was u. a. das Netz ihrer sozialen Beziehungen und damit die Solidaritätsgemeinschaft erweiterte. Ausschlaggebend für die Partnerwahl durch den Hausvorstand waren das materielle Wohlergehen und die Ehre des Familienverbandes. Daher war es wichtig, dass der Ruf der Braut untadelig (Nachweis der Jungfräulichkeit) und sie in der Lage war, ihre Aufgaben als (treue) Ehefrau und Mutter (möglichst vieler Söhne) zu erfüllen und zum Erfolg ihres Mannes (z. B. durch umsichtigen Umgang mit seinem Besitz) beizutragen (Spr 31). Starb derselbe kinderlos, so sollte sein Bruder oder nächster Verwandter die Witwe heiraten (Weigerung möglich!), um durch die Zeugung von Kindern die Familien- und Erblinie zu erhalten (sog. Levirats- E.; Dtn 25,5 10; Gen 38,6 30; Rut 1 4). Die Braut wechselte mit der Heirat von ihrer Familie in die ihres Mannes (Gen 24,58ff), während ihr Mann in der patrilokal organisierten Familienstruktur innerhalb seiner eigenen Familie blieb (Ausnahme: Gen 2,24). Aus diesem Ein-heiraten ergab sich für die Ehefrau das Problem, dass sie in der neuen Familie fremd war. Sie musste sich in die bestehende Hierarchie einreihen, wo sie sich unterhalb ihrer Schwiegermutter und, so vorhanden, unterhalb bereits vorhandener Ehefrauen einzufügen hatte. Polygamie war möglich, wenn auch sicher nicht die Regel, und setzte einen begüterten Ehemann voraus (Gen 29,15ff; 2 Sam 3,2 5; 1 Kön 11,1ff, s. Dtn 21,15 17). Der Vater der Braut erhielt eine Brautgabe (Gen 34,12; 29,18ff; 1 Sam 18,25), die als Entschädigung, Kaufpreis, Geschenk oder Versicherung für die Tochter interpretiert werden kann. Das Verhältnis zwischen Ehefrau und Ehemann war innerhalb der Parameter des Patriarchats hierarchisch strukturiert. Von ihr wurde Ehrerbietung und die Anerkennung seiner Autorität erwartet. Die Ehefrau und die von ihr erwarteten Kinder bedeuteten für die Familie ihres Mannes eine Stärkung der Arbeitskraft. I. 4. Das AT bekämpft (zum Schutz der Frau) die leichtfertige Ehescheidung (Dtn 22, f), erkennt aber das Recht darauf an, so gute Gründe bestehen. Die Ehescheidung wurde mit der Übergabe eines Scheidebriefs offiziell, den der Ehemann, der die Scheidung wollte, seiner Frau zu übergeben hatte (Dtn 24,1.3). Anschließende Wiederheirat war möglich (Dtn 24,1 4). Für die schöpfungstheol. Verankerung der E. wird gern Gen 1,27; 2,18 24 angeführt, wo aber nur von der sich ergänzenden Partnerschaft der Geschlechter die Rede ist, ohne auf die rechtlichen Aspekte der E. einzugehen ( Frau). Im Anschluss an die gesellschaftlichen Konventionen wurde die Ehemetaphorik mit der Rollenverteilung Israels als Braut/Ehefrau und Jhwhs als Ehegatten von den Propheten (Jes 54,5ff; Jer 2,2; Ez 16,7 14; Hos 2 3) auf den Bereich der rel.-kultischen Ausschließlichkeit übertragen. Die Verehrung eines anderen Gottes als Jhwh wurde innerhalb dieses Vorstellungsbereiches zum Ehebruch/Treubruch und der Hurerei der Ehefrau Israel gegenüber dem Eheherrn Jhwh (Jer 3,8f; 5,7; Hos 2,4; Ez 16,15ff). Dieser ließ sich nach Jer 3,8 (vgl. aber Jes 50,1) aus guten Gründen von Israel (= Nordreich) scheiden. II. NT: 1. Die E. heißt im NT g/mow (im Pl.: Hochzeit ); heiraten, meist vom Mann aus betrachtet, aktivisch gam0v, von der Frau passivisch gam0omai (daneben auch mnhste4omai verlobt werden ); verheiraten (vom Vater aus) gam2yv/-2skv. Das NT steht bzgl. der Ehemoral in der strengen frühjüd. Traditionslinie, die Sexualität nur innerhalb der E. zuließ, und bringt diese gegenüber der hell.-röm. Welt zur Geltung. Daher sind die Wortfelder rund um Ehebruch und Unzucht (= jede außereheliche Sexualität) stark besetzt (moixe2a Ehebruch ; moixe4v Ehebruch treiben ; moix3w/moixal2w Ehebrecher/-in ; moix/omai zum Ehebruch verführt werden ; p3rnh Prostituierte ; p3rnow der Unzüchtige, Hurer ; porne2a Unzucht ; porne4v Unzucht treiben ). Braut (n4mfh), Bräutigam (nzmf2ow) und die Söhne des Brautgemachs (zwo; toq nzmfmnow = die dem Bräutigam nahe stehenden Festgäste) begegnen
149 Ehe 137 in Fortführung atl.-jüd. Ehemetaphorik fast ausschließlich in Bildworten und Gleichnissen zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und Israel bzw. Jesus Christus und seiner eschatologischen Braut, der Kirche (Mk 2,19f; Mt 22,1 14; 25,1 13; Eph 5,22 32; Offb 21,2.9; vgl. Joh 3,29: der Täufer als Brautwerber; 2 Kor 11,2: Paulus als Brautvater oder -führer). II. 2. Obwohl in philos. Zirkeln eine lebhafte Diskussion über das Für und Wider der E. geführt wurde, ist die meist monogame, durch die Familien arrangierte E. auch in ntl. Zeit die als selbstverständlich vorauszusetzende Lebensform (vgl. Mt 24,38: Essen, trinken, heiraten, verheiraten). Doch blieb Jesus selbst wohl um des Himmelreiches willen (Mt 19,12), d. h. aufgrund seiner Aufgabe als Prophet der im Anbruch befindlichen Herrschaft Gottes, ehelos und stellte den Ruf in die Nachfolge ( Apostel) über die E. Auch Paulus hielt angesichts seiner Naherwartung, die dazu verpflichtete, diese Welt nur noch als vergehende wahrzunehmen (1 Kor 7,29 31), die Ehelosigkeit für ein Charisma ( Amt), das die ungeteilte Hingabe an Christus ermöglicht (1 Kor 7,7f f). Gegen asketische Strömungen in Korinth ( Askese) forderte er jedoch, bestehende E. und Eheversprechen zu respektieren, wobei die in 1 Kor 7,2 5 gewählte Gleichheitsrhetorik v. a. dazu dient, Frauen von ihrer Verpflichtung zur Aufrechterhaltung ehelicher Sexualität zu überzeugen. Analog erlaubt Paulus 1 Kor 7,36 38 dem Verlobten, über Enthaltsamkeit oder Ehevollzug zu entscheiden, ohne den Willen der Jungfrau zu berücksichtigen. Leitend sind dabei ein patriarchales Eheverständnis (1 Kor 11,3: der Mann ist Haupt der Frau) und das Interesse, durch legitime eheliche Sexualität Unzucht zu vermeiden (1 Kor 7, ). Geschlechtsverkehr mit den eigenen Sklavinnen (und Sklaven) und Prostituierten galt im griech.-röm. Einflussbereich als nur vereinzelt in Frage gestelltes männliches Privileg, gegen das 1 Kor 6,12 19 explizit argumentiert und dessen Aufhebung als Hintergrund anderer ntl. Eheparänesen und Lasterkataloge vorauszusetzen ist (1 Kor 6,9f; 1 Thess 4,3 5; Hebr 13,4). Während frühjüd. Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen den Hintergrund dieser Mahnungen bilden, stehen die Eheparänesen der sog. Haustafeln (Eph 5,22 32; Kol 3,18f; 1 Petr 3,1 7; vgl. 1 Tim 2,8 15; Tit 2,3 5) in der Tradition der philos. Oikonomia, die im Gefolge der Eheideologie und Ehelosigkeit sanktionierenden Gesetzgebung des Augustus einen Aufschwung erlebte (u. a. Frauenspiegel, Traktate über die Ehe und die Führung des Hauses durch den Hausherrn). Sie fordern von der Frau Unterordnung, (Ehr-)Furcht und geschlechterrollenkonformes, unauffälliges Verhalten, vom Mann Liebe, Fürsorge und Rücksicht. II. 3. Ehebruch wurde in allen antiken Gesellschaften sanktioniert, mit lokal und je nach Stand, Geschlecht und Rechtsstatus des/der Betroffenen unterschiedlichen Definitionen des Tatbestandes und Schwere der Bestrafung. Jesus verschärfte einerseits die Toraauslegung bzgl. des Ehebruchs, indem er bereits die Absicht und den begehrlichen Blick für die Tat nahm (Mt 5,27 30). Diese in erster Linie auf Bewusstseinsveränderung bei Männern zielende Toraauslegung (nahezu alle sind schuldig und verdienten die atl. vorgeschriebene Todesstrafe!) wird begleitet durch eine in ihrer Zeit auffällige Toleranz und Vergebungsbereitschaft gegenüber Frauen, die durch die herrschende Doppelmoral schnell als Sünderinnen stigmatisiert wurden, obwohl sie sich in vielen Fällen gegen sexuelle Übergriffe und Ausbeutung nicht wehren konnten (Mt 21,31; Lk 7,36 50; Joh 7,53 8,11). II. 4. Ehescheidungen wurden in allen mediterranen Gesellschaften praktiziert und führten nicht per se zur Stigmatisierung der Geschiedenen. Nach griech.-röm. Recht konnte die Initiative zur Scheidung (meist) von beiden Partnern ausgehen; im Judentum herrschte im 1. Jh. n. Chr. mehrheitlich die Auffassung, allein der Mann sei berechtigt, den nach Dtn 24,1.3 erforderlichen Scheidebrief (bibl2on Bpostas2oz, Mk 10,4) auszustellen, doch sind von Frauen ausgestellte Scheidebriefe bezeugt (Ios. ant.iud. 15,259f). Das absolute Scheidungsverbot Jesu, das in der Verpflichtung auf lebenslange Monogamie in Qumran eine Parallele hat (CD 4,20 5,1), ist vielleicht in Kenntnis dieser konkurrierenden Rechtspraxis (vgl. Ios. ant.iud. 18, über die Landesfürstin von Galiläa) an Männer und Frauen gerichtet (Mk 10,11f; 1 Kor 7,10f). Es verbietet die der Scheidung im Regelfall folgende Wiederheirat
150 Ehre 138 als Ehebruch. Mt 5,32; Lk 16,18 verbieten konsequenterweise auch die Heirat einer Geschiedenen, was nicht im sozialen Interesse der betroffenen Frau lag. Theol. Begründung ist ähnlich wie in Qumran der Wille des Schöpfers: Gen 1,27 ( männlich und weiblich schuf er sie ) und 2,24 ( sie werden = sollen ein Fleisch sein ) werden abweichend von der herrschenden jüd. Interpretation als Auftrag zu monogamer und unauflöslicher Bindung verstanden (Mk 10,6 9). Jesu absolutes Scheidungsverbot war nicht durchzuhalten: Mt 5,32; 19,9 lassen porn0ia (hier: Ehebruch) als Scheidungsgrund zu, was kultisch-rituelles Denken und jüd. Rechtspraxis spiegelt (Jer 3,1f; Dtn 24,4; Sota 5,1 u. a.); Paulus erlaubt Christusgläubigen, deren nichtgläubige Partner die Scheidung verlangen, in diese einzuwilligen (1 Kor 7,15). I. E. W. Davies, Inheritance Rights and the Hebrew Levirate Marriage: VT 31 (1981) ; E. Otto, Der reduzierte Brautpreis, in: ders./s. Uhlig (Hg.), Kontinuum und Proprium, Wiesbaden 1996, ; ders., Das Eherecht im Mittelassyrischen Kodex und im Deuteronomium, in: ebd ; H.-F. Richter, Zum Levirat im Buch Ruth: ZAW 95 (1983) ; D. E. Weisberg, The Widow of Our Discontent: JSOT 28 (2004) II. K. Gaiser (Hg.), Für und wider die Ehe, München 1974; C. Osiek/D. L. Balch, Families in the New Testament World, Louisville 1997; A. C. Wire, The Corinthian Women Prophets, Minneapolis Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Ehre (E.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) Vorbemerkung: E. ist in unseren Quellen einerseits etwas, das von außen durch andere zuerkannt wird (relationaler Aspekt), andererseits kann sie als dem Träger selbst real inhärierend erscheinen (eine Art Aura; Hypostasenaspekt). Beides scheint einander zu widersprechen, ist aber tatsächlich komplementär, d. h. Sein und Geltung (Kapazität, Autorität und Prestige) gehören im Begriff der E. untrennbar zusammen. Auch kann E. sowohl im Sinne von Status ( Würde, [Vor-] Rang) wie von Tugend (Ehrbarkeit) akzentuiert sein. Im antiken Wertekodex ist E. die zentrale Größe. Ehre Abb. 18: Elamitische Vornehme werfen sich nach ihrer Unterwerfung vor ihrem König (geführt von einem assyrischen Soldaten) nieder. Relief aus Ninive, 7. Jh. v. Chr. Quelle: O. Keel, Bildsymbolik, Abb. 360a. I. AT: 1. E. (hebr. kabod) stammt von der Wurzel kbd ( schwer/gewichtig/bedeutsam sein ). Wichtig sind außerdem die Wurzeln hdr ( auszeichnen, schmücken ), gdl ( groß sein ); jqr ( wertvoll/kostbar sein ) sowie das Substantiv hod ( Gewicht, Macht, Pracht, Hoheit, Majestät ). E. ist das soziale Gewicht, d. h. die umfassende oder spezifische Response-Kapazität ( Kultur und Mentalität) eines Einzelnen oder einer sozialen Einheit. Je nach Kontext kann gemeint sein: Kraft, Größe, Vermögen, Kompetenz, Ansehen, Ruhm, Herrlichkeit, Pracht, (Licht)Glanz. Ehren hat ein ebenso breites Bedeutungsspektrum, das von respektieren, anerkennen über achten, für bedeutsam/kompetent halten, sich dankbar zeigen (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16; Sir 3,1 16; 7,27f) bis hin zu verehren, anbeten (für andere Götter als Jhwh nur Dan 11,38) reicht. I. 2. Von gleich zu gleich bzw. von unten nach oben wird E. durch respektvolles Verhalten erwiesen (förmliche Gesten wie Grüßen oder Niederfallen, Gehorsam gegenüber den Anweisungen einer Autorität, vgl. Abb. 18). Gott wird entsprechend durch kultische Begehungen (Ps 50,23) und die Befolgung seiner Gebote (Jes 58,13) geehrt. Von Höhergestellten wird, bes. im Rahmen des höfischen Zeremoniells, E. erzeigt mittels förmlicher Auszeichnungen oder öffentlicher Gunst- und Ehrenbeweise (Est 6,6 9). Eine wichtige Rolle spielen Statuserhöhungs-, Erniedrigungs- und Unterwerfungsrituale (2 Sam 5,3; 12,30). Primäres Symbol der E. ist der Name
151 Ehre 139 (Gen 12,2; 2 Sam 7,9.26; Sir 44,7 14), mit dem sich die E. einer Familie oder Dynastie vererbt und den Nachkommen als symbolisches Kapital wie als Verpflichtung hinterlassen wird. Ein anderes Symbol der E. ist die Krone (Ijob 19,9; Ps 8,6). E. besteht über den Tod hinaus (Jes 14,18), doch untersagt das AT kultische Begehungen zu E. der Toten, wie sie im AO weit verbreitet waren (Dtn 26,14; Ahnen). Die höchste E. kommt allein Jhwh zu, der keinen Rivalen neben sich duldet (Jes 42,8; 48,11). Unter Menschen haben und beanspruchen stets Autoritäten und Höhergestellte E. (Lev 19,32, Ex 20,12; Dtn 5,16; Est 1,20; Spr 25,6; Mal 1,6; Sir 10,24), andere erlangen E. auf Grund ihrer Kompetenz, ihres Amts (Spr 3,35; Sir 7,29 31; 38,1), ihrer Frömmigkeit (Sir 10,24) oder kriegerischer Heldentaten (2 Sam 23,18 23). Einer Frau gereicht Anmut zur E. (Spr 11,16), einem Untergebenem treuer Dienst (1 Sam 22,14; Spr 27,18). Vor Verachtung (auch) des (armen) Nächsten wird gewarnt (Spr 14,21; Sir 10,23). Wie ein bestimmtes Verhalten zu beurteilen ist, kann aber im Einzelfall strittig sein (2 Sam 6, ). Wird die erwartete E. nicht erwiesen oder gar ausdrücklich verweigert, so erfordert dieser Affront, sie durch einen Machterweis zu demonstrieren oder durch eine Strafund Racheaktion wieder herzustellen (vgl. Ex 20,5; 1 Sam 2,29f; Est 1,12 20; Jes 48,11). Ein Patron ist gehalten, auch für seine Klientel einzutreten (vgl. Ps 4,2 4), denn deren Beschämung trifft auch ihn selbst. Das aktive Eintreten für die eigene Reputation wird mit dem Begriff Eifer(sucht) (von der Wurzel qn{ Leidenschaft) bezeichnet (Ex 34,14; Dtn 4,24; Ez 39,25). So erweist sich das in der E. kumulierte soziale Gewicht im Falle seiner Missachtung als höchst bedrohlich und als Grund zur Furcht ( Ehrfurcht). Begrifflich ist im AT die E. als zentrale Kategorie im menschlichen Miteinander bes. in den Weisheitsschriften verankert (Spr, Weish, Sir). Die E. Gottes, die sich in Natur und Geschichte erweist, wird vor allem in den Pss. besungen. Für die Jerusalemer bzw. priesterliche Theol. (P, Jes, Ez; vgl. auch die Jhwh-König-Psalmen, bes. Ps 96) verbindet sich die Herrlichkeit Gottes primär mit dem Jerusalemer Tempel (bzw. als dessen Vorläufer mit dem Zelt der Begegnung ) und strahlt von dort auf Israel aus, bei den nachexil. Propheten auch auf die ganze Welt (Jes 60,1 7). Hier erscheint die Herrlichkeit Jhwhs geradezu als eine eigenständige Hypostase (analog dem Namen Jhwhs in der dtr.-dtn. Theol.), die sich in einem Feuer- und Wolkenphänomen (Ex 24,16f) oder dem himmlischen Thronwagen (Ez 1,28) materialisiert und in der Stiftshütte bzw. im Tempel Wohnung nimmt (Ex 40,34 38; 1 Kön 8,10f; Ez 43,5 7; vgl. auch Ps 26,8). Spät- und nachatl. taucht im Rahmen intensivierter Jenseitsspekulation das Thema der zukünftigen Teilhabe der Gerechten an dieser Herrlichkeit Gottes (bzw. der urspr. Herrlichkeit Adams) auf (Dan 12,2 4; 3Bar 4,16; ApkMos 21,6; 1QS 4,23; CD 3,20; 1QH 4,15; im NT vgl. Röm 2,7.10; 8,18; vgl. aber schon das Thema in anderer Form in Ps 8,5 7). Nicht zum semantischen Feld der E., sondern zu dem der Gerechtigkeit oder besser Gemeinschaftstreue (r e daqa) gehört im AT die Ehrbarkeit / Verlässlichkeit / Vertrauenswürdigkeit (honorvirtue). II. NT: 1. Stärker als hebr. kabod betonen die griech. Begriffe für E. (d3ja, Ansicht, Meinung mit den Bedeutungsaspekten gute Meinung/Ruf, Ansehen, Ruhm ; tim1, Abschätzung, mit den Bedeutungsaspekten Wert, Preis, Buße, Strafe, Ehrensold, Achtung, E., Würde ) sowohl den relationalen Charakter der E. (vgl. Aristot. NE 1,5,4, 1095b) wie auch die Tugendseite; zum semantischen Feld gehören auch Begriffe wie epsx1mvn ( wohlanständig, ehrbar, würdig ). Die griech. Philos. bindet die E. explizit an den ethischen Zentralwert der Tugend bzw. Vortrefflichkeit (Bret1) zurück (Aristot. NE 4,3,17, 1124a). Im NT überschreibt aber der atl. Sprachgebrauch den gewöhnlichen griech. Sinn. So hat d3ja (in der LXX die Übersetzung des hebr. kabod) im NT immer die Bedeutung E., Ruhm, Herrlichkeit, Pracht (auch ganz unüblich Lichtglanz, vgl. 1 Kor 15,40f), während die Grundbedeutung Meinung völlig fehlt. II. 2. Das atl. hymnisch-doxologische Gotteslob findet im NT seine Fortsetzung (Lk 2,14; Röm 11,36; 1 Tim 1,17; Jud 1,25; Offb 5,12f). Zu ehren ist Gott vor allem durch das menschliche Verhalten (Mk 7,6f), d. h. durch ehrbaren Wandel (Röm 13,13; 1 Thess 4,12) sowie durch Annehmen/Ehren seines Gesandten Jesus Christus
152 Ehrfurcht 140 (Joh 5,23). Die kultisch-rituellen Gebote treten demgegenüber zurück (Mk 7,1 15par.; Gal 5,6), während sie z. B. in Qumran die zentrale Rolle spielen. E. ist neben Gott/Jesus auch menschlichen Autoritäten und Funktionsträgern zu erweisen (Mk 7,10; Röm 13,7; 1 Tim 5,3.17; 6,1; 1 Petr 2,17). Individuen erwerben Ansehen und gelten als gewichtig (1 Thess 2,7) auf Grund ihrer Kompetenz, ihrer Verdienste oder weil sie (als Garanten der Tradition) die tragenden Säulen einer Gemeinschaft sind (Apg 5,34; 28,8 10; Gal 2,2.6.9). Gegenseitiger Respekt soll generell das Miteinander prägen (Röm 12,10; 1 Petr 2,17), speziell auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander (1 Petr 3,7; Frau). Als primäres symbolisches Medium von E. fungiert der menschliche Körper, E. und Unehre verkörpern sich jeweils in bestimmten Gliedern und deren Verrichtungen (1 Kor 12,23f; vgl. auch 2 Tim 2,20f), am männlichen und weiblichen Körper allerdings in unterschiedlicher Weise (1 Kor 11,3 16). Auch der Name ist wie im AT Symbol der E. (Phil 2,9). II. 3. Neben diesen eher traditionellen Topoi bestimmt sich das Thema der E. im NT zentral durch eine Reihe von charakteristischen, einander berührenden und durchdringenden Diskursen, die alle mit strittiger E. und der Frage nach den Kriterien für E. zu tun haben; häufig wird eine Umkehrung der normalen Maßstäbe propagiert: a) Ehre bei Gott vs. Ehre bei den Menschen, begrifflich bes. bei Joh (5,41.44; 7,18; 12,25f.42f); in den synopt. Evv. vgl. die Makarismen (= Seligpreisungen) und Weherufe (Mt 5,3 12; Lk 6,20 26); bei Paulus das Thema des Sich- Rühmens bzw. des Ruhms (Stamm kazx-), speziell die Opposition Ruhm bei Menschen vs. Ruhm bei Gott (1 Kor 1,26 31; zentrales pln. Symbol für diese Umkehrung ist das Kreuz Christi), sowie die Opposition Gerechtigkeit (bzw. Herrlichkeit ) des Gesetzes vs. des Glaubens (Röm, Gal, 2 Kor 3,4 18; Phil 3,3 8). b) Die Bestreitung und Verteidigung der E. und Autorität Jesu (Joh 5,23; 8,49f.54): In den synopt. Evv. vgl. thematisch die Streitgespräche (Mt 22,34f; Mk 2,1 12; 11,28par.; Lk 13,17). Dabei spielen auch die Kriterien Herkunft und Familie eine Rolle (Mk 6,1 6par.; Joh 1,45f; 7,41f.52). Als zentrales Motiv in dem Kampf um E. wird den Gegnern Jesu der Neid (fu3now) unterstellt (Mk 15,10par.; ähnlich die Eifersucht auf die Apostel Apg 5,17; 13,45; 17,5). c) Der Streit um die apostolische Autorität des Paulus (2 Kor 10 13; Gal; zentral ist der Stamm kazx-) und sein Verzicht auf menschliche E. (Phil 3,4 9; 1 Thess 2,6f) unter dem Vorzeichen des Kreuzes. d) Fragen der innergemeindlichen Rangordnung (Mt 23,8; Mk 9,33 35par.; 10,35 45par.; 1 Kor 3,21 23; Gal 6,3f). I. S. M. Olyan, Honor, Shame, and Covenant Relations in Ancient Israel and Its Environment: JBL 115 (1996) ; K. Stone, Sex, Honor and Power in the Deuteronomistic History, Sheffield II. W. R. Domeris, Honour and Shame in the New Testament: Neotest. 27 (1993) ; L. J. Lawrence, An Ethnography of the Gospel of Matthew, Tübingen 2003; B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart u. a. 1993; V. H. Matthews/ D. C. Benjamin (Hg.), Honor and Shame in the World of the Bible, Atlanta 1996; H. Moxnes, Honor and Shame: BTB 23 (1993) ; D. A. de Silva, Worthy of His Kingdom : JSNT 64 (1996) 49 79; C. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus, Göttingen Klaus Neumann Ehrfurcht (E.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) Ehrfurcht I. AT: 1. Die Wurzel jr{ ( sich fürchten ; Derivate jare{ furchtsam, ehrfürchtig ; jir{a Furcht, E. ; mora{ Furcht, Schrecken, E. ) bezieht sich im Sinne von E. im AT selten auf Menschen (Lev 19,3; Jos 4,14; Spr 24,21), meistens auf Gott. I. 2. Das Bedeutungsspektrum von jr{ reicht von numinoser oder panischer Furcht über Angst vor konkreter Bedrohung bis zu E., Respekt und Frömmigkeit. E. korrespondiert Heiligkeit (qodæš) und Ehre. Begrifflich ist sie bes. in Theophanieschilderungen verankert (Gen 28,17; Ex 3,6; Ps 76). In hierarchischen Sozialbeziehungen ist E. Ausdruck der Unterordnung unter eine als überlegen akzeptierte Autorität. Da hierarchische Verhältnisse nicht zwangsläufig auf Gewalt beruhen müssen, sondern auch Fürsorge und Patronage eine wichtige Rolle spielen können, sind E. und Liebe keineswegs Gegensätze. Speziell im Dtn sind E. und Liebe die beiden zentralen Seiten der exklusiven Beziehung Israels zu
153 Eigenschaften Gottes Eigenschaften Gottes 141 Jhwh (vgl. Dtn 6, ; 10,12f; auch im hell. und rabb. Judentum wird beides verbunden, wobei hier die Liebe tendenziell als das höherwertige bzw. die reine Furcht als defizitäres Motiv der Gottesverehrung erscheint, vgl. Philo spec. 1,300; migr. 21; Deus 69; somn. 1,163; bsota 31a; SifDev 6,5 32). Jhwh fürchten ist darüber hinaus in der dtn.-dtr. Theol. terminus technicus für die geforderte alleinige Verehrung Jhwhs. Anderswo wird Gottesfurcht vor allem als (Motiv der) Achtung vor dem Recht der sozial Schwachen und Abhängigen verstanden; Gott erscheint dann als deren Patron (Gen 20,11; Mal 3,5; bes. im Heiligkeitsgesetz Lev 19,14.32; 25, ). Ein zentraler theol. Begriff ist die Gottesfurcht auch in den Pss. und den Weisheitsschriften (Ijob, Spr, Koh, Sir), die u. a. beinhaltet, sich dem unerforschlichen Willen Gottes zu fügen (Ijob, Koh). II. NT: 1. E. kann mit den Wortstämmen fob- (fob0omai fürchten ; f3bow Furcht ; Bedeutungsspektrum wie hebr. jr{: Schrecken, Furcht, Angst, E. ), seb- (s0bomai sich scheuen, E. haben, verehren ; Komposita wie epseb0v = E. haben ; eps0beia E., Frömmigkeit, Rel. ; ueos0- beia Gottesfurcht, Gottesverehrung ), eplab- (epl/beia Vorsicht, Behutsamkeit, Angst, Gottesfurcht, Frömmigkeit ; eplab1w vorsichtig, behutsam, fromm ) sowie d0ow ( Furcht, E., ehrfürchtige Scheu ) formuliert werden. II. 2. Die Wendung Gott fürchten setzt den Sprachgebrauch des AT und der LXX fort. Im hell. Judentum ist Gottesfürchtige terminus technicus für die (unbeschnittenen) Sympathisanten des Judentums (vgl. schon 2 Chr 5,6 LXX). Diesen Sprachgebrauch nimmt nur die Apg auf (Apg 13,16.26; 16,14; 18,7), sonst ist der Begriff im NT Bezeichnung für die Christusgläubigen (Offb 19,5), entsprechend begegnet die Mahnung zur Gottesfurcht in den Briefen des NT (2 Kor 7,1; Phil 2,12; Kol 3,22; 1 Tim 2,10; 1 Petr 1,17; 2,17). Die Unterordnung unter die Autorität Gottes ist hier stets mitgedacht, auch wenn sie nicht eigens thematisiert wird. Im Besonderen stellt sich die (Gottes)Furcht als das Gegenteil von selbstsicherer Überheblichkeit dar und wird mit Gott als dem Richter in Zusammenhang gebracht (Röm 11,20; 2 Kor 5,10f; Offb 14,7). Auch die Mahnung zur E. vor menschlichen Autoritäten findet sich (Röm 13,1 7; Eph 5,33; 6,5; 1 Petr 2,18). In den Evv. begegnet der Begriff Gottesfurcht selten (Joh 9,31; Lk 18,2.4). E. äußert sich hier meist als Erschrecken angesichts göttlicher Epiphanien und Wundertaten (Mk 4,41par.; 5,15par.; 6,50par.; 9,6par.; 16,5.8; Lk 1,12; 2,9; 7,16; 24,37). Eine Sonderstellung in der Bibel nimmt das Corpus Johanneum ein, insofern nur hier ein Gegensatz von Liebe und Furcht behauptet (1 Joh 4,18; vgl. Cic. off. 2,23f; Sen. benef. 4,19,1; Sen. epist. 47,18) und das hierarchische Verhältnis der Glaubenden zu Gott/Jesus ausdrücklich durch das Verhältnis der Freundschaft (Joh 15,15) abgelöst wird, dem nicht Furcht, sondern Freimut (parrhs2a) entspricht (1 Joh 4,17). Eine ähnliche Rolle spielt bei Paulus das Motiv der Kindschaft/ Freiheit im Gegensatz zur Knechtschaft/Furcht (Röm 8,15; Gal 4,6f). Allerdings ist der Vater in anderer Weise als der Freund Respektsperson und das Verhältnis zu ihm bleibt in exemplarischer Weise von Liebe und E. bestimmt. I. J. Becker, Gottesfurcht im Alten Testament, Rom 1965; J. Haspecker, Gottesfurcht bei Jesus Sirach, Rom 1967; R. Sander, Furcht und Liebe im palästinischen Judentum, Stuttgart II. P. Gray, Godly Fear, Atlanta 2003; R. Sander, Furcht und Liebe im palästinischen Judentum, Stuttgart Klaus Neumann Eigenschaften (E.) Gottes ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) I. AT: Eine bibl. Lehre von den E. Gottes antwortet auf die Fragen Wer ist Gott? und Wie ist Gott? Wenn mit dem Stichwort Liebe das Wesen des bibl. Gottes sachgemäß bezeichnet ist, dann geht es bei den E. darum, die Konsequenzen dieser Erkenntnis zu entfalten. Obwohl auch im AT die Anzahl möglicher E. Gottes grundsätzlich unbegrenzt ist, werden im Folgenden nur diejenigen E. aufgeführt, die eine herausragende Rolle spielen. Es gibt grundsätzlich zwei Gruppen von E. Gottes: eine Gruppe, in denen der kategoriale Unterschied zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck kommt wie bei Gottes Macht, Allwissenheit (Wissen von gut und böse Gen 3,5.22), Ewigkeit und Allgegenwart (vgl. Ps 139,8f u. a.), und eine andere Gruppe
154 142 von E., die die reale Verbundenheit zwischen Gott und Mensch bezeichnen. Nur von dieser zweiten Gruppe ist im Folgenden die Rede. I. 1. Zu dieser Gruppe gehören zunächst Gottes Gerechtigkeit, Güte und Treue/ Wahrheit. Das Gemeinsame dieser drei E. liegt darin, dass sie alle Gottes Zuwendung zur Welt bzw. zu Israel umschreiben. Während das für Güte und Treue unmittelbar einleuchtet, verhält es sich bei der Gerechtigkeit zunächst etwas schwieriger, obwohl Gerechtigkeit im bibl. Sinn als Gemeinschaftstreue zu verstehen ist, durch die Jhwh den Menschen annimmt und ihm zum Recht verhilft. Jhwh ist nach atl. und speziell prophetischem Verständnis ein Gott der Gerechtigkeit, d. h. die Quelle und das Subjekt der Rechtsdurchsetzung, durch die der Bedrängte errettet und das Unrecht und seine Repräsentanten in die Schranken gewiesen bzw. geahndet werden (vgl. als locus classicus Ps 82, Gottesvorstellungen). Ebenso wie die Gerechtigkeit bringen auch die Güte und die Treue Gottes zum Ausdruck, dass Gott den Menschen heilsam verändern will. Dabei setzt gœsœd ein Gemeinschaftsverhältnis voraus und bezeichnet die diesem Verhältnis gemäße Güte und Freundlichkeit. So wurde der Begriff zur festen Gottesprädikation: Gott ist der, der gœsœd tut (Ex 20,6par. u. a.), der gœsœd bewahrt (Ex 34,7), der Gefallen hat an gœsœd (Mi 7,18), der reich an gœsœd (und { œ mœt) ist (Num 14,18; Joël 2,13; Jona 4,2 u. a.), der groß an gœsœd ist (Ps 145,8). Während in dem Doppelausdruck gœsœd w œ { œ mœt ( beständige Güte ) das erste Element das tragende ist, betont das zweite Element das Moment der Zuverlässigkeit ({ œ mœt Treue, Beständigkeit, Wahrheit ). Dieser Doppelausdruck wird gern für das Verhältnis Gottes zum Menschen gebraucht: Er bezeichnet die gütige, heilvolle Führung des menschlichen Lebens (Gen 24,27; 32,11; Ps 25,10 u. a.), das, was den Menschen behütet und bewahrt (Ps 40,10; 61,8; Spr 20,28), und das, was er bes. preist (Ps 40,11; 115,1; 138,2). Auf diese Weise bezeichnet der Doppelausdruck die unverbrüchliche Treue oder Beständigkeit Gottes. I. 2. Die E. von Gottes Barmherzigkeit, Gnade und Reue bringen im Unterschied zu seiner Gerechtigkeit, Güte und Treue/Wahrheit stärker den Aspekt einer unverdienten Gabe zum Ausdruck. Eigenschaften Gottes Gottes Barmherzigkeit bildet dabei nicht einen Gegensatz zu seiner Gerechtigkeit, sondern eine Einheit mit ihr. Das kommt nicht nur in der Idee der rettenden Gerechtigkeit (Gott erbarmt sich des Gerechten bzw. rettet den Gerechten, indem er den Frevler richtet: Ps 3 14 u. a.), sondern auch im Motiv der Umkehr Gottes (Gott erbarmt sich, nachdem er gerichtet hat: Gen *5 8; 8,21f* u. a.) sowie in der sog. Gnadenformel (Gott ist barmherzig, aber er lässt den Sünder nicht straffrei: Ex 34,6f; Num 14,18 u. a.) zum Ausdruck. Bes. charakteristisch ist in diesem Zusammenhang das Motiv der Reue Gottes, d. h. die Erfahrung, dass Gott sich erbarmt, anstatt zu richten. Die Grundstelle dafür ist Hos 11,*8 11. Während Gott nach der nichtpriesterlichen Fluterzählung (Gen *6,5 8,22) sein Gericht durch Barmherzigkeit zurücknimmt ( Umkehr Gottes ), spricht der Hoseatext von der Aufhebung des göttlichen Gerichtszorns durch Barmherzigkeit. Durch diese Reue Gottes entbrennt aus der dialektischen Spannung von Zorn und Liebe das Erbarmen (nigumim, Hos 11,8) Gottes, das eine neue Dimension im Gottesbild sichtbar macht. Ausgelöst wird die Rücknahme des Vernichtungsbeschlusses durch einen Herzensumsturz, der zu einem Willenswandel in Gott führt: Die rettende Gerechtigkeit rettet nicht nur vor Unrecht, sondern auch vor Recht sogar vor dem Recht eines Gottes, der Grund zur Unnachgiebigkeit hätte, der sich aber selbst beherrscht bzw. erbarmt. I. 3. Durch die Rede von Gottes Eifer(sucht), Rache und Zorn schließlich scheint ein dunkler Schatten auf das Gottesbild zu fallen. Oder sind diese E. Korrelate seiner Heiligkeit, seiner Gerechtigkeit und seiner Liebe? Der Eifer (qin{a) als Eigenschaft der Heiligkeit Gottes unterscheidet sich von der zwischenmenschlichen Eifersucht, sofern diese vordergründig als bloßer Affekt verstanden wird. Das Gemeinsame von Eifer und Heiligkeit und entsprechend von Rache und Gerechtigkeit bzw. von Zorn und Liebe ist der unversöhnliche Gegensatz zwischen Gottes Wesen und der Realität der Sünde. Schon bei Hosea wird dieser Eifer als eine Funktion der Liebe Gottes verstanden (Hos 2,11 15; 11,*8 11), um dann im Privilegrecht Jhwhs zum Namen und d. h. zur Wesensbestimmung Jhwhs zu werden (Jhwh heißt Eifersüchtiger, vgl. Ex 34,14b,
155 Eigenschaften Gottes 143 Gottesnamen). Der Dekalog bringt insofern einen zusätzlichen Aspekt ein, als Eifer(sucht) ein Charakteristikum des Exodusgottes wird (Ex 20,5par. Dtn 5,9). Die weitere Traditionsgesch. entfaltet das Theologumenon dann im Blick auf die Wirkung des Gotteseifers (Dtn 4,24; 6,15; Jes 24,19 u. a.). Auch die Rache (oder Vergeltung, naqam) und der Zorn ({af u. a.) Gottes sind E. seiner brennenden (!) Liebe und nicht Äußerungen seiner (allzu menschlichen) Selbstsucht und seines Gekränktseins. Natürlich sind Rache und Zorn dunkle Wörter, aber beide E. Gottes richten sich um des geliebten Gegenübers (Israel) willen gegen alles, was diesem schadet bzw. wodurch Israel sich selbst schadet. Wenn die Fluchund Rachepsalmen (Ps 58; 59; 69; 70; 109 u. a., Segen) von Rache sprechen, dann geht es ihnen darum, dass der von Feinden bedrängte Beter zu seinem Recht kommt, dass Gott ihm zum Recht verhilft. Der Ruf nach Rache ist deshalb ein Schrei nach Gerechtigkeit in einer Welt voller Ungerechtigkeit. Und entsprechend ist der göttliche Zorn, von dem bes. in der Geschichtsdarstellung (Ex u. a.), in der Gerichtsprophetie (Jes 9, ,25 29 u. a.), in den Klageliedern des Volkes (Ps 74,1f u. a.), im DtrG (Ri 3,7 11 u. a.) und bei DtJes (Jes 54,7 10 u. a.) die Rede ist, der Widerspruch Gottes gegen die Sünde, die den Menschen/Israel seiner geschöpflichen Bestimmung entfremdet. II. NT: Wie das Gottesbild des NT insgesamt stehen auch die E. Gottes in der Kontinuität des bibl. Gottesglaubens: Liebe, Gerechtigkeit, Gnade, Güte etc. markieren auf ihn selbst zurückweisende Beziehungsaussagen Gottes zu seinem erwählten Volk bzw. seinen Geschöpfen, die im NT nicht systematisiert, wohl aber verbunden und in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit wahrgenommen werden. Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart werden im NT eher vorausgesetzt als thematisiert. II. 1. Nach bibl. Überzeugung ist Gottes Gerechtigkeit (dikaios4nh) eng mit seinem richtenden Handeln gegenüber den Menschen in der Geschichte wie am Ende der Zeit verknüpft (Ps 9,5f; 96,13; 98,9; Apg 17,31). Gott ist der gerechte Gott schlechthin (Röm 3,26; Joh 17,25; 1 Joh 1,9; Offb 16,5). Im Horizont dieses atl.-jüd. Verständnisses spricht Paulus von der Gerechtigkeit Gottes als seiner Gemeinschafts- bzw. Bundestreue gegenüber seinem erwählten Volk ( Bund). Gottes Gerechtigkeit wird so zum Ausdruck seines Heilshandelns und seiner Heilsgabe (2 Kor 5,21: Gerechtigkeit Gottes werden in ihm ; Röm 5,17; 9,30), die allein menschliche Gerechtigkeit als Glaubensgerechtigkeit zu begründen vermag (Röm 4,5 6; 5,19; Phil 3,9). Für Paulus offenbart sich die Gerechtigkeit Gottes im Ev. als Kraft Gottes zum Heil für jeden, der glaubt (Röm 1,16). Die die Sünde aller Menschen richtende und zugleich den glaubenden Menschen zuteil werdende, ihn erlösende und heilende Gerechtigkeit Gottes im stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi (Röm 3,21 26; Sühne, Kreuz) ist das Zentrum der pln. Lehre von der Rechtfertigung. Sie hat ihren Grund in der Liebe Gottes (Röm 5,8). Mt fordert auf, den Weg der Gerechtigkeit (Mt 21,32), wie ihn Jesus in seiner Sendung in Wort und Tat letztverbindlich auslegt (Mt 5 7), nicht nur zu lehren, sondern auch selbst zu gehen (Mt 3,15; 5, ; 6,33; 7,21). II. 2. Die im atl.-jüd. Kontext vertraute Rede von der Güte Gottes ( Gott ist/handelt gut/gütig ) wird im NT von seinem Heilshandeln in Jesus Christus neu qualifiziert: Jesus fordert die Anerkennung des einen und allein guten Gottes (Mk 10,17 31; vgl. Dtn 6,4f). Von der Güte (xrhstothw) Gottes auch gegenüber den Undankbaren und Bösen spricht Jesus als Begründung für sein Gebot der Feindesliebe (Lk 6,35; vgl. Mt 20,25). Die zuvorkommende, überfließende Güte Gottes sprengt alles rechnende, auf Gegenseitigkeit angelegte Denken und Verhalten (Lk 6,38). Nach Paulus will Gottes Güte zur Umkehr ( Buße) führen. Der Reichtum der Güte, der Geduld und des Großmutes Gottes bewirkt, dass er seinen legitimen Zorn zurückhält, um den Sündern Zeit zur Umkehr vor dem drohenden Zorngericht nach den Werken einzuräumen (Röm 2,4 6). Der erwiesenen und im Glauben angenommenen Güte Gottes gilt es im Glaubens- und Lebensvollzug zu entsprechen, um nicht die der Güte entgegengesetzte, ihr dennoch zugehörige Strenge Gottes erfahren zu müssen (Röm 11,22). Eph 2,7 (futurisch-eschatologisch) und Tit 2,11; 3,4 (christologisch) beziehen Gottes Gnade und Güte sehr eng aufeinander.
156 144 II. 3. Gottes Treue wird im NT meist adjektivisch formuliert ( treu [pist3w] ist Gott ; 1 Kor 1,9; 10,13; 1 Thess 5,24; 2 Kor 1,18; Hebr 10,23; 1 Joh 1,9) und betont die Zuverlässigkeit und Unwiderruflichkeit seiner gnadenvollen Zuwendung zu den Menschen. Im Unterschied zum Menschen ist Gottes Treue (p2stiw toq UeoQ) unwiderruflich (Röm 3,3; 2 Tim 2,13). Ebenfalls übereinstimmend mit dem atl.-jüd. Verständnis aktualisiert sich die Wahrheit (Bl1ueia) Gottes in seiner zuverlässigen und beständigen Treue zu seinen Verheißungen und zu seinem Volk (Röm 3,3 7; 15,8; vgl. Gal 2,5). Letztgültig gegeben und verwirklicht sieht Paulus die wirkliche und wirksame Wahrheit Gottes in dem von ihm verkündigten Ev. (2 Kor 4,2; 11,10; 13,8; Gal 5,7; vgl. Kol 1,5f; Eph 1,13). In Röm 1,18 ist mit Wahrheit Gottes nicht nur die sich in der Schöpfung erschließende Größe und Erhabenheit Gottes (Röm 1,19f), sondern auch seine sich im Ev. offenbarende Gerechtigkeit (Röm 1,16f) angesprochen. Die joh. Theol. sieht in Jesus Christus als dem inkarnierten Logos die personalisierte Wahrheit Gottes (Joh 1,17; 4,24 26; 14,6; 17,17 19; 18,37): Jesus Christus ist der gesch.-personale Ort der Offenbarung der Wahrheit Gottes. Die Offb rekurriert wiederholt auf das bibl. Zeugnis für die Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit Gottes (Offb 15,3; 16,7; 19,2; vgl. Ps 145,17; 19,10; 119,137; Offb 6,10), die unter prophetisch-apokalyptischem Vorzeichen sehr eng mit seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit verbunden wird. II. 4. Paulus führt Gottes endzeitliches Handeln in Jesus Christus, sein rettendes Eingreifen für Juden und Christen auf seine freie Barmherzigkeit bzw. sein Erbarmen (Xleow; oxktirm3w) zurück, die Gottes Auserwählten zuteil werden (Röm 9,15 18 [Ex 33,19]; 11,28 32; 15,9; vgl. Lk 1,50 [Ps 103,13.17]; 1,54 [Ps 98,3]; 1,58; vgl. Eph 2,4; Tit 3,5; Hebr 4,16; 1 Petr 1,3). Barmherzigkeit wird hier wie auch beim Bestehen im End-Gericht (2 Tim 1,18; Jak 2,13) in großer sachlicher Nähe zur Gnade verwendet. Aus der erwiesenen, unvergleichlich großen Barmherzigkeit Gottes leitet sich die Forderung an die Menschen ab, selbst auch barmherzig zu handeln (Mt 5,7; 9,13 [Hos 6,6]; 12,7; 18,21 35; 23,23; Lk 10,25 37; vgl. TestSeb 5,3). II. 5. Anders, aber nicht in Spannung zum AT, Eigenschaften Gottes spricht das NT zwar nicht unmittelbar von Gottes Reue, die seiner Barmherzigkeit vorausgeht, wohl aber von Gottes unbereubaren Gnadengaben an sein Volk Israel (Röm 11,29; vgl. Num 23,19; Jes 40,8) bzw. von seinem unbereubaren Schwur gegenüber seinem Hohepriester Jesus Christus (Hebr 7,21). Gottes Barmherzigkeit und Gnade erweisen sich für seine Auserwählten als unwiderruflich und unbereubar, sein Zorn jedoch kann um seines unverdienten Erbarmens willen umgestimmt werden. II. 6. Während der menschliche Eifer (yvlow) nach ntl. Aussagen positiv, negativ oder auch als unerleuchtet zu werten ist, ist von dem Eifer Gottes nur selten die Rede: Nach 2 Kor 11,2 eifert Paulus um seine Gemeinde mit dem Eifer Gottes, der in bibl. Tradition als Eiferheiligkeit zu verstehen ist. In Hebr 10,27 umschreibt Feuereifer Gottes Gerichtshandeln (vgl. LXX Jes 26,11). II. 7. Das Motiv der Rache (Ekd2khsiw) bzw. des Zornes Gottes ([rg1; uzm3w) wird im NT aus dem AT übernommen, in Röm 12,19 und Hebr 10,30 mit ausdrücklichem Zitat von Dtn 32,35. Vor dem Zorn(-gericht) Gottes warnen Johannes der Täufer und Jesus einhellig (Mt 3, ; Lk 21,23; Mt 22,7). Im Sturz des Satans ( Widersacher) aus dem Himmel (Lk 10,18) sieht Jesus den endzeitlichen Sieg Gottes als definitiv entschieden an (vgl. auch Offb). Für Paulus ist die Offenbarung des Zornes Gottes vom Himmel gegen jede Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit von Menschen (Röm 1,18) die Kehrseite seiner Botschaft von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,16 18), die aus dem Zorngericht Gottes befreit (1 Thess 1,10; 5,9; Röm 5,9). Gottes Zorn gegen die Sünde der Menschen wirkt in die Gegenwart hinein (Röm 3,5; 4,15; 13,4f; 1 Thess 2,16; vgl. Joh 3,36), findet sein Ziel jedoch erst am Tag des Zornes (Röm 2,5; vgl. 2,8; 9,22; 1 Thess 1,10; 5,9; Kol 3,6; Offb 11,18; 15,1; 19,15 u. a.). Grundlegend gilt für AT und NT, dass die Momente der göttlichen Vergeltung bzw. Rache im Gericht positiv darauf zielen, seinem Volk, den Bedrängten und Armen Recht und Gerechtigkeit zu verschaffen (Dtn 32,36; Ps 10,17 18; 26,1; Mi 7,9; Lk 18,1 8; Apg 7,24; 2 Thess 1,5 10 u. a.). Da das Gericht und damit auch die Rache Gott, dem endzeitlichen Richter, allein vorbehalten sind (Lk 21,22; End-Gericht), wird alles zwi-
157 Einheit / Vielheit Einheit / Vielheit 145 schenmenschliche Richten und Rächen untersagt (1 Thess 5,15; Röm 12,17 21; 14,4 13; 1 Kor 4,5; Jak 2,4 13; 5,9). Die Botschaft Jesu fordert zur kreativen Überwindung des aufrechnenden Verhaltens bis hin zur Feindesliebe auf (Mt 5,38 48; 7,1 5; Lk 6,27 42; Feind). Wenn im NT von der endgerichtlichen Rache bzw. Vergeltung Gottes die Rede ist bzw. diese von ihm erbeten wird, dann nicht im Sinne einer anthropomorph gedachten Befriedigung von göttlichen Rachegelüsten, sondern um der Wahrung und Durchsetzung der Heiligkeit und Wahrheit Gottes willen, um des von Gott und seinem Ev. geforderten Gehorsams (2 Thess 1,8) und der Heiligkeit der Christen (1 Thess 4,7; Hebr 10,26 31) willen bzw. um der Rettung und Würde der Opfer und leidenden Kreaturen willen (Offb 6,10 11; 19,2 [vgl. 2 Kön 19,7]). Dabei bleibt die Rede von Gottes Zorn und Rache unterfangen und bestimmt von seiner Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. I. W. Dietrich/C. Link, Die dunklen Seiten Gottes, Neukirchen- Vluyn / ; J. Jeremias, Die Reue Gottes, Neukirchen- Vluyn ; R. Miggelbrink, Der Zorn Gottes, Freiburg u. a. 2000; ders., Der zornige Gott, Darmstadt 2002; R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart II. M. Bachmann, Göttliche Allmacht und theologische Vorsicht, Stuttgart 2002; C. Bussmann/W. Radl (Hg.), Der Treue Gottes trauen, Freiburg 1991; K. Kertelge, Rechtfertigung bei Paulus, Münster ; C. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, Tübingen 1999; V. A. Lehnert, Wenn der liebe Gott böse wird: Zeitschrift für Neues Testament 9 (2002) 15 25; R. Miggelbrink, Der Zorn Gottes, Freiburg u. a. 2000; ders., Der zornige Gott, Darmstadt 2002; U. Schnelle, Gerechtigkeit in den Psalmen Salomos und bei Paulus, in: H. Lichtenberger/G. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, Gütersloh 2002, ; R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart 2000; P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Einheit / Vielheit (E./V.) ( Dachartikel: Schrift/Schriftverständnis) I. Die Begriffe E. und V. geben kein Problem der hist.-kritischen Exegese an. Sie hat es vom Selbstverständnis her mit der lit. Gestalt der bibl. Texte, ihrer Vorgeschichte und ihrer Einbindung in den gesch. Kontext (Religions- und Zeitgeschichte, soziales Umfeld) zu tun. Aufgabe der Exegese ist auch nach kath. Verständnis, auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprachund Erzählformen zu achten und den Sinn eines Textes den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend, d. h. hist. auszulegen (II. Vatikanum DV 12). Dies setzt V. voraus. II. In entstehungsgesch., autororientierter Perspektive sind AT und NT nicht als ein Buch, sondern als Bibliothek von Buchrollen mit einer Vielzahl von theol. Konzeptionen aus je unterschiedlichen sprachlichen und lebensgesch. Situationen zu werten. Wandernde Gruppen (Mose- Gruppe, [Halb-]Nomaden, Boten der Logienquelle-Tradition, Jesus und Paulus), sesshafte Glaubende mit oder ohne Tempel (Zionstheol., Diaspora, Zion), sozial und rel. homogene Gruppen (Großfamilien, joh. Schule), aber auch sozial und rel. gemischte Gemeinden (vgl. die Adressaten der Propheten im 8. Jh. v. Chr. sowie 1 Kor 11,17 34 und Lk sowie Jak) belegen diese V. Außerdem gibt es nicht nur eine V. an lit. Gattungen (Geschichtserzählungen, prophetische, weisheitliche und lyrische Texte, Logien der Jesuserzählungen, Briefe u. a.), sondern auch inhaltlicher Art (Schöpfungs- und Geschichtstheol., Gesetzes- und Weisheitsworte, prophetische und apokalyptische Deutungen, Paränesen, Lehren wie Mt 5 7 oder Predigten/Homilien wie Hebr), nicht zuletzt auch unterschiedliche Gottesbilder im AT/NT und Christologien wie auch Ekklesiologien usw. im NT. In dieser Perspektive gibt es keine Theol. des AT oder NT, mithin auch keine bibl. Theol., nicht einmal eine Theol. jedenfalls nicht im jüd. Verständnis. Ist doch der Begriff Theol. griech. Ursprungs mit dem Anspruch, Kraft des Logos das Sein Gottes systematisch erschließen zu können; er ist kühn wie die Suche nach der Mitte der Schrift. Dagegen gilt: Die heiligen Schriften Israels und der Kirche bieten weder insgesamt noch als Einzeltext ein in sich geschlossenes theol. System, sondern vielfältige Versuche, die mit Jhwh, dem Gott Israels und Jesu ( Gottesvorstellungen), und seiner Wirklichkeit gemachten Erfahrungen in hebr., aram. und griech. Sprache zu deuten. Es geht um die Behauptung von Wahrnehmungen der Wahrheit in Schöpfung
158 Einsicht 146 und Geschichte, die sich auch für Zuhörer und Leser nach deren Vertextung als tragfähig erwiesen. So zahlreich die Autoren bibl. Texte sind, so bunt ist die V. ihrer Glaubenserfahrungen im Streit um die Gotteswahrheit (E. Zenger), nicht nur unterschiedlich, sondern auch widersprüchlich (zu anderen Erfahrungen und Texten). Die unaufhebbare V. und Verschiedenheit dieser Erfahrungen (vgl. bes. die Psalmen) ist ihr Reichtum für neue Leser. Das Problem der E. angesichts dieser unbestreitbaren V. stellt sich nicht erst beim Kanon, dem normativen Abschluss der christl. Sammlung heiliger Schriften (die es im strengen jüd. Sinn nicht gibt), sondern bereits bei den allerersten Kompositionen verschiedener Glaubensaussagen im mündlichen und schriftlichen Prozess. Dass es im AT und NT nur eine dissonante E. gibt, belegt bereits die Tora als unreduzierbares Fundament jeden jüd. Glaubens, wenn gilt, dass der Sinai-Bund ( Bund) von der P nicht nur kritisiert, sondern als unheilbar falsch (W. Groß) abgelehnt wird (eine analoge Wende ist für den Apostel Paulus in Rezeption der Gnadentheol. der P nach seiner Berufung zu konstatieren). Dies zeigt, dass der Weg vom Leben zu bibl. Texten und deren Sammlung geht und die Texte wiederum eine Funktion für gelingendes Leben haben. Offenbarung ist bibl. nicht ein Akt der sprachlich fixierten Vergangenheit (vgl. Dtn 5,3.33; Röm 15,4). Bezüglich dieser anthropologischen Funktion kann man von E. sprechen, da gemäß jüd. bzw. christl. Glauben sich in ihnen der eine Gott geoffenbart hat ( Gotteswort; Offenbarung). In glaubensgemäßer Hinsicht ist E. demnach primär ein theol. Begriff trotz aller lit. Vielheit, Disparatheit und partiellen Widersprüchlichkeit in der E. der Schrift. Wie es nach DV 12 Aufgabe des Bibelauslegers ist, die V. der theol. Konzepte zu erarbeiten, so hat er mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten. Die Akzeptanz der vielfältigen Antworten auf das Gotteswort durch die Glaubensgemeinschaft ist Voraussetzung für die seit Jahren intensiv betriebene kanonische (Endtext-)Exegese in der Perspektive gegenwärtiger Schriftauslegung. Dabei gilt: Es ist gerade eine Eigenart der Bibel, kein strenges System zu bilden, sondern im Gegenteil in der Dynamik von Spannungen zu stehen. (Päpstliche Bibelkommission III. A.2) Dies betrifft auch so zentrale theol. Themen wie Gottesbild, Bund, Christologie ( Jesus Christus) und Kirche. Die vielfältigen Deutungen des einen Gotteswortes (vgl. Ps 62,12: Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört ; vgl. Jer 23,29) bleibt hist. und hermeneutisch die Vor-Gabe, die die Menschen in verschiedenen Aktualisierungen zu verwirklichen haben. Trotz aller V. der Biographien der Autoren und der Glaubensgemeinschaften kann E. in Gebet und Liturgie vom Volk Gottes bzw. der Kirche als Gnade (wegen der Berufung durch Gott; vgl. die atl. Bundesformel) geglaubt und gefeiert werden, was die Akzeptanz anderer, auch in Texten verdichteter Glaubenserfahrungen voraussetzt. Die Sammlung heiliger, normativer Schriften in Judentum und Christentum durch deren Rezeption in verschiedenen Gemeinden ist ein ökum. Prozess, der sich hier wie dort bislang nicht wiederholt hat. Die Sammlungen sind ein Beleg für eine E. in versöhnter V. und Verschiedenheit (vgl. Gal 2,1 10; 3,28) bzw. einer E. in der Wahrheit wirklich grundlegender Glaubensinhalte. Die Vielfalt theol. Überzeugungen im AT und NT bieten nach der bewussten Entscheidung und Überzeugung der christl. Kirchen dafür einen kanonischen, d. h. unaufhebbaren Maßstab der V., den Glauben an Gottes Handeln zu bezeugen. Nur so bleibt Glaube menschlich. C. Dohmen/T. Söding (Hg.), Eine Bibel zwei Testamente, Paderborn 1995; W. Groß, Zukunft für Israel, Stuttgart 1998; Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1993; L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift?, Freiburg 2001, 48 87; E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart Hubert Frankemölle Einsicht (E.) ( Dachartikel: Weisheit/Gesetz) Einsicht I. AT: 1. Unter E. versteht man das Erkennen bzw. Verstehen eines Sachverhalts aus eigener Anschauung und Vertrautheit mit ihm. Dabei können näherhin der Vorgang oder das Resultat des
159 End-Gericht End-Gericht 147 Erkennens oder die dafür nötige Fähigkeit im Blick sein. Insbes. kann auch der verstehende Nachvollzug einer bereits von anderen gewonnenen und mitgeteilten Erkenntnis als E. bezeichnet werden. Im AT werden v. a. die Ausdrücke bina ( E., Verständnis ) und t e buna ( E., Klugheit, Geschick ) im Deutschen häufig mit E. wiedergegeben (vgl. bin verstehen, einsehen, achten auf, bedenken ), gelegentlich auch da}at ( Wissen, Können, Erkenntnis, E., vgl. jd} [er]kennen, verstehen, wissen, E. haben ), læqag ( Lehre, Lehrgabe, E. ) oder sækæl ( E., Verstand, Erfolg, vgl. skl Hifil verstehen, einsehen, E. haben, einsichtig/klug machen, Erfolg/Gelingen haben ). Terminologisch wird im atl. Hebr. zwischen E., Erkenntnis, Weisheit und Klugheit nicht scharf unterschieden. E. steht häufig als Parallelausdruck neben Weisheit oder Erkenntnis (z. B. Spr 1,7; 2,1ff; 9,10). I. 2. E. wird einerseits als lehrbar und lernbar betrachtet (Spr 4,1; 19,25), andererseits aber auch als eine Gabe Gottes (1 Kön 3,9; Dan 2,21; Ijob 38,36), die er Menschen oder Tieren aber auch vorenthalten kann (Ijob 39,17; Jes 29,14). Gott selbst verfügt über E. (Jes 40,28; Jer 10,12; Ijob 12,13). Menschliche E. stößt Gott gegenüber an ihre Grenze (Spr 21,30). II. NT: 1. Im NT kann bes. das Nomen s4nesiw ( Verständnis, E. ) häufig mit E. wiedergegeben werden (vgl. szn2hmi wahrnehmen, einsehen, verstehen, sznet3w einsichtig, verständig, klug; passiv: verständlich, Bs4netow uneinsichtig, unverständig, unverständlich, Xnnoia Überlegung, E., Gesinnung, Begriff, fr3nimow verständig, einsichtsvoll, klug ). II. 2. Unter den Synopt. betont v. a. Mk die mangelnde E. der Jünger gegenüber dem Reden und Handeln Jesu (Mk 6,52; 7,18; 8,17.21), dessen wahre Bedeutung erst am Ende seines Lebens verständlich wird (Mk 15,39). Das Nichtverstehen der Gleichnisse Jesu zeigt nach Mk 4,10 12 den Mangel an E. auf Seiten der Hörer und verstärkt diesen noch. Dabei greifen Mk 8,18 auf Jer 5,21 und Mk 4,12 auf Jes 6,9f zurück. Paulus betrachtet im Röm Uneinsichtigkeit als Laster (Röm 1,31) und Folge der Sünde (Röm 1,21; 3,11; vgl. Ps 14), E. dagegen als Gabe Gottes in der Verkündigung des Ev. (vgl. Röm 15,21 mit Jes 52,15, Röm 10,19 mit Dtn 32,21). 1 Kor 1,19 beschreibt demgegenüber die christl. Verkündigung nicht als Beseitigung von Uneinsichtigkeit durch die im Ev. vermittelte E., sondern als Destruktion (vermeintlicher) Weisheit und E. durch die (vermeintliche) Torheit des Wortes vom Kreuz. Führt nach Paulus die Verkündigung des Ev. zu (neuer) E., muss in den deuteropln. Briefen Gott darum gebeten werden, den Gläubigen E. in die überlieferte Lehre zu schenken (Kol 1,9; 2,2; 2 Tim 2,7). Nach Eph 3,4 demonstriert der Epheserbrief seinen Lesern die Paulus von Gott gewährte E. in das Geheimnis Christi. Hier zeigt sich der Übergang von einer E. erzeugenden Verkündigung zu einer rel. Tradition, deren Interpretation bes. E. erfordert. I. G. von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn II. M. Küchler, Frühjüdische Weisheitstraditionen, Fribourg u. a. 1979; H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich Thomas Krüger End-Gericht (E.) ( Dachartikel: Eschatologie) Vorbemerkung: Das E. ist der zukünftige Zeitpunkt, an dem Gott (oder eine göttlich legitimierte Person) in die Geschichte der Menschheit eingreifen und die Bösen und Ungerechten verdammen, die Treuen und Gerechten aber belohnen wird ( Lohn). I. AT: 1. Eine feste Terminologie für das E. findet sich im AT nicht, hingegen treten verschiedene Formen und Kombinationen von Gericht und richten (din, špt,jkg Hifil) auf. Oft auch genügt der Hinweis auf jenen Tag, um den Vorstellungshorizont des Gerichts Gottes als Strafe für Fehlverhalten wachzurufen (z. B. Jes 4,1 6; 7,17 25; 11,10f; Ez 30,9 13; Joël 4,18; Am 9,11; Sach 12,3). I. 2. Es sind verschiedene Ebenen und Adressaten des Gerichts zu unterscheiden, das nicht immer ein End-Gericht ist, vielmehr können auch gesch. Ereignisse als Gericht interpretiert werden. So formulierte die klassische Prophetie ( Prophet) konkrete Gerichtsorakel gegen Israel/Juda (z. B. Hos 5,8 15; 6,5; Am 7,4; 8,4 14; Jes 1,2 9; 5,1 30; Mi 2,1 4; 3,9 12; Jer 2,33 35; 5,1 9; Ez 7,1 28; 24,1 14), die sich in den Untergangser-
160 148 End-Gericht eignissen von 722 und 597/587 v. Chr. bewahrheiteten. Aus diesem Grund wurden die Gerichtsworte tradiert und durch den Rezeptionsprozess als mahnende Botschaft für die neuen Adressatenkreise in späterer (v. a. nachexil.) Zeit aktualisiert. Zugleich entwickelte sich die Tendenz, den Gerichtszeitpunkt in die (unbestimmte) Endzeit ( an jenem Tag ) zu verlagern (End- Gericht). Neben dem Volk als Ziel des Gottesgerichts formuliert das AT zahlreiche Gerichtsworte gegen die fremden Völker (Fremdvölkersprüche, z. B. Jes 13 23; Jer 25,15 38; 46 51; Zef 2,4 15). Joël 4,1 21 spricht vom Gericht über alle Völker, die sich feindlich gegen Israel verhalten haben (vgl. auch Sach 14,1 21; symbolisiert in der Gestalt Gogs als Gegner Gottes in Ez 38f). Jes 66,16 und Jer 25,31 sehen Gottes Gericht gegen alle Sterblichen (alle Menschen) voraus. Neben der Ausweitung des Horizonts vom Volk Israel auf alle Menschen wird aber auch das individuelle Gericht über die Verfehlungen Einzelner in den Blick genommen. So betonen z. B. Ps 58,12; Mal 3,5, dass Jhwh selbst kommen und die Gerechtigkeit wieder herstellen wird. Hier geht es nicht um ein E. über die ganze Welt, sondern darum, die durch die schwierigen Verhältnisse der nachexil. Zeit aus den Fugen geratene soziale Ordnung durch eine machtvolle Instanz (die nicht innerweltlich sein kann) wieder zu gewährleisten. Koh 12,14 verweist aber auch auf die Vorstellung eines E. über den Einzelnen, das gut und böse zum Vorschein bringen wird. Neben Gott selbst kann mitunter auch ein Prophet Gericht halten (z. B. Ez 20,4; 22,2) oder ein davidischer Messias wird den Hilflosen Recht verschaffen und die Schuldigen mit dem Wort seines Mundes töten (Jes 11,1 4). Weitere Beispiele für das individuelle Gericht über die Verfehlungen Einzelner sind Jer 17,5 11; 31,29f; Ez 18,1 32; 33, Exponierte Persönlichkeiten oder bestimmte Gruppen fassen Jer 22,13 19; 23,1f.9 40; 28,15f; Am 4,1 3; 6,4 7; 7,17; Hos 4,4 6; 5,1 (siehe auch Jes 1,28; 3,10f ; 10,1 4) ins Auge. Dabei muss beachtet werden, dass eine strenge Trennung von individuellem Gericht und dem Gericht über Israel bzw. die Völker eine moderne Unterscheidung von individuell und kollektiv an die Texte heranträgt, die diesen nicht immer gerecht wird ( Mentalität und Kultur). Sünder und Gerechte stehen einander immer als Gruppen gegenüber. Die Vorstellung eines individuellen E. unmittelbar nach dem Tod begegnet erst am Ende der Spätantike. In der Weisheitslit. betont der Tun-Ergehen-Zusammenhang, dass das Tun des Menschen (das Tun des Guten oder Bösen) entsprechende innerweltliche Konsequenzen (Glück oder Untergang) nach sich zieht ( Weisheit). In der Realität, die anerkennen muss, dass es guten Menschen schlecht und schlechten Menschen gut geht, zerbricht dieser in der Erziehung beheimatete Gedanke des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, sodass die Vorstellung eines Gerichts als einer ausgleichenden Gerechtigkeit über den Tod hinaus,in einem zukünftigen Leben, aufkommt. So betonen spätere Traditionen das zukünftige Gericht über Einzelne, etwa, dass die Gerechten belohnt und ewig bei Gott leben werden, während die Bösen bestraft und ohne jede Hoffnung zugrunde gehen (z. B. Weish 3,1 5,23). Die Verbindung von E. und Auferstehung der Toten formuliert auch Dan 12,1 3: Die einen werden zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach erwachen. I. 3. Eine bes. Chiffre oder Ausdrucksform für das E. ist die Rede vom Tag des Herrn/Jhwhs (jom Jhwh; Varianten: der Tag des Zornes [Jhwhs] ; jener Tag ; der Tag, wenn ). Ursprünglich ist mit dem Tag Jhwhs die Erwartung eines hilfreichen militärischen Eingreifens Gottes für Israel verbunden (z. B. Ri 4,14; 1 Kön 22,6; Ez 13,5), das mitunter kosmische Dimensionen annehmen kann (Jes 13,6 9; Ez 30,3). Doch mit Am 5,16 20 wird dieses Konzept auf den Kopf gestellt: Der Tag Jhwhs bringt nicht das erwartete Heil, sondern Finsternis und Gericht. Dass der Tag in Am 5,20 Finsternis genannt wird, kehrt die Schöpfungsvorstellung von Gen 1,5 um und signalisiert den Ernst des Gerichts ( Licht). Der Tag Jhwhs bringt das furchtbare Gericht Gottes, vgl. Jes 2,12; Joël 1,15; 2,1; 3,4; 4,15; Obd 15; Zef 1,7 18; Mal 3,23. Bes. problematisch war in der nachexil. Zeit für diejenigen, die die Tora treu befolgten, die Erfahrung, dass sich ihr Tun nicht auszahlt, dass es den Bösen gut geht und man keinen Unterschied mehr zwischen Gerechten und
161 End-Gericht 149 Frevlern sieht. Der weisheitliche Tun-Ergehen- Zusammenhang ist in der Realität zerbrochen ( Ethik). Hier kündigt Mal 3,13 21 einen Tag an, an dem Gott intervenieren und die rechte Ordnung wiederherstellen wird. Das ist aus innerweltlicher Sicht nicht anders vorstellbar als durch die glühende Vernichtung (der Tag brennt wie ein Ofen) aller Frevler. I. 4. Die frühjüd. Lit. lässt als Grundmuster die Erwartung eines Gerichts erkennen, das zur Verdammnis der einen und zum Heil der anderen führt. Der Ort bzw. Zeitpunkt dieses Gerichts ist entweder an einem definitiven Wendepunkt der Geschichte (E. im engeren Sinne) oder nach dem Tod (Jenseitseschatologie). Die älteste Konzeption eines E. im Judentum erwartet ein endzeitliches Strafgericht an den Feinden Israels; einschlägig ist hier die Wendung vom Tag (Jhwhs, des Gerichts, des Zorns etc.). Doch schon in Jes 65f und bei Mal findet sich auch eine gerichtliche Scheidung innerhalb Israels zwischen Gerechten und Sündern. Die endgültige Strafe der Sünder wird nicht deutlich ausgefaltet (vgl. Dan 12,2). Im Blick auf die Jenseitseschatologie ist zunächst festzustellen, dass ein bes. Gerichtsakt eigentlich fehlt: Das ganze Leben über haben die Menschen Gelegenheit, sich zu bewähren, im Tod aber steht fest, auf welcher Seite jemand steht damit ist ein expliziter Gerichtsprozess oder ein Urteil nicht nötig. Nach dem Tod wird die Vergeltung dann vollstreckt. Erst an der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. scheint sich der Gedanke eines bes. Gerichts (TestAbr; bber 28b) zu etablieren. Eine Verbindung von E. und Jenseitseschatologie konzipiert z. B. 4Esra 7: Die Zwischenzeit zwischen Tod und E. verbringen die Seelen in Kammern (die Sünder in siebenfältiger Pein, die Gerechten in siebenfältiger Seligkeit, vgl. 7,80 99). Beim E. erhalten sie dann ihre endgültigen Aufenthaltsorte: Gehenna ( Unterwelt) oder Paradies. Der Richter beim E. ist allermeist Gott, in manchen Fällen vertreten durch Engel, z. B. den Erzengel Michael (Dan 12,1) oder den Menschensohn (4Esr 13). Das Vollstrecken des E. wird mitunter im Passiv formuliert (Dan 7), um eine Festlegung der handelnden Person zu vermeiden. Das Kommen Gottes zum Gericht ( Parusie) wird als gewaltige Gotteserscheinung (Theophanie) geschildert. Der Maßstab beim E. ist grundsätzlich die Tora (vgl. Dtn 27 30). Das E. Gottes ist eine theol. Notwendigkeit, da nur so die Geschichtsmächtigkeit und die Gerechtigkeit Gottes endgültig erwiesen werden: In ausgleichender Gerechtigkeit wird die gestörte Ordnung durch Strafe für die Sünder und Heil für die Gerechten wieder hergestellt. Insofern ist das E. für die Gerechten ein Gegenstand der Hoffnung. II. NT: 1. Die hauptsächlichen Termini für das E. sind kr2ma ( Urteil, Strafgericht ), kr2nv ( richten ) und kr2siw ( Gericht ). II. 2. Die Verkündigung des E. scheint zum Grundbestand missionarischer Verkündigung zu gehören (vgl. Apg 24,25; 1 Thess 1,9f; Hebr 6,2), wobei es weniger um die Lehre über die Endzeit als vielmehr um Ermahnung zu einem gerechten Leben geht. Die Evv. überliefern die Predigt Johannes des Täufers vom kommenden, unausweichlichen Gericht (Mt 3,7 12par.) sowie die Taufe im Jordan, die den Umkehrwillen des Einzelnen dokumentiert. Johannes erwartete vermutlich Gott selbst als kommenden Feuerrichter. Die Verkündigung Jesu unterscheidet sich deutlich von der Johannespredigt. Doch auch bei Jesus spielt das E. eine wichtige Rolle, da Jesus ein Handeln erwartet, das der von ihm als nahe verkündeten Königsherrschaft Gottes ( Herrschaft) entspricht. Für den Fall der Ablehnung seiner Botschaft droht er das E. Gottes an (vgl. Lk 10,13 16par.; 11,31f.par.; 13,1 5). An der Einstellung der Menschen zur Person Jesu entscheidet sich ihr Ergehen im Gericht (vgl. Mk 12,1 12par.; Lk 11,49 51par.; 13,34f.par.), insbes. in der Situation des notwendigen Bekenntnisses zu Jesus (vgl. Lk 12,8 12par.). Die Logienquelle (Q), die die meisten dieser Logien überliefert, verbindet das E. mit dem Kommen des Menschensohnes (Lk 17,22 37par.; hier begegnet auch die Wendung vom Tag des Menschensohnes!): Der Menschensohn wird unübersehbar wie ein Blitz am Himmel sein, das E. ist der Sintflut und der Vernichtung von Sodom vergleichbar. Die Wirkung dieser Sätze richtet sich bestätigend und ermahnend an die eigene Gruppe zur Stärkung ihrer Identität, zugleich aber warnend nach außen an Israel. Auch hier darf die Unterscheidung zwischen individuellem und kollektivem Gericht (Israel/Völker) nicht überbetont werden,
162 150 denn der Einzelne wird insofern gerichtet, als er Teil einer Gruppe ist, eben der, die sich zu Jesus bekennt oder ihn ablehnt. Die Gerichtspredigt Jesu richtet sich an den Einzelnen wie an das Volk Israel als Ganzes, dabei bleibt es aber dasselbe Geschehen und so ist vom Einzelnen wie vom Volk die Umkehr ( Buße) und das bereitwillige Tun seiner (Jesu) Worte gefordert (vgl. z. B. Lk 6,46 49). Wenn Jesus in provozierender Weise Israel und die Heiden gegenüberstellt (z. B. Lk 13,22 30), so zeigt dies, dass er sich werbend an die wendet, für die das Reich bestimmt war (Mt 8,12), also Israel zur Umkehr führen will. Gericht und Heil sind zwei Seiten der gleichen Medaille, und so kann Jesus nicht das Reich Gottes als Heil für alle verkünden, ohne vom Gericht zu sprechen, das die erwartet, die sich der Einladung Gottes verweigern (vgl. Lk 14,15 24par.). Das E. fasst Jesus in verschiedene Bilder: forensisches Gericht (z. B. Mt 12,41f.par.; 7,1 5par.; 19,28par.); Rechenschaftsablegung (aus der Geschäftswelt, z. B. Mt 25,14 30par.; vgl. auch die Schuldhaft Mt 5,25f.par.) und die Ernte (Mk 4,29; Mt 9,37f.par.). Der Herr der Ernte, also der endzeitliche Richter, ist Gott selbst ( Gottesvorstellungen). Gott ist der Gastgeber des endzeitlichen Mahles und bestimmt, wer ausgeschlossen wird. Das entscheidende Kriterium im E. ist jedoch die Beziehung zu ihm selbst und seiner Botschaft, die die Tora zur Geltung bringen will (Mt 5,17 20), denn Jesus erhebt für sich den Anspruch: Hier ist mehr als Jona, mehr als Salomo (Mt 12,41f.par.). Die Dialektik von Heil und Gericht bzw. Verdammnis hebt Jesus keineswegs auf, aber im Unterschied zum Täufer, der das Gericht betont, akzentuiert Jesus die Heilsseite: Wer dieses Heil verwirft, verfällt dem Gericht (vgl. z. B. Mt 11,21 24par.). Dieses Gericht hat für Jesus mit seinem Auftreten bereits begonnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen (Lk 10,18; Widersacher), und mit seinen Dämonenaustreibungen ( Dämon) ist das Reich Gottes bereits gekommen (Lk 11,20par.). Auch diese zeitliche Struktur betont den Anspruch Jesu, dass sich an ihm und seiner Botschaft das Ergehen im E. entscheidet. Mt betont bes., dass das gegenwärtige Leben nach dem Ideal der Gerechtigkeit (z. B. Mt 5,20) entscheidend ist für die Beurteilung im E. (vgl. Mt End-Gericht 12,36f; 23,23; 25,31 46). Im Mk wird die Zeit vor dem E. als Periode der Drangsal und des geforderten Bekenntnisses bis hin zum Martyrium dargestellt (vgl. v. a. Mk 13). Dies dient der Mahnung zur Wachsamkeit und zum Verzicht, einen genauen Zeitpunkt für das E. berechnen zu wollen. Selbiges gilt auch für das Lk. Lk 21,20 24 stellt das Strafgericht über Jerusalem (Anspielung an die Tempelzerstörung 70 n. Chr.?) als Vorläufer des E. dar, das mit kosmischen Schreckenszeichen und dem Kommen des Menschensohnes (nach Dan 7,13) einhergeht. Hinzu kommt bei Lk die Erwartung eines individuellen Gerichts nach dem leiblichen Tod (Lk 16,19 31; 23,39 43). Im Joh begegnet in seiner realisierten Eschatologie eine eigenständige Konzeption: Hier ist das E. in die konkrete Annahme oder Ablehnung der Botschaft von Jesus Christus verwoben. Die vom Menschen zu verantwortende Verweigerung gegenüber Jesus bewirkt schon das Gericht (Joh 3,18; 12,48), während die gläubige Annahme bereits aus dem Tod rettet (Joh 6,47; 8,51; 11,25f). Das Gericht ist im Auftreten Jesu gegenwärtig (Joh 12,31f). Dieser völlige Verzicht auf ein zukünftiges Gericht wird durch Joh 5,27 30 etwas relativiert. II. 3. Bei Paulus hat das E. einen hohen Stellenwert (vgl. z. B. Röm 2,1 16; 14,10 12; 1 Kor 3,12 15; 4,4f; 2 Kor 5,10; Gal 6,7 10; 1 Thess 1,10), vor allem im Blick auf die Rechtfertigung des Menschen vor Gott (coram Deo). Paulus verwendet eine traditionelle Begrifflichkeit, z. B. Tag des Herrn als Tag des Gerichts (1 Kor 3,13; 5,5; 2 Kor 1,14; 1 Thess 5,2); Richterstuhl Gottes (Röm 14,10) bzw. Christi (2 Kor 5,10), Zorn Gottes (Röm 2,5; 1 Thess 1,10). Der eschatologische Tag Jhwhs wird bei Paulus zum Tag des Herrn, wobei die griech. Wiedergabe des hebr. Jhwh durch k4riow es ermöglicht, den Herrn mit Jesus Christus zu identifizieren (1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14). Die Parusie Christi tritt an die Stelle des Kommens Gottes. Nur in Phil 1,6.10; 2,16 ist vom Tag Christi die Rede: Paulus hofft, dass die Angesprochenen treu zu dem halten, was er verkündet hat, damit sie im E. am Tag Christi bestehen bleiben (vgl. auch 1 Kor 1,8; 5,5; 2 Kor 1,14). Für die Rechtfertigungslehre besagt das E., dass der Mensch zwar allein durch den Glauben durch die Gnade Gottes für gerecht
163 Engel Engel 151 erklärt wird, dass aber dies ein neues Leben im Geiste Gottes bewirkt, das zu entsprechenden Werken befähigt (Röm 8,1 6; Gal 5,18 24). An dieser konkreten Praxis zeigt sich aber, ob sich der Christ in der gnadenhaft geschenkten Erlösung bewährt. Der Verweis auf das E. ist damit paränetische Ermahnung zur Bewährung (Röm 14,1 12; 1 Kor 6,1 3; 9,24 27). Das atl. Gericht über die Völker tritt bei Paulus zugunsten seiner Grundsatzbetrachtungen des Menschen vor Gott (coram Deo) in den Hintergrund. Die nationalethnischen Grenzen sind für Paulus überwunden (Röm 1,14; 1 Kor 1,24; 12,13; Gal 3,28). In Röm 1,18 32 z. B. dient der Blick auf den Götzendienst der Heiden als Erweis der generellen Schuldverfallenheit aller Menschen ( Götze). II. 4. Die übrigen Schriften des NT zeigen in die gleiche Richtung: Der Verweis auf das E. dient der Ermahnung zur Treue gegenüber Gott und zur Barmherzigkeit untereinander (vgl. z. B. Hebr 10,26 31; 12,26 29; 13,4; Jak 2,12f; 1 Petr 1,17; 4,5f). Im E. wird Christus als Fürsprecher auftreten (Hebr 7,25); Gott als Richter schafft Recht (Hebr 12,23; Jak 4,12; 5,8f). In zahlreichen Bildern malt die Offenbarung des Johannes das E. aus ( Apokalyptik): Dabei steht zwar die endzeitliche Vernichtung der Widersacher Gottes im Vordergrund (z. B. Offb 20,11 15; 21,8; 22,15), doch auch die Christen selbst stehen unter dem Gericht und werden nach ihren Taten geprüft (z. B. Offb 2,23; 22,12). Den Getreuen bringt das E. das ewige Leben (z. B. Offb 3,5.12; 21,1 8; 22,1 5). Die atl. Rede vom Tag des Herrn begegnet an mehreren Stellen auch im NT. Ein gemeinsames Motiv ist das Plötzliche und Unerwartete, ausgedrückt z. B. im Bildwort vom Dieb in der Nacht (1 Thess 5,2; Mt 24,42 44par.; 2 Petr 3,10; Offb 3,3; 16,15; zum atl. Hintergrund vgl. Ijob 24, ; Jer 49,9; Hos 6,11 7,2; Obd 5). Gegen die enthusiastische Auffassung, der Tag des Herrn sei schon da, muss sich 2 Thess 2,2 wehren und die Zukünftigkeit des E. herausstellen. Die Wendung jener Tag als Gerichtstag gebraucht Paulus u. a. in Röm 2,16; 1 Kor 3,13. Der Gerichtstag kann auch als Tag des Zornes (Röm 2,5) bezeichnet werden. III. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das bibl. E. nicht auf Rache zielt, sondern auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Diese Wiederherstellung bleibt aber Gott überlassen, sodass die bibl. Konzeption sich implizit gegen jegliche menschliche Selbstjustiz stellt und allen rein menschlich-innerweltlichen Versuchen, mit Gewalt eine nach Ansicht bestimmter Ideologien angeblich gerechtere Weltordnung durchzusetzen, eine Absage erteilt. Die bibl. begründete Hoffnung von Juden und Christen richtet sich darauf, dass Gott am Ende die Gerechtigkeit garantiert. Zugleich aber mahnt die Rede vom E. dazu, sich ständig zu bewähren und nicht in einen naiven Heilsoptimismus zu verfallen. Sowohl in der jüd. Bibel wie im AT und NT (und damit für Juden wie Christen) steht denen, die nach Gottes Weisung leben und sich um Gerechtigkeit bemühen, Gott als gnädiger und barmherziger Richter (vgl. z. B. Ex 34,6f; Röm 8,31 39) in Aussicht. I. Y. Hoffman, The Day of the Lord as a Concept and a Term in the Prophetic Literature: ZAW 93 (1981) 37 50; R. Rendtorff, Der Tag Jhwhs im Zwölfprophetenbuch, in: E. Zenger (Hg.), Wort Jhwhs, das geschah (Hos 1,1), Freiburg u. a. 2002, II. M.-L. Gubler, Die Auferstehung der Toten und das Weltgericht: Diak. 27 (1996) ; M. Konradt, Gericht und Gemeinde, Berlin u. a. 2003; M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu, Münster Thomas Hieke Engel (E.) ( Dachartikel: Weltbild/Kosmologie) I. AT: 1. Ein eigenes Wort für E. (aus dem griech. Wggelow Bote ) kennt das AT nicht. Hebr. ist vom Boten (mal{ak) oder Boten Gottes die Rede, der explizit oder kontextbedingt als übernatürliches Wesen ausgewiesen ist. E. gelten atl. zumeist als Helfer der Menschen (Gen 16,7; 21,17; Ex 14,19; 1 Kön 19,5.7 u. a.) und sind als solche Antipoden zu den Dämonen. Doch sind im AT auch verderblich wirkende Sendboten Jhwhs (Ex 12,23; Num 22,22 35; 2 Sam 24,15f; 2 Kön 19,35; Jes 37,36) bezeugt, die den Dämonen nahe stehen. E. treten einzeln (Ri 13,3 23) oder in Gruppen (Gen 28,12; 32,2; Ps 103,20) auf, wobei sie in Analogie zu königlicher Hofhaltung Jhwh in einem Thronrat umgeben können. Die Heiligen in Dtn 33,2f oder die Gottessöhne in Gen 6,1 4; Ijob 1,6; 2,1 werden auch als E. aufge-
164 152 fasst. Erst in spät-atl./frühjüd. Zeit treten einzelne E. mit Namen auf, die im wesentlichen ihren Wirkungsbereich angeben: Rafael Gott hat geheilt (Tob 3,16f; 12,15 u. a.), Michael Wer ist wie Gott? (Dan 10,13.21; 12,1) und Gabriel Kämpfer Gottes (Dan 8,16; 9,21). I. 2. Der Ursprung der E.-Vorstellungen ist religionsgesch. umstritten. Vielfach wurde zoroastrischer Einfluss oder die Depotenzierung von Gottheiten, die im Zuge der Durchsetzung des Jhwh-Monotheismus ihre Position verloren hätten, angenommen. Vorderorientalisch und im klassischen Griechenland sind Sendboten der Götter (Hermes, Nuska, Papsukkal), die subordiniert göttlichen Status hatten, gut bezeugt. E. sind im AT Zwischenwesen, die Jhwh unter- und den Menschen übergeordnet sind, jedoch keine kultische Verehrung genießen. Eine syst. E.-Lehre ist dem AT fremd. Die meisten Aufgaben, die sie im AT übernehmen, entsprechen denen menschlicher Boten: Geleitschutz (Gen 24,40; Ex 14,19; 23,20 23), Ankündigungen (Ri 13,3 23; Mal 3,1) oder Warnungen (Num 22) und Deutungen der überbrachten Botschaft (Sach 1,9.14; 2,7f; 4,1 6; 5,5 11; 6,4f; Dan 7,16). Kämpferische und bewaffnete E. in Tradition von Jes 37,36; 2 Kön 19,35 kennt 2 Makk 2,21; 3,24; 10, Analog zum Verhältnis menschlicher Boten zu ihrem ebensolchen Auftraggeber besteht zwischen einem Gottesboten und Gott keine Wesens-, sondern eine Handlungseinheit. Dies bedeutet, dass nach Num 22,22 35 auch Jhwh zum Widersacher/Satan eines Menschen werden kann. Insbes. in den nachexil. Büchern Sach, Ijob, Dan und 2 Makk finden sich zunehmend ausgeprägte E.-Vorstellungen, die vor allem in außerkanonischen Schriften und in Qumran belegt sind. Mit dem wachsenden Interesse an E. seit dem 3. Jh. v. Chr. wuchs ihre Anzahl und die Verteilung ihrer Aufgaben, sodass eine Hierarchisierung und Systematisierung nötig wurde. Es entstanden vielleicht in Anlehnung an die E., die das dauernde Privileg des göttlichen Anblicks haben (Tob 12,15), die Erzengel, die eine bes. Stellung besaßen. In Qumran fühlte sich die Gemeinschaft bereits im Diesseits mit den E. verbunden. Sie vollzog mit ihnen ihren Dienst (1QS 11,8) und erwartete, dass sie im Kampf am Ende der Zeiten von Licht gegen Finsternis auf Seiten Engel der Söhne des Lichts (= Qumrangemeinschaft) eingreifen würden (1QM 12,1 9). Im hell. Judentum begegnen E. als Mittler u. a. des Logos (Philo LA 3,177) bzw. ist der Logos Gottes wichtigster Bote, der selbst weder geschaffen noch ungeschaffen ist. II. NT: 1. Ntl. sind die E.-Namen Gabriel (Lk 1,26) und Michael (Offb 12,7) bezeugt. Jüd. und christl. außerkanonische Schriften überliefern zahlreiche weitere E.-Namen (s. z. B. Jub) und feste E.-Gruppen von vier, sechs oder sieben Erzengeln (1 Thess 4,16; Jud 9) erscheinen, die Namen tragen (Uriel, Rafael, Raguel, Michael, Sariel, Gabriel, Remiel). Auch die sieben Geister/Sterne (= Regenten der sieben Planetensphären) in Offb 1,4.20 sind wohl als Erz-E. aufzufassen. II. 2. Die ntl. Schriften setzen die jüd. Angelologie voraus. Nach Apg 23,8 stand sie bei den Pharisäern in Ehren, während die Sadduzäer sie ablehnten. E. sind in den Evv. als Gottesboten mit wichtigen Wendepunkten des Lebens Jesu verbunden (Lk 1f; Mk 1,13par.; Joh 1,51; Lk 22,43; Mt 28,1 7par.; 16,27par.; 24,31par.; 25,31; 26,53). Diese E. haben Menschengestalt (Mk 16,5par.; Lk 24,4), ihr Gesicht leuchtet (Apg 6,15), sie sind rein, unsterblich und asexuell (Apg 1,10; Mk 12,25par.). Sie sind Geschöpfe Gottes und ihm unterstellt. Entgegen späterer Ikonographie wurden sie nicht mit Flügeln vorgestellt, obwohl sie sich fliegend fortbewegen konnten. Zu ihren Aufgaben gehörte neben dem An- und Verkünden von Gottesbotschaften das Totengeleit (Lk 16,22) und der Personenschutz (Mt 18,10; Apg 12,15). Bei Paulus sind sie Boten, Helfer und Herolde Christi (1 Thess 4,16) sowie Mittler des Gesetzes (Gal 3,19f, vgl. Apg 7,53). Auch im Hebr erscheinen die E. als Mittler des Gesetzes (Hebr 2,2) und vereinigen sich im Himmel mit dem Chor der auferstandenen Gerechten (Hebr 12,22ff vgl. Mk 12,25par. und 4Esr 7,85.95). Der Mythos von der Sünde der E. und ihrem Sturz (1Hen 6 16 im Anschluss an Gen 6,1 4) klingt in 2 Petr 2,4 und Jud 6 an und ist wohl auch Paulus (1 Kor 11,10) bekannt. In der Apokalyptik spielen E. als Boten Gottes eine große Rolle. Sie erscheinen meist in Menschengestalt, strahlend von Licht und Herrlichkeit (Offb 10,1; 18,1). Ihr Auftrag ist, die göttlichen Entscheidungen durchzuführen (Offb 7,1ff; 14,6f; 16,1), den himmlischen Hofstaat zu bilden und dort mit
165 Entrückung / Himmelfahrt Entrückung / Himmelfahrt 153 Gott die Märtyrer zu empfangen (Offb 7,9 17). Im endzeitlichen Szenario leiten sie die jeweiligen Abschnitte ein, wenn sieben E. (Offb 8,2ff) die endzeitlichen Prüfungen ankündigen und ein E.- Heer den Logos in die Endschlacht begleitet (Offb 19,11ff). Die Hochschätzung der E. und ihre unmittelbare Gottesnähe führte dazu, dass es starke Tendenzen gab, dieselben zu verehren, was ntl. wiederholt vehement abgelehnt wird (Kol 2,18f; Offb 19,10; 22,8f; Hebr 1,4ff). I. G. Ahn/M. Dietrich (Hg.), Engel und Dämonen, Münster 1997; D. Dörfel, Engel in der apokalyptischen Literatur und ihre theologische Relevanz, Aachen 1998; A. Lange/H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Die Dämonen, Tübingen 2003; M. Mach, Entwicklungsstadien des jüdischen Engelglaubens in vorrabbinischer Zeit, Tübingen 1992; K. van der Toorn/B. Becking u. a. (Hg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden u. a II. C. Auffarth/L. T. Stuckenbruck (Hg.), The Fall of the Angels, Leiden 2004; P. R. Carrell, Jesus and the Angels, Cambridge u. a. 1997; J. J. Collins, Powers in Heaven: God, Gods, and Angels in the Dead Sea Scrolls, in: ders./r. A. Kugler (Hg.), Religion in the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids 2000, 9 28; C. H. T. Fletcher-Louis, Luke-Acts: Angels, Christology, and Soteriology, Tübingen 1997; D. Flusser, Resurrection and Angels in Rabbinic Judaism, Early Christianity, and Qumran, in: L. H. Schiffman/E. Tov u. a. (Hg.), The Dead Sea Scrolls, Jerusalem 2000, ; S. M. Olyan, A Thousand Thousands Served Him, Tübingen Angelika Berlejung Entrückung / Himmelfahrt (E./H.) ( Dachartikel: Soteriologie) Vorbemerkung: Vorstellungen von E./H. sind in der bibl. Umwelt zahlreich. In den äg. Pyramidentexten (erstmals bei Unas, dem letzten Herrscher der 5. Dynastie, um 2350 v. Chr.) tritt der verstorbene König durch E./H. in die Götterwelt ein, zu der er aufgrund seines göttlichen Amtes gehört. Ein deutlich späteres Beispiel ist die röm. Kaiser-Apotheose. In beiden Fällen handelt es sich um die endgültige Aufnahme in den Himmel nach dem Tod. Nach moderner Logik kann es nicht um eine leibliche E./H. gehen, da ja der Körper entweder im Grab ruht oder (wie beim röm. Kaiser) durch Verbrennung zerstört wird. Aber in beiden Fällen ist das, was aufgenommen wird, in gewisser Weise der Herrscher selbst. Auch die röm. Konzeption legt sich nicht auf die Seele fest. Die Ausdrucksweise bleibt diffus (Suet. Aug. 100,4: effigies Schattenbild ) und Abbildungen zeigen den Kaiser in leiblicher Gestalt. I. AT: 1. Im AT gibt es im königlichen Bereich nichts Vergleichbares. E./H. wird nur berichtet von Henoch (Gen 5,24) und Elija (2 Kön 12,1ff). Dabei geht es um das Verschwinden des ganzen Menschen. Die E./H. des Elija wird als Fahrt in den Himmel verstanden. Jhwh nimmt ihn zu sich und dokumentiert damit (im Kontrast zu Baal) seine Macht über Leben und Tod. Dabei wird die E. vornehmlich mit dem hebr. Verb lqg Hifil/ Hofal ( hinweggenommen werden, entrückt werden ) formuliert. I. 2. Dass Gott bei der E./H. eine neue Heils- und Lebensfülle schenkt, ist erschließbar und wurde in der Rezeptionsgeschichte auch so verstanden. Sir z. B. sieht die E./H. des Henoch als Lohn für wahre Gotteserkenntnis (Sir 44,16) und betont, dass es sich um eine E./H. bei lebendigem Leibe handelt (49,14). Auch die E./H. des Elija findet ihr Echo (Sir 48,9.12; 1 Makk 2,58). Beide Entrückungstraditionen werden in frühjüd. Texten (Philo, Flavius Josephus, Apokalyptik) weitergeführt. Es entstehen auch Texte über die E./H. anderer bibl. Gestalten. In Sir 48,10 wird die E./H. des Elija als Voraussetzung für seine Wiederkunft verstanden (vgl. Mal 3,23f). Im Äthiopischen Henochbuch (1Hen) qualifiziert die E./H. Henoch als Empfänger der apokalyptischen Offenbarung und ist die Basis für seine endzeitliche Wiederkunft ( Parusie) in der Rolle des richtenden Menschensohns ( End-Gericht). Die Konzeption der E./H. ohne Beteiligung des Leibes ist in hell.-röm. Zeit (in bibl. und außerbibl. Texten) durch die Vorstellung von der sofortigen Aufnahme der Märtyrer (bzw. ihrer Seele) ins Paradies belegt. Das Weisheitsbuch (Ägypten, 1. Jh. v. Chr.) sagt z. B., die Seelen der Gerechten seien in Gottes Hand (Weish 3,1). Im 4Makk (1. Jh. n. Chr.) ist mehrmals davon die Rede, dass die Märtyrer im Tod unmittelbar das ewige Leben gewinnen, im Himmel für Gott leben (4Makk 5,37 u. a.) und in der Nähe seines Thrones stehen dürfen (4Makk 17,18). II. NT: 1. Die E. kann in der LXX, in zwischentestamentlichen Schriften und im NT mit den Verben
166 154 Arp/yv ( rauben; wegführen; entrücken ) oder metat2uhmi ( an einen anderen Ort bringen, an eine andere Stelle versetzen ) formuliert werden. II. 2. E./H. ist beim frühen Paulus ein Element der endzeitlichen Vollendung. In dem Parusie- Szenario, das er in 1 Thess entwirft, wird allen Glaubenden E./H. verheißen. Lebende und Verstorbene werden in Wolken in die Luft entrückt, um ihrem wiederkehrenden Herrn zu begegnen (1 Thess 4,17). Um eine zeitweilige Versetzung in die göttliche Welt zu Lebzeiten handelt es sich in 2 Kor 12,1 4. Paulus berichtet, er sei in den siebten Himmel entrückt worden. Er lässt offen, ob dies mit oder ohne Leib geschehen sei, und spricht in diesem Zusammenhang von Visionen und Enthüllungen des Herrn (2 Kor 12,1), was einen Zusammenhang mit den Ostererscheinungen ( Auferstehung) andeutet. Evtl. will Paulus sagen, dass er den Auferstandenen im Paradies besucht hat. Darüber hinaus rechnet er damit, nach dem Tod bei Christus zu sein (Phil 1,23), was wohl als geistig-seelischer Zwischenzustand bis zur Parusie zu verstehen ist. Auch im NT wird die Rezeptionsgeschichte der E./H. von Elija fortgeschrieben. In Mk 9,11 13par. wird unter Voraussetzung seiner E./H. die Wiederkunft des Elija (vgl. Mal 3,23f; Sir 48,10) erwähnt. Auch an zahlreichen weiteren Stellen in den Evv. v. a. bei Markus (Mk 6,15; 8,28; 9, ; 15,35.36) und Matthäus (Mt 11,14; 16,14; 17,10 12; 27,47.49), weniger bei Lukas (Lk 1,17; 9,8.19) und Johannes (Joh 1,21.25) wird deutlich, dass sie auf eine frühjüd. Erwartung der Wiederkunft des Elija Bezug nehmen. Dagegen gibt es nur eine direkte Bezugnahme auf die E./H. des Henoch (Hebr 11,5). Die Verbindung von E./ H., eschatologischer Offenbarer-Rolle und Wiederkunft als Richter, wie sie in 1Hen zu finden ist, wird im NT nicht direkt aufgegriffen, bildet aber eine gewisse Analogie zur lk. Auferstehungskonzeption. Lk betont drastisch den leiblichen Aspekt der Auferweckung Jesu (vgl. den Bratfisch in Lk 24,42!) und deutet die Auferstehung Jesu im Rahmen hell. Anthropologie als Wiedervereinigung des Geistes ( Fleisch) bzw. der Seele, die wohl unmittelbar nach dem Tod zu Gott entrückt wird (vgl. Lk 23,46), mit dem Leib, der von Gott vor Verwesung bewahrt wurde (vgl. die Deutung von Ps 16,10 in Apg 2,27.31; Körper). Entrückung / Himmelfahrt Die Existenz des Auferweckten übersteigt das gewöhnliche Irdische, aber der Auferweckte ist trotzdem zunächst leibhaftig in der Welt der Jünger präsent. So kann die Erhöhung zum Vater, welche in älteren Ostertheol. mit der Auferweckung in eins gesetzt wurde (vgl. Röm 1,3f), als eigenständiges Ereignis erzählt werden. Die Auferweckung Jesu wird in der Erhöhung zum Vater (als E./H. mit Leib und Seele) vollendet. Für Lk stellt die E./H. Jesu Grenze und Scharnier zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche dar. Deshalb erzählt er sie an der Nahtstelle seines Doppelwerks zweimal (Lk 24,50 53 und Apg 1,9 11), wobei Apg 1,11 die E./H. mit der Wiederkunft Jesu vom Himmel her verbindet. Soteriologisch relevant ist die E./H., weil sie den Empfang des Geistes und so den Zugang zum Heil des endzeitlichen Gottesreiches eröffnet (Lk 24,49; Apg 2,33; Soteriologie). Rezeptionsgesch. ist die lk. Konzeption für die Feier des Kirchenjahres prägend geworden. Seit dem späten 4. Jh. n. Chr. ist das Fest der Himmelfahrt Christi am 40. Tag nach Ostern belegt, das bis heute in den großen christl. Kirchen gefeiert wird. Wenn Lukas in Apg 7,59 dem sterbenden Stephanus den Gebetsruf Herr Jesus, nimm meinen Geist (pneqma) auf! in den Mund legt, dann erinnert das an das letzte Wort Jesu (Lk 23,46), welches zwar Ps 31,6 aufnimmt, konzeptionell aber wie Weish 3,1 zu verstehen ist. Bei Jesus bedeutet die rein geistige E./H. nur einen kurzen Zwischenzustand, der durch die Auferweckung beendet wird. Davon ist bei Stephanus (noch) nicht die Rede. Es geht um die E./H. des Geistes des Märtyrers. Die Konzeption der geistig-seelischen E./H. dürfte auch vorliegen bei dem Verbrecher, der mit Jesus gekreuzigt wird und dem Jesus versichert, er werde heute noch mit ihm im Paradies sein (Lk 23,43). Das gilt auch für das Lazarusgleichnis (Lk 16,19 31), wo der gute Arme direkt nach dem Tod entrückt wird, um im Schoße Abrahams zu sein, während der hartherzige Reiche im Hades quälende Strafen erleiden muss. Lazarus befindet sich wie Abraham, Stephanus, der reuige Gekreuzigte (und alle anderen Gerechten) in einem paradiesischen, geistig-seelischen Zwischenzustand, und zwar bis zur endgültigen Heilsfülle, die mit der allgemeinen Auferstehung (Apg 24,15) beginnt. Deren Erster ist Chris-
167 Erde / Land Erde / Land 155 tus (Apg 26,23). Die eschatologische Vollendung, das ganzheitliche ewige Leben, finden alle, die die christl. Botschaft gläubig annehmen und praktisch umsetzen. Auch die Johannesoffenbarung setzt die geistige E./H. als Zwischenzustand bis zur Parusie voraus: Die Seelen der Blutzeugen (Offb 6,9f) werden im Himmel für die endzeitliche Fülle des Heils bewahrt. I. P. Abadie, Mit Pferdestärken in den Himmel: Welt und Umwelt der Bibel 26 (2002) 38 41; U. Kellermann, Zu den Elia-Motiven in den Himmelfahrtsgeschichten des Lukas, in: P. Mommer/ W. Thiel (Hg.), Altes Testament, Frankfurt/M. u. a. 1994, ; P. Landesmann, Die Himmelfahrt des Elija, Wien u. a. 2004; A. Schmitt, Entrückung, Aufnahme, Himmelfahrt, Stuttgart II. M. Clauss, Kaiser und Gott, München 1999; G. Friedrich, Lk 9,51 und die Entrückungschristologie des Lukas, in: P. Hoffmann (Hg.), Orientierung an Jesus, Freiburg 1973, 48 77; U. Kellermann, Zu den Elia-Motiven in den Himmelfahrtsgeschichten des Lukas, in: P. Mommer/W. Thiel (Hg.), Altes Testament, Frankfurt/M. u. a. 1994, ; P. Pilhofer, Livius, Lukas und Lukian, in ders., Die frühe Christen und ihre Welt, Tübingen 2002, ; A. W. Zwiep, The Ascension of the Messiah in Lukan Christology, Leiden u. a Joachim Kügler Erde / Land (E./L.) ( Dachartikel: Weltbild/Kosmologie) I. AT: 1. Das Hebr. gebraucht für E. (Gegensatz zu Himmel) und L./Festland/Gebiet (Gegensatz zu Stadt, Meer) den Begriff {œrœr (griech. gv; als Territorium x5ra Mt 2,12). Zu erwähnen ist auch tebel ( Festland, Erdkreis ) und jabbaša (griech. jer3n, jhr/, gv) als das trockene Land im Gegensatz zum Meer (Gen 1,6 11; Jona 1,13; Mt 23,15). Kultivierbares Ackerland, Ackererde im Gegensatz zur Wüste, wird { a dama (griech. gv) genannt. Dieser Begriff kann auch den Erdboden, auf dem man steht (Ex 3,5; 8,21), oder die bewohnte E. generell meinen (Gen 12,3; 28,14; Dtn 6,15). Theol. bedeutsam wird die { a dama als heiliges L. ({admat [haq]qodæš; Ex 3,5; Sach 2,16), L. Jhwhs (Jes 14,2), durch die göttliche Verfluchung der { a dama, die als Ätiologie der mühevollen Ackerarbeit zu verstehen ist (Gen 3,17ff; 5,29), sowie durch die Verheißung der { a dama, die Jhwh den Vätern zugesagt und gegeben hat (Ex 20,12; Abb. 19: Die Muttergöttin als Steinfigur aus Munhata. Quelle: H. Weippert, Palästina in vorhellenistischer Zeit, München 1988, Abb Dtn 4,10.40; 5,16; 7,13; 11,9.21; 12,1.19; 2 Kön 21,8). Diese { a dama wird das Gottesvolk verlassen müssen, wenn es Gottes Gebote nicht befolgt (Dtn 28,21.63; Jos 23,13.15; 1 Kön 9,7). Von ihr weg ziehen die Deportierten ins Exil (2 Kön 17,23; 25,21) und deren Hoffnung richtete sich darauf, wieder zu ihr zurückzukehren (Jes 14,1f; Jer 16,15; 23,8; Ez 28,25). I. 2. Die Erde: Die E. ist im vertikalen Weltbild die untere Entsprechung zum Himmel und als solches Wohnort der Menschen, Tiere und Pflanzen. Im dreistufigen Weltbild bildet sie die Mitte, da sich unter ihr die Unterwelt befindet. Manchmal kann mit E. ({œrœr) oder untere E. ({œrœr tagtit und ähnliche Konstruktionen, vgl. Ez 26,20; 31, ; 32,18.24; Jes 44,23; Ps 63,10; 71,20) auch die Unterwelt gemeint sein. Zusammen mit dem Wort für Himmel kann {œrœr auch die Welt bezeichnen (Gen 1,1; 2,1.4), für die das Hebr. kein eigenes Wort kennt. Grammatisch wird die E. in den sem. Sprachen (wie im Griech. und Deutschen) als weiblich konstruiert. In polytheistischen Systemen der Antike galt sie als Göttin. In Palästina zählt sie als Muttergöttin zu den seit dem Neolithikum belegten und damit ältesten Gottheiten, die ikonographisch durch eine die Fruchtbarkeitsaspekte betonende üppige Frauenfigur dargestellt wurde (Abb. 19). Reminiszenzen an sie liegen in Ijob 1,21; Ps
168 ,15; Sir 40,1 vor. Atl. und ntl. gilt die E. als Schöpfung oder Gründung Gottes (Gen 1,1; Jes 45,18; 48,13; Ijob 38,4 7; Spr 8,27 29; 2 Petr 3,5; Apg 17,24ff), Ort der von ihm gespendeten Fruchtbarkeit (Gen 1,11; Mt 13,4ff.par.) und Eigentum Gottes (Ps 24,1; Mt 11,25), der sie erhält. Jhwh ist Herr und König der ganzen E. (Jos 3,11.13; Mi 4,13; Ps 47,8; Sach 14,9) sowie Gott derselben (Jes 54,5; Dtn 4,39). In Bezug auf die Wohnorte Jhwhs gibt es atl. die Vorstellung, dass er auf einem Berg und/oder in seinem Tempel auf dem Zion wohnt, womit irdische Lokalitäten gemeint sind, die jedoch auf kosmische Dimensionen hin transparent vorgestellt werden. Tempelkritische Entwürfe der nachexil. Zeit verorten Jhwh hingegen zunehmend im Himmel, der sein Thron ist, wohingegen die E. allenfalls sein Fußschemel sein kann (Jes 66,1; vgl. Apg 17,24ff). In Theophanieschilderungen erscheint Jhwh in dramatischer Szenerie, wobei die E. beben kann (Ri 5,4f; Hab 3,3ff). Er ist ihr Richter (Ps 82,8; 96,13) und kann, da sie vergänglich ist, ihr Ende herbeiführen ( End-Gericht). Die E. wird als Scheibe vorgestellt (Jes 42,5; Ps 136,6), die von den Wassern umgeben ist (aus denen sie bei der Schöpfung entstand, vgl. Gen 1,1ff) und/ oder auf Säulen ruht (1 Sam 2,8; Ps 24,2; 104,5f; 136,6). Nach Ijob 26,7 wurde sie von Jhwh (wie ein Tuch) über der Leere bzw. dem Nichts aufgehängt. Folglich gibt es die Enden/Ecken/Säume der E., die in jeder der vier Himmelsrichtungen angesiedelt werden (Dtn 13,8; Jes 11,12; 40,28; 41,5.9; 42,10; Offb 7,1). Nur selten findet sich im AT die Rede vom Nabel der E. (tabburha{arœr;ri 9,37; Ez 38,12 vgl. 5,5), der in Ez 38,12 mit Jerusalem bzw. Palästina identifiziert wird. In der anthropozentrischen Sicht des AT (korrigiert in Ijob 38f) wurde die E. für den Menschen geschaffen, ihm zur Aufsicht übergeben (Gen 1,28) und die verschiedenen Völker auf ihr verteilt (Gen 10; Apg 17,26). Jes 65,17; 66,22 ist zwar von der Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen E. die Rede, was vor allem in der jüd. und christl. Eschatologie und Apokalyptik eine große Wirkung entfaltete, doch ist atl. damit kein kosmologischer Umbruch ( Tod und Arbeit existieren weiterhin), sondern die Wandlung der sozialen und polit. Verhältnisse der nachexil. Zeit gemeint. Erde / Land I. 3. Das Land: {œrœr als L. ist Teil des horizontalen Weltbilds. Hier bezeichnet der Begriff das Festland (im Gegensatz zum Wasser), Boden, auf dem die Lebewesen leben, geographische Landstriche, polit. Siedlungs- und Herrschaftsgebiete, Königreiche und Länder ( L. Efraim, L. Israel, L. Kanaan ; L. der Amoriter, L. der Kanaanäer, L. der Philister usw., L. des Königs N. N. ) sowie agrarisch dominiertes L. (und seine Bewohner) im Gegensatz zur Stadt und ihrer Kultur. Zu Letzterem gehört die Rede vom Volk des Landes (}am ha{arœr), bei dem es sich vorexil. um die Oberschichtsvertreter des Umlandes der Residenz Jerusalem, nachexil. um die vom Jerusalemer Kult ausgegrenzte Bevölkerung Palästinas handelt (Esra 4,4; 9,1f; Neh 10,31) ( Sozialstatus). Die Landesgrenzen Palästinas werden zumeist wie folgt angegeben: Im Westen das Mittelmeer, im Süden das Wadi Nazze (bzw. weiter südlich das Wadi l-}ariš), im Norden das Hermonmassiv und im Osten der Übergang in die jordanische Wüste (s. Abb. 9). Die Grenzen zu den unmittelbaren Nachbarregionen darf man sich nicht allzu scharf vorstellen. Die Übergänge zu den Steppen- und Wüstenregionen des Negeb und dem (Palästina nicht zuzurechnenden) Sinai im Süden, im Osten zur jordanischen Wüste hin, oder im Norden zur Küstenregion des heutigen Libanon oder zum heutigen Syrien hin waren fließend. Die polit. L.-Grenzen der beiden vorexil. Königreiche des Berglands Israel und Juda sind kaum eindeutig festzulegen. Sie waren den jeweils geltenden polit. Verhältnissen der verschiedenen Zeiten verpflichtet und wandelten sich mehrfach auf dem Kulturlandstreifen zwischen Dan und Beërscheba (Ri 20,1; 1 Sam 3,20; 1 Kön 5,5). I. 4. Nach Darstellung des Buches Jos vollzog sich die Landnahme der israelit. Stämme auf kriegerische Weise mit dem Genozid an den vorherigen Landesbewohnern, was hist. aus guten Gründen bezweifelt werden darf: Jos 6 und 8 sind durch archäologische Grabungen in Jericho und Ai als fiktionale Erzählungen ätiologischen Charakters erwiesen; da es archäologisch nachweisbare kulturelle Kontinuitäten gibt, kann die Ausrottung der früheren Landesbewohner nicht stattgefunden haben. In der Forschung wurden verschiedene Hypothesen zur Landnahme entwickelt, die der-
169 Erde / Land 157 zeit als Infiltrations- (friedliches Einsickern von Halb-Nomaden ins Kulturland; A. Alt), Revolutions- (soziale Umschichtung innerhalb der kanaan. Städte und Stadtflucht; G. E. Mendenhall) und Evolutionshypothese (I. Finkelstein, V. Fritz) diskutiert werden. Letztere versucht dem Faktum Rechnung zu tragen, dass der archäologische Befund zwischen der SB-Zeit ( /1150 v. Chr.) und E-Zeit I (1200/ v. Chr.) sowohl Kontinuitäten als auch Neuerungen aufweist, und geht (zumeist auf archäologischer Grundlage, da die bibl. Texte als Quellen weitgehend ausfallen) von den innerpalästinischen Verhältnissen der endenden SB-Zeit und ihrer Stadtkultur aus, um die Veränderungen zur dörflich geprägten E-Zeit I zu erklären. Dabei ist die Identität derer, die die neue, auf der Grundlage von Sippen und Stämmen organisierte Dorfkultur, begründeten, umstritten. Je nach Modell werden dafür ehemalige Stadtbewohner, nichtsesshafte Bevölkerungselemente (die nicht notwendigerweise aus der Wüste stammen) oder eine Kombination von beiden verantwortlich gemacht. Dieses inhomogene Bevölkerungskonglomerat, das zu einem erheblichen Teil aus Bewohnern der landestypischen Stadtstaaten der SB-Zeit (also Kanaanäern ) bestand, entwickelte sich in der Folgezeit zu den paläst. Stämmen des Berglands. Die Vorteile dieses Entwurfs sind, dass er die Kontinuitäten aufnimmt, die zwischen der Sprache (Hebr. ist eine kanaan. Sprache) und Kultur (Keramik, Hausarchitektur, Ikonographie) der früheisenzeitlichen Stämme und spätbronzezeitlichen Stadtstaaten bestehen, aber auch die Neuerungen erklären kann: Die Landnahme ist eine (Binnen-)Wanderung von den Ebenen in das Bergland und die Besiedlung desselben. I. 5. L.-Besitz ( Besitz) wird atl. als Verwaltung des Eigentums Jhwhs verstanden (Lev 25,23ff), sodass es an sich nur eine Lehensgabe an sein Volk ist. Verheißung des L. ({œrœr, { a dama) mit der Erfüllung in der Landnahme prägt die atl. Geschichtsdarstellung von Abraham (Gen 12,7) bis Josua (Jos 21,43). Im dtn.-dtr. Traditionskreis spielt die L.-Verheißung an die Väter ({œrœr, { a dama) und die Landgabe eine große Rolle (Dtn 1,8.35; 4, ; 6,10; 7,13; 11,9.21; 26,3 u. a.), die an die Bedingung geknüpft wird, dass das Gottesvolk Israel Gottes Gebote befolgt (Dtn 4,1.25f; 6,18; 21,1; 26,1; 28,11ff; 30,17 20). Das L. wird als gut oder L., in dem Milch und Honig fließt (Dtn 1,25.35; 3,25; 4,21f; 6,3.18; 11,9; 26,9.15; 27,3; 31,20) qualifiziert. Der Landverlust, der das Nordreich 722 v. Chr. mit den ass. Eroberungen, Juda 587 v. Chr. mit der Zerstörung Jerusalems durch das bab. Heer traf und die Oberschichten beider Länder ins Exil führte, konnte folglich als vom Gottesvolk selbst verschuldete Strafe Jhwhs interpretiert werden (2 Kön 17,7ff; 23,26f). Für die Exilierten spielte die L.-Verheißung an die Väter (insbes. Abraham, der selber aus Babylonien ausreiste, vgl. Gen 12,1 3) eine große Rolle als Hoffnungsträger für die mögliche Rückkehr ins Land und die Durchsetzung dortiger Landansprüche als zweite Landnahme (Jer 30,3; Ez 36,28; 37). II. NT: 1. Ebenso wenig wie das Hebr. unterscheidet das Griech. zwischen {œrœr und { a dama, beides wird mit gv übersetzt bzw. bezeichnet. II. 2. In Bezug auf die E. teilt das NT die skizzierten atl. Vorstellungen, die allerdings mit Jesus Christus eine neue Mitte und einen neuen Zielpunkt erhalten. So ist in der ntl. Gleichnisrede beim Ackerland (gv) an das Fruchttragen der E. für Christus gedacht (Joh 12,24; Hebr 6,7), und die christl. Mission soll bis an das Ende der E. führen (Apg 1,8). Ntl. wird wiederholt der nahe Untergang der E. und des Himmels (= Welt) erwartet (Mt 24,35; 2 Petr 3,7; Offb 6,13f). In dualistischer Sicht wird das Irdische einseitig mit dem Fleisch, der Vergänglichkeit und Sündhaftigkeit verbunden (Joh 3,31; 1 Kor 15,47), dem das Himmlische gegenübersteht. Die E. gilt zwar an sich als Gottes Schöpfung, doch inzwischen als dem Bösen verfallen (1 Joh 5,19). Dies wird durch Christus aufgedeckt, der als wahrer Herr von Himmel, E. und Unterwelt (1 Kor 10,26; Phil 2,10) seine Herrschaft auf der E. wieder aufrichtet, bereits auf E. Sünden vergeben kann (Mt 9,6par.) und den Widersacher/Teufel als vorübergehenden Herren der Welt entmachtet. Die E. ist am Ende der Zeiten Schauplatz des apokalyptischen Dramas der Offb (Offb 7,1.3). Die völlige Neuschöpfung der E. wird (im Anschluss an Jes 65,17) in eschatologischer Erwartung und im Rahmen einer Zwei-Weltzeitalter- Lehre am Ende dieses Äons bzw. als Beginn des neuen erwartet (Offb 21,1f; 2 Petr 3,13; Escha-
170 Erkennen 158 tologie). Das L. spielt ntl. kaum eine herausragende Rolle, da polit.-territoriale Ansprüche nicht von Interesse sind und sich die Herrschaft Gottes/ Christi nicht auf Landesgrenzen beschränkt, sondern auf die ganze Welt erstreckt. I. V. Fritz, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart u. a. 1996; A. Krüger, Himmel Erde Unterwelt, in: B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001, 65 83; C. Levin, Das vorstaatliche Israel: ZThK 97 (2000) ; E. Noort, Land in the Deuteronomistic Tradition, in: J. C. De Moor (Hg.), Synchronic or Diachronic?, Leiden 1995, ; A. Ohler, Israel, Volk und Land, Stuttgart 1979; E. Otto, Stadt und Land im spätbronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Palästina, in: ders./s. Uhlig (Hg.), Kontinuum und Proprium, Wiesbaden 1996, 16 29; J. Pastor, Land and Economy in Ancient Palestine, London u. a. 1997; O. H. Steck, Der neue Himmel und die neue Erde, in: J. van Ruiten/M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Isaiah, Leuven 1997, ; G. Steiner, Der Gegensatz eigenes Land : Ausland, Fremdland, Feindland in den Vorstellungen des Alten Orients, in: H.-J. Nissen/ J. Renger (Hg.), Mesopotamien und seine Nachbarn 2.2, Berlin 1982, ; M. Weinfeld, The Promise of the Land, Berkeley u. a. 1993; H. und M. Weippert, Die Vorgeschichte Israels in neuem Licht: ThR 56 (1991) II. G. Jankowski, Dieses Land: TeKo 21,4 (1998) 51 58; W. Pratscher, Divergenz und Konvergenz von Himmel und Erde bei den Synoptikern: SNTU. A 28 (2003) ; H. Stegemann, Das Land in der Tempelrolle und in anderen Texten aus den Qumranfunden, in: G. Strecker (Hg.), Das Land Israel in biblischer Zeit, Göttingen 1983, ; A. Vögtle, Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde (Apk 21,1), in: E. Gräßer/O. Merk (Hg.), Glaube und Eschatologie, Tübingen 1985, ; K. E. Wolff, Geh in das Land, das ich dir zeigen werde, Frankfurt/M. u. a Angelika Berlejung Erkennen (E.) ( Dachartikel: Weisheit/Gesetz) I. AT: 1. Die hebr. Verben nkr Hifil ( untersuchen, erkennen, kennen, können ) und jd} ( merken, erfahren, erkennen, kennen, verstehen, wissen, sich kümmern um, sexuell verkehren ) haben eine größere Bedeutungsbreite als das deutsche erkennen. Von daher ist nicht immer ganz klar, welche Belege dieser Ausdrücke für die Rekonstruktion eines atl. Verständnisses von erkennen heranzuziehen sind (vgl. auch da}at Wissen, Können, Erkenntnis, Einsicht und glh Nifal, das u. a. im Sinne von sich zu erkennen Erkennen geben, zu erkennen gegeben werden gebraucht werden kann). Jedenfalls kann nicht einfach aus allen Verwendungsweisen dieser hebr. Wörter ein atl. Erkenntnis-Begriff konstruiert werden. I. 2. Zentrales Organ des E. ist im AT das Herz. Es verarbeitet, was die Augen sehen und die Ohren hören, wobei die Augen für die sinnliche Wahrnehmung insgesamt stehen können und die Ohren für die Aufnahme sprachlich vermittelten Wissens. Im Herzen können Wahrnehmungen, Aussagen und Wünsche bedacht werden, was dann zu Einsichten oder Entscheidungen führen kann (vgl. exemplarisch Koh 1,12ff). Neben der Erfahrung und dem Denken ist im AT das traditionelle Wissen für das E. von großer Bedeutung. So bringt z. B. Ijob 8,8 10 die Überzeugung zum Ausdruck, dass aus der Überlieferung der Vorfahren zuverlässigere Einsichten über die Wirklichkeit zu gewinnen sind als aus den eigenen Erfahrungen der gegenwärtig Lebenden, die nur den kurzen Zeitraum eines Menschenlebens abdecken. Die Leser des Sprüchebuchs werden nur selten dazu aufgefordert, sich an eigenen Erfahrungen zu orientieren (Spr 6,6), immer wieder hingegen dazu, sich die überlieferten Lehren anzueignen (Spr 2,1ff; 3,1ff; 4,1ff usw.). Und selbst für Koh ist die empirisch nicht zu überprüfende traditionelle Überzeugung, Gott habe die Welt gut geschaffen, von zentraler Bedeutung für die Erkenntnis und das Verständnis der Wirklichkeit (Koh 3,11ff). Eine weitere mögliche Erkenntnisquelle sind göttliche Offenbarungen, die dem Menschen über die Erfahrungssinne (Visionen, Auditionen), über Traditionen (Sir 24,23ff: Tora, Jes 8,16ff: Prophetie; Spr 1,1ff: Weisheit) oder über das Denken ( Herz : Esra 7,27; Neh 2,12; Jer 24,7) vermittelt werden können. Umgekehrt kann Gott aber auch die Organe des E. (Augen, Ohren, Herz) verstocken und so Erkenntnis verhindern (Jes 6,9f). Nach dem Sprüchebuch zeichnen sich die Weisen durch ihre Erkenntnisfähigkeit und ihr Streben nach Erkenntnis aus (Spr 14,6; 18,15), wobei die Erkenntnis als Gabe Gottes begriffen (Spr 2,6) und eng mit der Gottesfurcht verbunden wird (Spr 1,7; Ehrfurcht). Koh weist demgegenüber auf die Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten hin (Koh 3,11; 6,12), die auch der Weise nicht überschreiten kann (Koh 8,16f). Sir
171 Erkennen 159 nimmt diese Einsichten Koh auf (Sir 1,2ff; 18,4ff), hält aber zugleich mit dem Sprüchebuch daran fest, dass Gott den Frommen Erkenntnis und Weisheit verleihen kann (Sir 1,8ff; 43,33). Die Fähigkeit zu erkennen, was gut und was böse (bzw. schlecht) ist, geht Kindern noch (Dtn 1,39; 1 Kön 3,7; Jes 7,15f) und alten Menschen manchmal wieder ab (2 Sam 19,36). Vor dem Hintergrund dieser Stellen ist wohl auch in Gen 2f die Erkenntnis von Gut und Böse im Sinne der ethischen Urteilsfähigkeit zu verstehen (die der Mensch zur Ausübung seines Herrschaftsauftrags nach Gen 1,26ff benötigt, vgl. 1 Kön 3,9). Dabei spielt die Erzählung vielleicht mit dem Doppelsinn des hebr. Ausdrucks, der auch im Sinne der Erfahrung von Gutem und Schlechtem verstanden werden kann: Ethische Urteilsfähigkeit ist ohne die Erfahrung von Gutem und Schlechtem nicht denkbar, und diese Erfahrung führt rasch dazu, dass der Mensch zumindest an der Umsetzung des als Gut Erkannten in die Tat wenn nicht schon an der Aufgabe ethischer Urteilsbildung in seinem Herzen immer wieder scheitert (Gen 4; 6,5; 8,21). Nach Gen 2f gewinnt der Mensch seine ethische Urteilsfähigkeit, indem er ein Verbot Gottes übertritt. Ob damit das Streben nach selbständiger ethischer Urteilsbildung grundsätzlich verurteilt oder ob damit angedeutet werden soll, dass menschliche Urteilsfähigkeit und göttliche Handlungsleitung in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehen, ist umstritten. Nach Sir 17,6f ist es jedenfalls im Sinne Gottes, dass der Mensch zu erkennen vermag, was gut ist und was böse. Die göttliche Gesetzgebung setzt diese Urteilsfähigkeit des Menschen voraus und unterstützt ihn bei der ethischen Urteilsbildung (Sir 17, 11f). Demgegenüber ist der Mensch nach Dtn 29,3 zu wesentlichen Erkenntnissen nicht nur in ethischer Hinsicht keineswegs von Natur aus in der Lage, sondern muss dazu erst von Gott mit entsprechend leistungsfähigen Organen (Herz, Augen, Ohren; Körper) ausgerüstet werden. Dem anthropomorphen Gottesverständnis des AT entsprechend verfügt auch Gott über die Fähigkeit zu erkennen (Ex 3,7; 1 Sam 2,3) und übertrifft darin den Menschen bei weitem (Sir 23,20). Nicht zuletzt diese Überlegenheit Gottes macht es aber umgekehrt für den Menschen schwer, Gott zu erkennen und zu verstehen (Ps 139,6.17f). Vielfach wird im AT davon berichtet, dass Jhwh sich selbst (Ex 6,3; Ps 9,17) oder bestimmte Sachverhalte (Ps 103,7) Menschen zu erkennen gegeben ( offenbart ) hat. Bes. bei Ez und in den priester(schrift)lichen Texten des Pentateuch ist es das Ziel des Wirkens Jhwhs, dass Israel und auch andere Völker ihn erkennen (Ex 6,7; Ez 25, usw.). Der Mangel an Gotteserkenntnis führt nach Hos 4,1ff zum moralischen Niedergang und schließlich zum Untergang Israels. Verantwortlich für diesen Mangel sind nach Hos 4,4ff die Priester. Dabei ist mit Gottes- Erkenntnis aber eher der vertraute Umgang mit Jhwh, die (exklusive) Bindung an ihn in Kult und Frömmigkeit gemeint als ein E. im eigentlichen Sinne. Hos 2,19f kündigt an, dass Jhwh eine solche Bindung von sich aus wieder herstellen wird. Ein eigentliches E. Gottes durch das Volk wird demgegenüber an Stellen wie Jer 24,7; 31,34 als Folge göttlichen Handelns erwartet. Weish 13,1ff reflektiert grundsätzlich über Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis Gottes durch die Betrachtung seiner Schöpfungswerke: Eigentlich könnten die Menschen aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe auf deren Schöpfer schließen. In ihrer Torheit aber lassen sie sich davon zu einer Vergötterung bes. imposanter Geschöpfe verleiten. II. NT: 1. Im NT wird E. u. a. mit den Nomina azsuhsiw ( Einsicht ) und gnmsiw ( Erkenntnis ) sowie den Verben gnvr2yv ( erkennen, kennen, wissen ), Epigin5skv ( erkennen, merken ) und no0v ( erkennen, begreifen ) bezeichnet. II. 2. Der Gedanke von Weish 13,1ff wird im NT von Paulus aufgenommen und weiterentwickelt (Röm 1,18ff): Gott ist an seiner Schöpfung erkennbar. Die Menschen aber haben Gott nicht anerkannt, sondern sind dem Götzendienst verfallen. Deshalb hat Gott sie ihren Begierden hingegeben. Gal 4,8 beschreibt dementsprechend die Bekehrung vom Heidentum zum Christentum als Übergang vom Götzendienst zur rechten Gotteserkenntnis, wobei dem E. Gottes durch den Menschen dessen Erkanntsein durch Gott vorausgeht (sodass die Gotteserkenntnis mit Selbsterkenntnis einhergeht). 2 Kor 4,6 stellt diesen Vorgang dar als Erleuchtung des Herzens durch die Er-
172 160 Erkennen kenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Christi. Dementsprechend kann Phil 3,8 statt von der Erkenntnis Gottes von der Erkenntnis Christi Jesu als Übergang zum Glauben sprechen. 1 Kor 2,10ff führt die Gotteserkenntnis der Christen auf deren Teilhabe am göttlichen Geist zurück. Glauben und E. bzw. Wissen sind an den genannten Stellen eng miteinander verbunden (vgl. 2 Kor 4,13f; 5,6f; Röm 8,22 25). Während an diesen Stellen die Erkenntnis Gottes am Übergang vom Unglauben zum Glauben steht, bittet Paulus in Phil 1,9f darum, dass die Liebe der Christen in Philippi immer reicher werden möge an Einsicht (azsuhsiw) und Erkenntnis (gnmsiw), damit sie zu prüfen vermögen, was recht ist und was unrecht. Das setzt voraus, dass es unter Christen unterschiedliche Grade der Erkenntnis (Gottes) gibt. 1 Kor 8 ruft die in der Erkenntnis (der Nichtigkeit der Götzen) Fortgeschritteneren dazu auf, Rücksicht zu nehmen auf die Schwächeren in der Gemeinde. Alle irdischen Unterschiede hinsichtlich der Gotteserkenntnis werden in 1 Kor 13,12 eschatologisch relativiert: Jetzt ist auch die Gotteserkenntnis der Christen noch indirekt und fragmentarisch, dann aber werden sie Gott völlig erkennen, so wie sie schon jetzt von ihm völlig erkannt worden sind. Eph 3,19 formuliert den paradoxen Wunsch, die das E. übersteigende Liebe Christi zu erkennen. Während es bei Paulus das Geschick Jesu ( Kreuz und Auferstehung) ist, an dem die Christen ihre Gotteserkenntnis gewinnen, ist es nach Mt 11,26f Jesus selbst, der in seiner Lehre Gotteserkenntnis vermittelt. Nur der Vater erkennt den Sohn und nur der Sohn den Vater. Andere Menschen können den Vater (Gott) nur erkennen, indem der Sohn (Jesus) ihm sein Wissen offenbart. Dabei ist das offenbarende Handeln des Sohnes aber zugleich Handeln des Vaters, da Jesus in Mt 11,25 Gott dafür dankt, dass dieser die Offenbarung nicht den Weisen und Verständigen, sondern den Unmündigen zuteil werden ließ. Dieses Verständnis der Offenbarung Gottes durch Christus (vgl. Lk 10,21f) steht dem des Joh nahe. Nach Joh 1,1 18 vermittelt der Sohn als inkarnierter Logos den Menschen die Kunde von Gott, dem Vater. Diese Kunde wird von denen aufgenommen, die aus Gott gezeugt sind, wobei E., Glauben und Schauen eng miteinander zusammenhängen. Nach Joh 8,31f führt der Glaube an Jesus zur befreienden Erkenntnis der Wahrheit (vgl. zum engen Zusammenhang zwischen Glauben und E. Joh 6,69; 10,38; 17,8; 1 Joh 4,16). Joh 10,14f konzipiert die Vermittlung der Gotteserkenntnis durch Jesus im Bild des guten Hirten ( Gottesbilder). Dabei hat nach Joh 10, der Vater dem Hirten seine Schafe gegeben, während nach Joh 10,30 der Hirt (Jesus) mit dem Vater eins ist. Hier wird erkennbar, wie der Versuch, die Vermittlung der Selbst-Offenbarung Gottes an den Menschen zu beschreiben, an die Grenzen der sprachlichen und gedanklichen Möglichkeiten führt. Joh 14 stellt den Jüngern, welche der von Jesus vermittelten Gotteserkenntnis (Joh 14,7 9) Glauben schenken (Joh 14,10 14), den Geist in Aussicht, der ihnen nicht nur Erkenntnis, sondern auch Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn schenken wird (Joh 14,15 26). Diese Gemeinschaft (Joh 14,20) verwirklicht sich nach Joh 14, 23 in der Liebe. Ob sie sich damit schon in dieser Welt vollendet oder ob noch eine zukünftige und jenseitige Vollendung dieser Gemeinschaft zu erwarten ist (vgl. Joh 14,3), bleibt im Text in der Schwebe. Nach Joh 17,3 ist jedenfalls die Erkenntnis Gottes und Jesu Christi bereits das ewige Leben. Die in Joh 14f entwickelte Verbindung von Erkenntnis und Liebe wird in 1 Joh 4,7f aufgenommen und bekräftigt. Ein Problem der joh. Konzeption der Vermittlung von (Gottesgemeinschaft durch) Gotteserkenntnis wird erkennbar in Joh 2,3: Es führt zu der Frage, woran man erkennen kann, dass man Gott wirklich erkannt hat (die in Joh 2,4f mit der Erfüllung des Liebesgebots beantwortet wird). Die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen, die von den Verfassern als problematisch erachtet werden, gewinnt in den jüngeren Schriften des NT zunehmend an Bedeutung (1 Tim 6,20; Offb 2,24). Hier wird die Gefahr einer Dogmatisierung bestimmter Erkenntnis-Inhalte (an Stelle der Freisetzung lebendiger Erkenntnis-Prozesse) erkennbar. Dagegen wäre die (selbst)kritische Regel des Paulus zur Geltung zu bringen: Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen soll (1 Kor 8,2). I. I. Müllner, Erkenntnis im Gespräch, in: I. Fischer u. a. (Hg.), Auf den Spuren der schriftgelehrten Weisen, Berlin u. a. 2003,
173 Erlösung Erlösung ; A. Schellenberg, Erkenntnis als Problem, Fribourg u. a II. H. Hübner, Erkenntnis Gottes und Wirklichkeit Gottes, in: J. Kerkovsky, (Hg.), Epitoauto, Prag 1998, ; M. Theobald, Erkenntnis und Liebe, in: ders., Studien zum Römerbrief, Tübingen 2001, ; H. Weder, Glauben und Denken, in: J. Audretsch (Hg.), Die andere Hälfte der Wahrheit, München 1992, Thomas Krüger Erlösung (E.) ( Dachartikel: Soteriologie) Vorbemerkung: Der Begriff E. macht eigentlich nur dort Sinn, wo der Mensch unter einer unheilvollen Macht steht, aus deren Machtbereich er sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Er braucht dann einen Mächtigeren, einen Erlöser, der ihn befreit. I. AT: 1. Mit dem Begriff E. verbindet sich heute meist die Vorstellung von Heilsgewinn in einem rein geistl. Sinn. Im AT bezeichnen die entsprechenden hebr. Verben g{l ( auslösen, zurückkaufen ), pdh ( loskaufen, auslösen ) dagegen die Auslösung bzw. den Loskauf eines Menschen (z. B. aus Sklaverei oder von drohender Strafe). I. 2. Der Einzelne ist verpflichtet, seinen Nächsten beizustehen und sie aus Bedrängnis zu befreien. Der Auslöser des Blutes spielt im Sippenrecht (Blutrache) eine wichtige Rolle (vgl. z. B. Num 35; Dtn 19; Blut). Wo Menschen unter ihren Mitmenschen niemanden finden, der ihre E. bewirken kann oder will, sind sie ganz auf Gott als Erlöser angewiesen. Wenn aber der Auslösende kein Mensch, sondern Gott (bzw. sein Engel) ist, erhält E. eine neue Qualität. Das wird in Ijob 19,25 deutlich, wo der Leidgeprüfte bekennt: Ich weiß, dass mein Auslöser lebt! Dieses Wissen um Gott als Erlöser weist eindeutig in den Bereich der theol. Soteriologie hinein. Dies gilt auch, wenn Jhwh im Umfeld des Exodus als Auslöser Israels aus der Knechtschaft Ägyptens verstanden wird. E. in diesem theol. Sinne kann auch die Heimführung aus dem Exil sein (Jes 43,1; 48,20). Ein wichtiger Inhalt der E. ist die Vergebung von Schuld (vgl. z. B. Ps 19; 78; 103 u. a.). Dabei werden Schuld und Sünde als existentielle Unheilsmächte begriffen, die den Menschen unterdrücken und sein Leben bedrohen. Wenn also Schuldvergebung im Kontext von E. thematisiert wird, dann ist auch dabei der Aspekt der Befreiung und des Auslösens betont. So vollzieht sich E. im AT individuell oder kollektiv, aber fast immer wird das E.-Handeln Jhwhs als auf Israel beschränkt gedacht. Nachdem sich aber während und nach dem bab. Exil die monotheistische Bewegung durchsetzt, geraten verstärkt die anderen Völker in den Blick. Als universaler König der Welt ( Gottesbilder) muss Jhwh auch mit ihnen zu tun haben. Die damit aufbrechende Frage nach der E. der Heiden wird u. a. mit der Vorstellung von der endzeitlichen Völkerwallfahrt bearbeitet. Damit ist die Erwartung verbunden, dass auch die anderen Völker sich in der Endzeit zum Gott Israels bekehren und zur Anbetung zum Zion pilgern (Jes 60,1 16; 66,18 24). II. NT: 1. In den ntl. Schriften ist im Bereich der Soteriologie auch die alte Vorstellung des Auslösens (griech. l4trvsiw, Auslösung, E. ) wieder zu finden, wenn etwa in Mk 10,45 gesagt wird, dass der Menschensohn sein Leben als Lösegeld für die Vielen hingibt. Das Verständnis von E. als Auslösung findet sich ähnlich an anderen Stellen (z. B. Lk 1,68; 2,38; 24,21; Röm 3,24; 8,23; Eph 1,7.14; 4,30; Kol 1,14; Hebr 9,15; 11,35; 1 Tim 2,5). Hier geht es dann um Befreiung aus der Unterdrückung durch existentielle Unheilsmacht und/oder Rettung vor verdienter Strafe. II. 2. Bes. in der pln. Soteriologie wird E. mit der Vergebung von Sündenschuld ( Rechtfertigung) gekoppelt. Dabei versteht Paulus Schuld/ Sünde als herrscherliche Macht, die den Menschen versklavt, bisweilen fast schon personhafte Züge trägt und zum Gegenüber Gottes wird. So werden in Röm 6,12 23 zwei Existenzweisen einander alternativ gegenübergestellt: zum einen das Leben unter der Knechtschaft der Sünde, das zum Tod führt, und zum anderen das Leben im Dienst Gottes, das zu Gerechtigkeit und ewigem Leben führt. Zwischen diesen beiden Existenzmöglichkeiten muss der Mensch sich entscheiden. Eröffnet wird diese Entscheidungsmöglichkeit durch das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus, das ein neues Leben überhaupt erst möglich macht. E. durch Tod und Auferstehung Jesu ist in diesem Kontext dann pri-
174 Ermahnung / Paränese / Predigt 162 mär Befreiung aus der Knechtschaft der Sündenmacht und der mit ihr verbundenen Unheilsmacht des Todes. In diesem Umfeld kann der Tod Jesu am Kreuz als Auslösung oder Lösegeld gedeutet und auch mit der sühnenden Wirkung des Opferkultes ( Sühne, Versöhnung) in Verbindung gesetzt werden (Röm 3,25; vgl. auch Hebr 9,12). I. H. Groß, Bei ihm ist Erlösung in Fülle : BiKi 42 (1987) ; B. Janowski, Auslösung des verwirkten Lebens: ZThK 79 (1982) II. H. Baarlink, Jesu Leben, ein Lösegeld für viele (Mk 10,45), in: ders., Verkündigtes Heil, Tübingen 2004, ; G. Dautzenberg, Reich Gottes und Erlösung, in: I. Broer/J. Werbick (Hg.), Auf Hoffnung hin sind wir erlöst (Röm 8,24), Stuttgart 1987, 43 66; H. Merklein, Paulus und die Sünde, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament, Freiburg u. a. 1996, Joachim Kügler Ermahnung (E.) / Paränese (P.) / Predigt ( Dachartikel: Ethik) Vorbemerkung: E., P. und Predigt sind hinsichtlich des Inhaltlichen sowie der sprachlichen Vermittlung ethischer Anforderungen eng miteinander verbunden, formal aber unterschiedlich definiert. E. ist dabei der umfassende Begriff, da er Inhalt und Ziel ohne formale Begrenzung bezeichnet, P. benennt dagegen eine hell. Redeform, in der durch Ratschläge, Beispiele und Verweise auf eine gute Praxis die Rezipienten, die sich in einer Entscheidungssituation befinden, zu einer ethisch verantwortlichen Lebensführung angehalten werden sollen. Methodisch ergibt sich daraus das Problem, ob man dann schon für atl. Schriften von P. sprechen kann, obwohl offensichtlich ist, dass das Gemeinte auch hier zu finden ist, wenn auch die geprägte Form selbst fehlt. So ist die Verlesung des Gesetzes (Dtn 31,9 13) ein Akt der P., insofern sie mit dem Ziel geschieht, die Zuhörenden zum Halten der Weisung Gottes zu bewegen. Ähnliches gilt für die Predigt, die insbes. ntl. eine Affinität zu der Verkündigung hat, also der Versprachlichung von Glaubenserfahrung und Glaubensinhalten. Weiterhin ist sie Explikation des Schriftwortes (Neh 8,1 8; Lk 4,16 30; Apg Ermahnung / Paränese / Predigt 2,14 40), die mit einer E. einhergehen kann. Hermeneutisch wird das methodische Problem noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass die gesamte Schrift eine je neue Praxis zu Gott und seinem Wort hin einüben will, in diesem Sinne auch immer E. ist. I. AT: 1. Im AT ist der Begriff P. zwar nicht belegt, aber Verben wie j}r ( raten, Rat geben; beschließen ) können auch ermahnende Konnotationen tragen. I. 2. Bezeichnenderweise sind in der Rezeptionsgeschichte des hell. Judentums Personen wie Abraham, Josua und Mose als Mahner des Volkes interpretiert worden (Philo von Alexandrien). Die Tatsache, dass es paränetische Pss. gibt (Ps 50; 81), lässt annehmen, dass im Kult institutionalisierte E. stattfanden, die von Priestern wahrgenommen wurden; in nachexilischen Texten geschah dies in einer Volksversammlung (Dtn 4,39 40). In der Weisheitslit. ( Weisheit), die z. T. an der Schule zu verorten ist, spielt die E. eine bedeutende Rolle (Spr 1,1 6), da sie zu Ausbildung und Erziehung beiträgt; hier gerät auch der Alltag in den Blick (Sir 31). Die Verschriftlichung und Tradierung solcher weisheitlichen E. trägt zur Entwicklung sozialer Verhaltensnormen bei, wenn bisweilen auch der Schritt zur Ratgeberlit. getan wird (Sir 42,9 14). Die prophetische Rede beinhaltet notwendigerweise E. Die E. kann an einen einzelnen gehen (1 Sam 13,13f; 2 Sam 12,1 11), an bestimmte Gruppen oder an das ganze Volk (Jes 1,10 17; 58; Jer 3,6 13; 29; Mal 3). II. NT: 1. Im NT können die Begriffe par/klhsiw ( Mahnung, E., Zuspruch, Trost ), Bko1 ( Hören, Kunde, Predigt ) und selbst der Begriff l3gow (u. a. auch Predigt ) ermahnenden und homiletischen Charakter haben. II. 2. In der Tradition prophetischer E. sind auch Johannes der Täufer (Lk 3,10 14) und Jesus von Nazaret (Mt 5 7par.) zu verorten; hier ist auch die Kennzeichnung der E. als Predigt möglich. Die eschatologische Grundausrichtung bedarf der E. wegen des nahen Endes (Mk 1,4.14f) und der damit gegebenen Krisensituation. Nachösterlich wird Jesus selbst zu einem Vorbild, das es in der Nachfolge nachzuahmen gilt (Mk 8,34 par.). Ntl. E. ist binnenkirchlich ausgerichtet; sie gilt denen, die das Ev. angenommen haben, um
175 Erstgeburt / Erbe 163 sie in das Leben in der neuen Gemeinschaft einzuführen (1 Tim 3,15). Die E. gehört an den Anfang des Gläubigwerdens, mithin in die Predigt des Ev. (1 Thess 4,1f), kann aber stetig erneuert werden unter ausdrücklicher Erinnerung an das frühere, jetzt negativ bewertete Leben (1 Petr 4,3). Einen Katechismus des Urchristentums wird man aus den paränetischen Stücken des NT nicht herausfiltern können, gleichwohl bieten sie eine breite Information über die Verschränkung von Glaubensinhalten und Glaubenspraxis (1 2 Kor; Phil 1f). Im NT begegnet die E. in zahlreichen Formen: Gleichnisse, Beispielerzählungen (Lk 10,30 35; 15,11 32), Tugendund Lasterkataloge (Gal 5,19 23), Haustafeln (Kol 3,18 41). Weisheitliche P. findet sich in Jak, während Phlm als E. im Spezialfall der Sklavenhaltung gelten kann ( Sklave). Wenn sich insbes. im NT Elemente einer Popularethik finden (Röm 13), so ist die Begründung der E. theol. bzw. christologisch fundiert. Zentral ist für die E. die erinnernde Vergegenwärtigung des Handelns Gottes, die den Anspruch auf Treue zu Gott und dem Bund begründen kann, sodass ethische E. Explikation dieses Heilsgeschehens ist; die theozentrische Dimension fehlt daher auch bei sozialen Forderungen nicht, sondern verleiht ihnen bes. Gewicht, da in dem Verhalten zum Menschen die Beziehung zu Gott offengelegt wird. Die prophetische E. des AT argumentiert häufig mit dem Kontrastmodell, das aufgrund des Heilshandelns Gottes das vorbefindliche unsoziale Verhalten aufdeckt und kritisiert (Am 2,5 11; Hos 4,4 10; Mal 2,10; Neh 9); die Erinnerung dient zu einer Umkehrung der Praxis. Das pln. Motiv der E., dass aus dem Indikativ des Heils der Imperativ des angemessenen Handelns folgert (Gal 5,25), hat in der prophetischen E. ihre Vorformung. Die ntl. E. deutet die Praxis nach der Taufe als eine in Christus. Diese Positionierung ist die Leitlinie des geforderten Tuns ( Ethik), das glaubhaft und erfahrbar die neue Existenz bezeugen soll. Von dieser Anforderung ist kein Bereich menschlichen Lebens ausgenommen (1 Thess 4,1 8), zumal die Praxis auch eine starke Außenwirksamkeit hatte (1 Petr 2,12 17; 3,1f.14 16). Die ntl. E. zielt demnach nicht auf eine ethische Praxis an sich, sondern sieht ihr Ziel in einem Leben, in dem die Glaubenden aus der Nachahmung Christi ihm immer mehr gleichwerdend mit ihm vereint werden (Röm 6,2 10; 15,7; Eph 5, ; Kol 3,13). Ntl. E. hat somit ihren Grund und ihr Ziel in Jesus Christus. I. K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese, Tübingen 1987; W. Richter, Recht und Ethos, München 1966; K. A. Tångberg, Die prophetische Mahnrede, Göttingen 1987; G. Warmuth, Das Mahnwort, Frankfurt/M. 1976; C. Westermann, Mahnung, Warnung und Geschichte, in: ders., Das mündliche Wort, Stuttgart 1996, II. H. von Lips, Der Gedanke des Vorbilds im Neuen Testament: EvTh 58 (1998) ; W. Popkes, Paränese und Neues Testament, Stuttgart 1996; J. Woyke, Die neutestamentlichen Haustafeln, Stuttgart Rainer Kampling Erstgeburt (E.) / Erbe ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Erstgeburt / Erbe I. AT: 1. Die Erstgeburt, hebr. b e kor, ist generell das Erste (Mensch oder Tier), das den Mutterschoß öffnet und Jhwh geweiht ist (Ex 13,2). Doch gilt in Bezug auf menschlichen Nachwuchs eigentlich nur der erste Sohn einer Frau (Ex 11,5) oder öfter Mannes (Gen 49,3; Dtn 21,17) als E. oder Erstling (rešit). Auch die ersten landwirtschaftlichen Produkte eines Jahres, die sog. Erstlinge (bikkur), wurden als etwas Besonderes betrachtet und Jhwh zugeeignet ( Abgabe). Da normalerweise der erstgeborene Sohn erbt, gibt es im Hebr. keinen eigenen Begriff für den Erben, während das Erbe durch nag a la oder gelæq ausgedrückt wird. Ersteres bezeichnet den unveräußerlichen Besitzanteil (vor allem Boden), der jemandem übertragen wird. Letzteres meint allgemein den zugeteilten Anteil. I. 2. Die E. der Tiere ist Jhwh geweiht. Sie ist zu opfern (Ex 34,20; 13,12; Opfer), kann jedoch durch eine entsprechende Zahlung ausgelöst werden (Num 18,15ff). Der Anspruch Jhwhs auf alle E. wird in Ex 22,28 nicht begründet, in Ex 13,14ff sekundär auf die Tötung der äg. Erstgeburt zurückgeführt. Die theoretisch Jhwh zu opfernde menschliche E. kann nach Ex 13,13.15 ausgelöst werden. Nach Num 3,9.40ff; 8,16 ersetzen die Leviten die E. der Israeliten, die Jhwh zusteht, sodass die Dedikation des Erstgeborenen an ein Heilig-
176 164 tum (und der Freikauf durch Geld; Tempel) möglich ist. Das erste männliche Kind war im AT wie im gesamten Vorderen Orient der Drehund Angelpunkt der Erbschaftsregelungen wie der Garant der Aufrechterhaltung der genealogischen Kontinuität. Seine Bevorzugung in der Erbregelung bzw. das Erstgeburtsrecht findet sich nicht nur im AT, sondern auch in den entsprechenden Bestimmungen des Codex Hammurapi u. a. Gesetzessammlungen des AO. Dem Erstgeborenen galten der väterliche Segen und der doppelte Anteil (Gen 27,4; Dtn 21,15ff). Innerhalb der Familie hatte er nach den Eltern die höchste hierarchische Position im Haus inne. In den patriarchalen Gesellschaften des Mittelmeerraums fällt ihm nach dem Tod des Vaters der Familienvorstand zu. Das Erbe ging, so es schriftlich vom Verstorbenen nicht anders geregelt worden war, zunächst an die Witwe (Rut 4,3.5.9; 2 Kön 4,2), danach an den erwachsenen erstgeborenen Sohn. Töchter hatten lebenslänglich Anrecht auf die Versorgung aus dem Familienerbe. Im Fall einer Ehe erhielten sie ihren Erbteil als Mitgift ausgezahlt (Gen 31,15), bei Scheidung oder Witwenschaft brachten sie, wenn sie wieder ins Elternhaus zogen, denselben nach Hause zurück. Schenkungen von Häusern oder Grundbesitz an Töchter waren Zeichen großen Reichtums (Ri 1,12ff; 1 Kön 9,16; Ijob 42,15). Die Enterbung der leiblichen Kinder war schwerlich möglich. Während in Mesopotamien die unzureichende Versorgung der Eltern durch die Kinder Hauptgrund dafür war, sieht Dtn 21,18ff; Ex 21,15 17 dafür gleich die Steinigung vor. Sonderbestimmungen waren nötig, wenn die erbliche Eigentumsübertragung bes. Fälle berücksichtigen musste, in denen es keine Söhne gab (Töchter erben, Num 27,1ff), Adoptionen stattfanden (Gen 48,9ff) oder illegitime Kinder vorhanden waren (Ri 11,1ff). I. 3. Im übertragenen Sinn konnten auch ein König (Ps 2,8) oder Jhwh ein Volk (Dtn 4,20; Jer 10,16; 1 Kön 8,51) als nag a la haben, woraus sich ein bes. und hierarchisch strukturiertes Verhältnis zwischen den Beteiligten ergab. Israel als Erbanteil Jhwhs wird atl. mit verschiedenen Ursprungsmythen erklärt, die die Konstitution dieser Beziehung an den Anfang der Heilsgeschichte setzen: So dient als Begründung, dass Erstgeburt / Erbe Jhwh Israel aus Ägypten geführt habe (so in der dtn.-dtr. Lit., s. Dtn 4,20; 1 Kön 8,51), Israel von Jhwh erwählt worden (Ps 33,12) oder Israel Jhwh in einer uranfänglichen Götterversammlung unter Eljon als Erbbesitz zugeteilt worden sei (Dtn 32,8f). Theol. Bedeutung gewinnt der Begriff nag a la vor allem durch seinen Gebrauch in den priesterschriftlichen und dtn. Schriften, in denen er den Landbesitz Israels bezeichnet, der dem Gottesvolk von Jhwh verheißen und als Erbe gegeben worden sei (Gen bis Jos). Für P und Ez ist der Erbbesitz Land den Stämmen (Ausnahme: Levi, Num 18,20ff; 26,62) und Sippen durch das Los zugeteilt worden (Num 26,52 56; 33,50 34,29; Ez 45,1). Das Dtn bezeichnet das Land als Erbbesitz des Gottesvolks, das diesem (Dtn 4,21.38; 12,9; 26,1) allein durch die Zusage und Garantie Jhwhs gegeben ist und als Strafe entzogen werden kann. Hintergrund dieser Vorstellung ist der Gedanke, dass das Land an sich Eigentum Jhwhs ist (Jer 2,7; 12,7 9; 16,18; Ps 68,10), das dieser an Israel als Lehen gab. Im Fall der Veruntreuung des Lehens steht es dem Lehensherrn zu, den Lehensnehmer vom Lehen zu vertreiben. II. NT: 1. Erbe: Obwohl erbrechtliche Termini wie klhronomeyn ( erben ), klhronom2a ( das Erbe ), klhron3mow ( der Erbe ), klvrow ( Erbteil ), szgklhron3moi ( Miterben, immer Pl.) und diau1kh ( letztwillige Verfügung, Testament ) im NT häufig sind, spielen reale Erbrechtsfragen eine untergeordnete Rolle. Jesus soll es laut Lk 12,13f abgelehnt haben, die an ihn als Rabbi herangetragene Rolle eines Vermittlers in Erbstreitigkeiten wahrzunehmen. Er verwendet jedoch zwei typische Fälle in seinen Gleichnissen: Ein jüngerer Sohn lässt sich noch zu Lebzeiten des Vaters seinen Erbteil auszahlen und verlässt den Hof (Lk 15,12). Pächter beschließen, den einzigen Sohn und Erben des abwesenden Weinbergbesitzers umzubringen in der Hoffnung, sich den Besitz selbst aneignen zu können (Mk 12,7). Ansonsten ist der gesamte Vorstellungskomplex des Erbes im NT theol. gefüllt (Gal 3,15; 4,1; Hebr 9,16f unterbauen die Argumentation durch Rekurs auf zeitgenössisches Erbrecht); die atl. Verheißung des Erbes wird auf die eschatologischen Heilsgüter bezogen, wobei sich in der jesuanischen Parallelisierung vom Erben der Erde
177 Erwählung Erwählung 165 und dem Besitzen des Reiches Gottes (Mt 5,3.5; Herrschaft) noch deutlich die Kontinuität zur atl. Landverheißung zeigt. Neben das Reich Gottes (Mt 25,34; 1 Kor 6,9f; 15,50; Eph 5,5; Jak 2,5) treten als Inhalt dessen, was die Glaubenden erben, das ewige Leben (Mt 19,29; Mk 10,17), die Verheißungen (Hebr 6,12.17; 9,15), der Segen (1 Petr 3,9; Hebr 12,17), das Heil (Hebr 1,14), die Unvergänglichkeit (1 Kor 15,50). Auch das Erbe selbst kann als Heilsgut genannt werden (Kol 3,24). Generell bringt die Metapher des zum Erben eingesetzt Seins/Werdens den für ntl. Eschatologie wichtigen Aspekt der Verbindung noch ausstehender und schon in Geltung stehender Heilsaspekte treffend zum Ausdruck. Anteilhabe am Erbe wird durch das Christusgeschehen vermittelt. Als Sohn Gottes ist Christus der Erbe par excellence (Hebr 1,2.4). Zu Miterben Christi (Röm 8,17) werden die Gläubigen durch den Glauben und symbolisches Mitsterben mit Christus in der Taufe, die sie zu Kindern Gottes und Erben macht (Gal 3,26 29; 4,6 7), wobei der Geistbesitz die Kindschaft bezeugt (Röm 8,14 16) und als Anzahlung die spätere vollständige Auszahlung des Erbes garantiert (Eph 1,11 14). Die Einbeziehung der nicht auf die Forderungen der Tora verpflichteten Heiden als Erbberechtigte der Abrahamsverheißung durch den Glauben an Christus ist Thema von Röm 4,1 25; Gal 3,6 4, Hebr 9,15 17 spielt mit den zwei Bedeutungen des Wortes diau1kh: Der Sühnetod Christi ist, da ein Testament (Standardbedeutung von diau1kh) immer den Tod des Erblassers voraussetzt, die notwendige Bedingung der Inkraftsetzung des Neuen Bundes (diau1kh als LXX- Übersetzung von hebr. b e rit), der es den Berufenen ermöglicht, die Verheißung, nämlich das ewige Erbe, zu erlangen. II. 2. Erstgeburt: In eigentlicher Bedeutung begegnet der Erstgeborene (prvt3tokow) nur in der Geburtsgeschichte Jesu (Lk 2,7). Als Erstgeborener ist Jesus Gott geweiht (Ex 13, ; Lk 2,23), christologische Obertöne legen sich aufgrund des davidischen Kolorits nahe (Lk 1,32 33; 2,1 5). Ansonsten ist singularisches prvt3tokow immer christologischer Titel ( Jesus Christus), der das bes. Sohnesverhältnis Jesu zu Gott beschreibt, wobei der Aspekt der leiblichen Abstammung/ Geburt wie schon in der jüd. Tradition keine Rolle mehr spielt. prvt3tokow wird dort zur Beschreibung des Verhältnisses des Volkes zu Gott, seinem Vater, eingesetzt in Ex 4,22; in PsSal 13,9; 18,4; 4Esr 6,58 59 steht Erstgeborener synonym zu Einziger, Auserwählter und Geliebter für Israel; in Ps 89,27f ist erstgeborener Sohn Gottes Würdetitel des Königs. Kol 1,18 und Offb 1,5 kennzeichnen den auferstandenen Christus als Erstgeborenen der (bzw. aus den) Toten und damit als Beginn der neuen erlösten Menschheit, die nach Röm 8,29 dem Bild des Sohnes gleich gestaltet werden wird, sodass der Auferstandene als Erstgeborener unter vielen Brüdern (und Schwestern) gelten kann. In Aufnahme weisheitlicher Traditionen nennt Kol 1,15 Christus den Erstgeborenen aller Schöpfung, was ihn als Schöpfungsmittler charakterisiert (Kol 1,16f; vgl. Hebr 1,2.6). Neben dem absolut gebrauchten Titel Erstgeborener für Christus (Hebr 1,6) bezeichnet Hebr 12,23 in Übernahme traditioneller Gottesvolktitulatur in einer Vision der eschatologischen Himmelsliturgie auch die Gemeinde als Gemeinde der Erstgeborenen, aufgeschrieben in den Himmeln. Entsprechend kann Esau, der sein Erstgeburtsrecht (prvtot3kia) verspielte, als warnendes Vorbild in der Paränese fungieren (Hebr 12,16). I. F. W. Golka, BECHORAH und BERACHAH: Erstgeburtsrecht und Segen, in: S. Beyerle/G. Mayer u. a. (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1999, ; H. Seebass, Zur juristischen und sozialgeschichtlichen Bedeutung des Töchtererbrechts nach Num 27,1 11 und 36,1 12: BN 102 (2000) II. E. Ellwein, Heilsgegenwart und Heilszukunft im NT, München 1964; J. D. Hester, Paul s Concept of Inheritance, Edinburgh 1968; H. Langkammer, Den er zum Erben von allem eingesetzt hat (Hebr 1,2): BZ 10 (1966) Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Erwählung (E.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) I. AT: 1. E. kann im AT mit den Verben bgr erwählen als spezieller terminus technicus, daneben mit jd} erkennen, qr{ rufen oder bdl Hifil aussondern ausgedrückt werden. I. 2. Das AT, bes. aber Dtn und die dtn. beeinfluss-
178 166 te Lit., ist von der Überzeugung durchzogen, dass das Volk Israel insgesamt (darauf bezieht sich die Mehrheit der Belege; vgl. Lev 20,26; Dtn 7) sowie bestimmte Institutionen (z. B. das Königtum wie in Dtn 17,15; 1 Sam 10,17 27; Ps 2,7; 2 Sam 16,18; König oder das Priestertum wie in Dtn 18,1 8; Priester) von Gott erwählt sind. Darüber hinaus können einzelne Gruppen oder Personen ( Propheten; Abraham in Neh 9,7f; vgl. auch Ps 78,65 72) für bestimmte Aufgaben von Gott erwählt sein. Zuweilen gelten bes. hist. Ereignisse als Schauplatz der E. (z. B. die Herausführung aus Ägypten Am 3,1f; 9,7 10; Exodus oder die Wüstenzeit in Hos 11,1 11). Auch Jerusalem und der Zion gelten als von Gott als Wohnstatt und Kultort erwählt (Dtn 12,4 32; 1 Kön 11,32.36; Ps 78,68f; 132,13 18; 2 Chr 6,6; Kult). Interessanterweise kann das AT umgekehrt auch davon reden, dass der Mensch seine Götter erwählt (Jos 1,24; Ri 5,8; 10,14; Jes 1,29), oft genug in polemischen oder warnenden Zusammenhängen (Jes 66,3; Ps 16). Die E. bedeutet stets die Heraussonderung des Erwählten, etwa aus den Völkern, Menschen oder Göttern, und konstituiert ein bes. enges Schutz- und Verpflichtungsverhältnis zu Gott (Num 16,1 7; Dtn 14,1f; Am 3,1f; Bund). Bes. das Dtn betont, dass Gott bei seinem Erwählungshandeln keine menschlichen Vorzüge oder Voraussetzungen berücksichtigt, sondern den Erwählten gerade zu dem macht, was er sein soll und mit den Gaben ausstattet, die er zur Erfüllung seiner Aufgabe benötigt (bes. deutlich in Dtn 7,6 11; Jer 1,4 10; Jes 42,1 9; Ex 2,23 4,17; Ps 106,23). Bezeichnend ist, dass zentrale Erwählungsaussagen immer wieder im Kontext von Paränesen ( Ermahnung) begegnen (Dtn 7,6 8; 10,12). Dadurch wird deutlich, dass Menschen auf der von Gott gestifteten Grundlage heilvoller Zuwendung zum Tun des Rechten befähigt und motiviert werden (vgl. in Ps 119, das Erwählen des Weges der Wahrheit oder bestimmter Ordnungen). Texte wie 1 Sam 15,23; Ps 78,67; 89,39f; Am 9,7 10 lassen zugleich erkennen, dass Gott seine auf die E. gründende heilvolle Zuwendung durchaus als Reaktion auf bestimmtes, der E. nicht entsprechendes Verhalten (Ungehorsam, Fremdkult) revozieren kann. Verwerfung (m{s), Unheil und Gericht ( End-Gericht) sind die Folge, wobei Erwählung betont wird, dass vorübergehender göttlicher Zorn am grundsätzlichen Fortbestehen des Bundes mit Israel nicht rüttelt, sondern dass das Gericht die Hoffnung auf dessen baldige Wendung offen hält (z. B. Hos 2, als kontrastierende Fortschreibung von Hos 1,2 9; Ps 105). Insofern ist die Erwählungsgewissheit Israels Quelle der Hoffnung in trostloser Zeit und motiviert in den späteren Traditionen insbes. die Gewissheit, dass Gott die Institutionen wieder aufrichten wird, die er in der Vergangenheit durch E. eingesetzt hat (Am 9,11 15). I. 3. Der Hintergrund und die Traditionsgesch. atl. Erwählungsvorstellungen sind höchst komplex. Im AO und Alten Israel/Juda war der König bzw. die herrschende Dynastie Objekt göttlicher E. (Ps 2; 110), insbes. bei Dynastie-Wechseln (Sethnacht) oder umstrittener Thronfolge (Assarhaddon). Insofern sind Erwählungsaussagen zumindest für Saul, David, Jerobeam I., Bascha, Jehu, Menahem, Pekachja, Pekach und Hosea zu postulieren, auch wenn sie sich gar nicht oder nur in stark veränderter Form in vorliegenden Texten erhalten haben. Für die letzten drei Könige Israels sind sie aus Hos 8,4 (vgl. auch 7,3 7; 10,3) zu erschließen. Nach dem Untergang der Staaten Israel und Juda war die E. eines (davididischen) Thronprätendenten die eine Denkmöglichkeit (Hag 2,23; Sach 4,1 14; 6,11 15*; 9,9 10?), die Ablösung der E. des Königs bzw. der Dynastie durch die E. Israels bzw. (einer) seiner Väter (Jes 14,1; 41,8; 44,1; Ez 20,5; Ps 135,4) die andere, ganz analog zur Demokratisierung des (ass. und altaram. belegten) Heilsorakels für einen König in Jes 40 48, das nun Israel insgesamt zugesprochen wird. Die Beobachtung, dass Elemente und Motive der ao. und äg. Königsideologie, die dem König vorbehalten waren, auf das Kollektiv des Volkes oder später auf jedes Individuum übertragen werden, lässt sich im AT häufig machen. Eine dritte exil.-nachexil. Denkrichtung, die man als dtr.-theokratisch bezeichnen könnte, löst den König als Lenker der Geschicke Israels durch den Propheten ab (vgl. Jer 1,4f mit starken Anklängen an Erwählungsaussagen Assarhaddons im Zusammenhang mit Dtn 18,14 19, präfiguriert durch Hos 12). Die prophetischen Berufungsberichte legitimieren die nachexil. Prophe-
179 Erwählung 167 tenbücher; die Propheten und Prophetinnen, die einmal real existiert haben, waren durch ihre gesellschaftlich anerkannte prophetische Begabung hinreichend ausgewiesen. Entpolitisiert, herrschaftsfrei und damit implizit herrschaftskritisch ist die E. Abrahams/Israels in der P (Gen 17), insofern Israel hier zum Volk wird, in dessen Mitte und in dessen Land der Gott aller Welt in der Welt eine Wohnung beziehen will. P hat das Problem von Partikularismus und Universalismus Gottes gelöst, bevor die Frage explizit gestellt wurde. Diese Erwählungsvorstellung verlässt die Tradition ao. polit. Theol. und orientiert sich stattdessen an der ao. Kult- Theol. ( Kult), nach der ein Gott nur selbst bestimmen kann, wo, wann und in welcher Form er auf Erden ansprechbar ist (vgl. Ex 25 31; als Ätiologie des zweiten Tempels; die theol. Begründung des salomonischen Tempels liefert bezeichnenderweise erst Dtn 12). II. NT: 1. E. wird im NT mit dem Verb Ekl0gomai ausgedrückt, in der Apg selten auch mit proxeir2yomai (Apg 3,20; 22,14; 26,16). Das in der LXX häufige awret2yv findet sich im NT nur in dem LXX-Zitat von Jes 42,1 in Mt 12,18. II. 2. Auch für ntl. Autoren gelten Israels Erzeltern als erwählt (Eklekto2, vgl. Apg 13,17; Röm 9,10 13 interpretiert die E. als Beweis der Gabe der Verheißung ohne Werke). Die königlichen Erwählungstraditionen des AT werden vor allem im Kontext der ntl. Christologie aufgegriffen. Man kann Mk 1,11 (im Kontext von Jes 42,1; Ps 2,6f) in der Tat als (königliche) E. Jesu verstehen, muss aber im gesamtbibl. Kontext betonen, dass erstens das Reich des Königs Jesus Christus im Kontrast zu irdischer Herrschaft steht und dass schon bei Mt und Lk die Berufungs-Christologie (dieser Ausdruck ist dem atl. Hintergrund bei Mk angemessener als der Begriff der Adoptions-Christologie ) durch die Inkarnations-Christologie abgelöst wird. Dass der Jesus der Evv. seinerseits Apostel beruft, geht auf die schon bei Paulus nachweisbare Gleichsetzung der ntl. Apostel mit den atl. Propheten zurück (vgl. 1 Kor 1,1; Gal 1, mit Jer 1,4f; weiter Lk 11,49; Eph 2,20; 3,5; 2 Petr 3,2; Offb 18,20). Die E. Jesu zum Lamm ohne Fehl und Tadel bereits vor der Erschaffung der Welt (1 Petr 1,10) setzt ähnlich wie die Rede von der Schöpfungsmittlerschaft Jesu ein soteriologisches Vorzeichen vor Welt und Geschichte (vgl. 1 Kor 2,7, wo Christus als Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung bezeichnet wird, und Kol 1,26; Eph 3,9 11). II. 3. Die Christen gelten per se als Auserwählte Gottes (Mk 13,20 22; Lk 18,7; Röm 8,33; 1 Kor 1,2; 1 Thess 1,4; Eph 1,4 schon vor der Erschaffung der Welt ; 2 Tim 2,10). Die Paradoxie göttlicher E. kommt ganz im Sinne von Dtn 7,6f dadurch zum Ausdruck, dass Gott das erwählt, was in den Augen der Welt nichts gilt, was klein und schwach ist (in Mt 5,3f; 1 Kor 1,26 29; Jak 2,5 die Gemeinde; in 1 Kor 4,9 13; 2 Kor 12,9 Paulus). Die Gemeinde kann bestimmte Mitglieder zu bes. Diensten wählen (Offb 6,5; 15,22.25), andererseits empfiehlt Paulus den Christen, ihren Stand nicht zu verlassen, in den sie berufen worden sind (1 Kor 7,17 24; Amt). Wie im AT so impliziert die Rede von Berufung und E. auch im NT zugleich immer die Möglichkeit der Ablehnung als negative Seite; die Spannung zwischen Berufung (Wille Gottes) und tatsächlichem Gehorsam ( Wille des Menschen) wird durch den Gedanken der E. kompensiert (Mt 22,14): Wer der Berufung folgt, war eigentlich schon erwählt und dokumentiert dies lediglich durch seinen Gehorsam (Röm 8,28 30). Dass niemand zu Gott kommen kann, dem es Gott bzw. sein Christus nicht zuvor schon gegeben haben, wird bes. in Joh betont (Joh 6, ; 15,16; 17). Umgekehrt kann fortgesetzter Widerstand gegen Gottes Ruf als Resultat von vorausgegangener Verstockung interpretiert werden (Mk 4,10 12; Joh 12,39f; Apg 28,26f jeweils unter Aufnahme von Jes 6,9f). Bes. scharf wird in Joh 8,43 47 die Ablehnung Jesu kommentiert: Die Juden verstehen Jesus nicht, weil sie nicht aus Gott sind, sondern den Teufel zum Vater haben. Die Rede von Verstockung und E. ermöglicht es ntl. Autoren, an der Freiheit und Souveränität göttlichen Handelns festzuhalten und sie mit der Rätselhaftigkeit menschlichen Ungehorsams theol. zusammen zu denken. Diese Spannung findet ihren Höhepunkt in der Figur des Judas, der als Verräter Christi schuldig wird und dennoch Gottes Werkzeug ist (Joh 6,70f; 13,18). Dass dabei der Gedanke menschlicher
180 168 Freiheit mit der Souveränität Gottes offen zu kollidieren und diesen zu eliminieren droht, lag weniger in der Fluchtlinie ntl. Denkens (vgl. aber Röm 7,14 25), sondern begegnet in aller Schärfe in ihrer späteren konzeptionellen Durchdringung in Auseinandersetzung mit dem antik-philos. Freiheitsgedanken (Prädestinationslehre, Pelagius, Augustin, Luther). Festzuhalten ist in jedem Falle der pln. Gedanke, dass Gottes Treue durch menschlichen Ungehorsam nicht hinfällt, der Heilswille Gottes also über die strafende Gerechtigkeit triumphiert (Röm 9 11). Bibl. Aussagen, die die Prädestination betonen, dürfen nicht verobjektiviert oder einfach neutral konstatiert werden, sondern sie haben letztlich doxologischen Charakter, indem sie die freie Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen preisen (Röm 11,33 36; Vorsehung). I. S. Ben-Chorin, Die Erwählung Israels, München 1993; A. Labahn, Die Erwählung Israels in exilischer und nachexilischer Zeit: EThL 75 (1999) II. G. Röhser, Prädestination und Verstockung, Tübingen 1994; R. Kühschelm, Verstockung, Gericht und Heil, Frankfurt/M Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Erziehung / Schule (E./S.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Erziehung / Schule I. AT: 1. Das Wortfeld lmd ( lernen Qal; lehren Piel) bezeichnet den Lern- und Lehrvorgang von Mensch und Tier. Demgegenüber setzt jrh Hifil ( unterweisen ) die sprachliche Kommunikation voraus. Das davon abgeleitete tora bezeichnet den Unterricht und die Weisung. Bei jsr und musar steht der Aspekt der Züchtigung und Zurechtweisung im Vordergrund. Ein Wort für S. kennt das Hebr. nur in Sir 51,23 (bet hammidraš = Lehrhaus ). I. 2. E. war Sache der Eltern, der S. und (im theol. Sprachgebrauch) Sache Gottes. Die Eltern (Spr 1,8; 4,2) unterrichteten die Kinder geschlechtsspezifisch; die Jungen wurden auf die Übernahme des Berufs des Vaters, die Mädchen auf die Aufgaben als Ehefrau und Mutter ( Ehe) vorbereitet, wobei der soziale Status der Erziehung / Schule Familie Einfluss auf die Lerninhalte hatte ( Sozialstatus). Handwerkliches, agrartechnisches oder hausfrauliches Können wurde vorgeführt und durch Nachahmung erlernt. Der Vater als Hausvorstand unterrichtete die Regeln zur gelingenden sozialen, ethischen und rel. Lebensführung (mit der Zielsetzung der gesellschaftlichen Konformität, vgl. Dtn 6,20ff). Höfisches Wissen erlernten die Heranwachsenden der Oberschicht vom Weisheitslehrer (Spr 1,2ff; 13,14), der seinen Schüler als mein Sohn anredete. Zum Schüler ( Apostel) eines Propheten wurde man erst im Erwachsenenalter und durch dessen Einladung (2 Kön 2,3ff; Jes 8,16). 1 Sam 2,11; 2 Kön 12,3 bezeugen, dass Priesternachwuchs (bzw. ein als solcher getarnter Kronprinz) vom Priester unterwiesen wurde. I. 3. S. sind im AO und in Ägypten seit dem 3. Jt. v. Chr. nachgewiesen und bestanden in ihrer traditionellen Form bis in die hell. Zeit. Sie waren Teil des Schreiberwesens (und so mit Tempel oder Palast verbunden) und der Ort, an dem Heranwachsenden Bildungswissen (Schreiben, Lesen, Rechnen) und die kulturellen, lit., institutionellen, ethischen und rel. Grundlagen ihrer Gesellschaft (gestaffelt nach Curricula für Anfänger, Fortgeschrittene) vermittelt wurden. Die S. war ein Ort der Enkulturation und Traditionsvermittlung, der eher an Konformität denn an Kreativität gelegen war. In Palästina sind S. in der SB-Zeit ( v. Chr.) durch akkad. Schultexte (Megiddo) nachgewiesen. Durch die Tatsache, dass Akkad. im 2. Jt. v. Chr., Aram. im 1. Jt. v. Chr. und Griech. seit der hell. Zeit im Vorderen Orient (inklusive Ägypten) Verkehrs- und Umgangssprache waren, gehörte auch das Erlernen fremder Sprachen und Schriften zur Schreibausbildung dazu. Ostraka aus Palästina bezeugen seit dem 10./9. Jh. v. Chr. den alltäglichen Gebrauch der phönizischen Schrift (aus der sich die althebr. entwickelte) im Handelsverkehr. Ausweislich der Schriftzeugnisse (Ostraka, Graffitis) scheint es spätestens seit dem 9./8. Jh. v. Chr. im Nord- und Südreich breite Schreibkenntnis und damit Schulen gegeben zu haben. In denselben scheint auch der Ursprung der Sammlung der bibl. Schriften zu liegen, die für den Unterricht zusammengestellt und dort abgeschrieben, gelesen und kommentiert wurden. Die wichtigsten S. hatten
181 Erziehung / Schule 169 Bibliotheken und Skriptorien (so in Ägypten und Qumran belegt). Mit dem Auftauchen der Griechen in Palästina änderte sich vielerorts das Schulwesen. Die hell. S. war auf drei Altersgruppen verteilt (Knaben, jährige Epheben und junge Männer). Turnen, Griechisch, Musik und Lit. wurde im Gymnasium (= sportliche Übungsund Ausbildungsstätte) gepflegt. Im Seleukidenreich wurden die S. im Zuge der Hellenisierung des Reichs auch für Nichtgriechen geöffnet, sodass es sich nahe legte, zur Verbreitung griech. Kultur und Lebensart vielerorts Gymnasium und Ephebeninstitute zu bauen. In Jerusalem (2 Makk 4,12.14; 1 Makk 1,14f) führte dies zur Verschärfung des Konflikts zwischen traditionell-konservativ und hellenisiert denkenden Juden, die sich an griech. Idealen orientierten. I. 4. Ähnlich wie die Weisung der Eltern atl. zu befolgen ist, ist auch der Weisung ( Tora) Jhwhs Gehorsam entgegenzubringen. Jhwh kann als Lehrer (Jes 48,17; Jer 32,33; Ps 71,17; 94,10.12; 119,12.26 u. a.) tätig sein, wobei seine Belehrung durch die Gabe seiner Tora (= Weisung als Gesamtwille Gottes und daher auch Gesetz ) geschieht. Sie ist seine Erziehungsgrundlage und Maßstab für die Beurteilung eines gelingenden, gottgefälligen Lebens. Analog zur Prügelstrafe vom Vater und in der S. (Spr 13,24; 19,25; 27,5f) wurde Leiden theol. als Erziehungsmaßnahme Gottes verstanden (individuell: Ijob 36; Spr 3,11f; kollektives Leid: Dtn 8,5; 11,2; Hos 10,10; 11,5; Jer 32,31ff), der als Vater der von ihm großgezogenen Kinder (Jes 1,2; Hos 11,3f) Gehorsam erwartete und sich in Liebe strafend als ihr Erziehungsberechtigter betätigte. Insbes. das Dtn zeigt ein ausgeprägtes didaktisches Interesse, das der Vermittlung der Grundlagen einer gottgefälligen rel. Lebensführung dient. Mose lehrt hier Israel im Auftrag Jhwhs die Jhwh-Furcht, die Israeliten lehren ihre Kinder den Willen Gottes (Dtn 4,1f; 5,1.31f; 6; 11,19 21 u. a.). Als päd. Mittel zeigen sich im Dtn die Aufforderung zum Hören ( Ohr) oder Aufschreiben, das Vorlesen, Wiederholungen, Formelhaftigkeit, Ermahnung, Belehrung, Zurechtweisung, Warnung, Tadel, die Androhung von Strafe bzw. die Inaussichtstellung von Segen, wobei das Erziehungsziel der Gehorsam gegenüber den göttlich-väterlichen Geboten ist. Der Mensch ist in dieser Anthropologie dauernd von Gott (bzw. seinen Stellvertretern) zu belehren und zu einem guten Stück unbelehrbar; dies wird sich erst in der Heilszeit ändern (Jer 31,33f; Jes 2,3). II. NT: 1. Das Wortfeld der E. ist von payw ( Kind ) abgeleitet. Im NT begegnen paide4v, das erziehen, bilden (nur Apg 7,22; 22,3), bezeichnenderweise aber öfter geißeln, schlagen, züchtigen (Lk 23,16.22; 1 Kor 11,32; 2 Kor 6,9; 1 Tim 1,20; Hebr 12,6) bedeutet. Paide2a ist im Sinne von E., Bildung bezeugt (2 Tim 3,16), meint aber meist auch Züchtigung, Zurechtweisung (Hebr 12,5.7.8). Paidezt1w ist der Erzieher, Lehrer (Röm 2,20), Zuchtmeister (Hebr 12,9), paidagvg3w der Knabenführer, Zuchtmeister, d. h. der Aufseher aus dem Sklavenstand, der im Unterschied zum eigentlichen Lehrer (did/skalow) mit der Beaufsichtigung der Jungen von 6 bis 16 Jahren und ihrer äußerlichen E. (Benehmen) befasst war. Nur wenige Stellen im NT äußern sich zur E. von Kindern. Öfter wird das Bildfeld im übertragenen Sinne verwendet, wenn etwa die Rolle des Gesetzes als Zuchtmeister beschrieben wird (Gal 3,24.25), Paulus seinen Status als Vater seiner Gemeinde im Gegenüber zu anderen Missionaren, die letztlich austauschbare Zuchtmeister sind, betont (1 Kor 4,15) oder Gottes erzieherisches Handeln nach Analogie väterlicher Autorität interpretiert wird. II. 2. Die päd. Institutionen der Antike (S. bzw. Unterricht im Haus durch Sklaven bei Oberschichtskindern, im Judentum Unterricht an der Synagoge) werden im NT nicht erwähnt. Das ntl. Interesse liegt ausschließlich auf der moralischen und rel. E. in den Traditionen der Glaubensgemeinschaft, welche Aufgabe der Eltern ist (Kol 3,20; Eph 6,4: Väter; 2 Tim 1,5 erwähnt Mutter und Großmutter; Lk 2,41 51 zeigt Einbettung in die Großfamilie) und in der die Schrift eine zentrale Rolle einnimmt (2 Tim 3,15f). Zucht und Ermahnung des Herrn in Eph 6,4 kennzeichnet wahrscheinlich die E. als eine christl., da sie am Herrn Jesus Christus orientiert ist, oder will aussagen, dass letztlich Gott hinter der väterlichen E. steht. Deutlich ist ein apologetisches Interesse erkennbar, mit der röm. Staats-, Familienund Herrschaftsideologie harmonierende konservative Erziehungsideale zu betonen wie Gehorsam (Lk 2,51; Kol 3,20; Eph 6,1; 1 Tim 3,5;
182 Essen / Trinken 170 Tit 1,6) und geschlechtsrollenkonformes Verhalten von Frauen. Dieser Teil der E. von Mädchen liegt in den Händen älterer Frauen (Tit 2,3 5). Der Vater soll sich nach Kol 3,21; Eph 6,4 vom verbreiteten Typus des gewalttätigen Tyrannen (vgl. auch Hebr 12,9f) abheben, was körperliche Züchtigung aber kaum ausschloss (vgl. die Selbstverständlichkeit, mit der Paulus seinen Gemeinden in 1 Kor 4,17 mit dem Stock droht). II. 3. Mehrfach wird Gottes erzieherisches Handeln mit der strengen E. durch irdische Väter verglichen, wobei Spr 3,11f ( Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, verzage nicht, wenn er dich zurechtweist. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er annimmt. ) im Hintergrund steht (1 Kor 11,32; Offb 3,19) bzw. in Hebr 12,5f als Schriftzitat die Basis der Argumentation bildet (Hebr 12,4 11). Diese zielt darauf ab, im Leiden Gottes erzieherisches Handeln und seine Liebe zu erkennen. Der Text gibt in seiner ausführlichen Bezugnahme auf die harte antike Erziehungspraxis und deren positive Würdigung (Hebr 12,7 10) deutlich zu erkennen, wie sehr die Plausibilität der theol. Argumentation eingebettet ist in kulturelle Bewertungen, die hist. Wandel unterliegen. I. F. Crüsemann, Die Bildung des Menschengeschlechts, in: ders., Maßstab: Tora, Gütersloh 2003, ; P. D. Gesche, Schulunterricht in Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr., Münster 2001; D. W. Jamieson-Drake, Scribes and Schools in Monarchic Judah, Sheffield 1991; A. Lemaire, Les écoles et la formation de la Bible dans l ancien Israël, Fribourg u. a II. G. Bornkamm, Sohnschaft und Leiden, in: ders., Gesammelte Aufsätze 4, München 1971, ; C. Markschies, Lehrer, Schüler, Schule, in: U. Egelhaaf-Gaiser/A. Schäfer (Hg.), Religiöse Vereine in der römischen Antike, Tübingen 2002, ; C. Osiek/D. L. Balch, Families in the New Testament World, Louisville Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Essen / Trinken (E./T.) ( Dachartikel: Anthropologie) Essen / Trinken Vorbemerkung. Als Grundvollzüge des menschlichen Lebens haben E. und T. auch in der Bibel und ihrer Lebenswelt zentrale Bedeutung. Dabei gehen die anthropologischen, ökonomisch-ökotrophologischen, sozialgesch.-kulturgesch., kultisch-theol. und lit.-symbolischen Aspekte des breiten Themenkreises ineinander über. Kulturanthropologisch können Selektion (bevorzugte Nahrung, Speisegesetze), Produktion (Anbaumethoden, Kochen und Backen usw.), Distribution (Handel und Lagerung) und Konsumtion (Nahrungsaufnahme oder Abstinenz, Festessen usw.) unterschieden werden. E. und T. stehen in den Texten der Bibel oft als symbolische Chiffren, deren Bedeutung von lebensweltlichen Hintergründen bis hin zur endzeitlichen Erlösung reicht. Dabei nehmen die Bilder ihren Ausgangspunkt in der Lebenswelt. Das terminologische Spektrum der Lexeme reicht weit über die beiden Grundverben der Nahrungsaufnahme hebr. {kl bzw. griech. Esu2v ( essen ) und hebr. šth bzw. griech. p2nv ( trinken ) hinaus. Das meiste des im Folgenden für das AT zur Landwirtschaft und den Grundbedingungen der menschlichen Versorgung sowie den darauf aufruhenden metaphorischen Bezügen Gesagte gilt in vergleichbarer Weise für das NT (vgl. die Stellenangaben), weshalb auf eine gliedernde Trennung der beiden Teile verzichtet wird. I. Das Alltagsleben des bibl. Durchschnittsmenschen ist durch die Sorge um die tägliche Nahrung bestimmt. Hier kann die Landwirtschaft in bibl. Zeit nicht umfassend beschrieben werden. Einige knappe Hinweise zu den Nahrungsmitteln und ihrer Erzeugung müssen genügen. Neben der hauptsächlich angebauten und verarbeiteten Gerste wurden Weizen, Emmer, Dinkel und Hirse angebaut. Neben den Getreiden standen Gemüse, darunter vor allem Bohnen, Erbsen, Linsen, Zwiebeln, Lauch, Melonen und Salat auf dem Speiseplan. Äpfel, Datteln, Feigen, Granatäpfel und Trauben wurden als Obst kultiviert und verzehrt. Die protein- und fetthaltigen Walnüsse, Pistazien und vor allem Mandeln ergänzten die überwiegend pflanzliche Kost. Zwar wurden neben Schafen und Ziegen auch Rinder und Tauben gehalten, Steinhühner und Wachteln gefangen oder Hirsche, Steinböcke und Gazellen gejagt und schließlich Fische gefangen, doch waren Fisch und vor allem Fleisch keine Alltagskost. Diese bestand vor allem aus Gerstenbrot, das mit Wein, Salz und Kräutern und/oder aus Oliven gewonnenem Öl schmackhafter gemacht wurde. Dazu wurden Gemüse und Obst als Beikost gegessen.
183 Essen / Trinken 171 Helles Weizenbrot stellte ebenso wie Fleischnahrung eher die Ausnahme dar und setzte in der Regel begüterte Verhältnisse voraus. Neben Wasser wurden überwiegend Wein, Most und Bier getrunken. Da die Ernährung von der Getreideerzeugung und -verarbeitung wesentlich abhängig war, kamen der Vorratshaltung wie auch saisonalen Ernteertragsschwankungen eine hohe Bedeutung zu. Der Ackerbau war als männliche Rolle definiert (Gen 3,17 19; 4,2; 9,20; Jes 28,24f; Mt 13,24par. u. a., anders Spr 31,16), wohingegen die Verarbeitung des Getreides nach dem Dreschen und Worfeln weitestgehend Frauen vorbehalten war (Ex 11,5; Jes 47,2; Mt 24,41). Das Mahlen des Getreides war eine zeitaufwändige und mühevolle Tätigkeit, die jede Familie für sich ausübte (Ijob 31,10). Dass der obere bewegliche Mühlstein nicht gepfändet werden soll (Dtn 24,6), unterstreicht die existentielle Bedeutung des täglichen Mahlvorgangs. Das mahlende Geräusch der Handmühle wie des Reibsteins galt als so natürlich und selbstverständlich wie die Stimme und der Gesang (Jer 25,10; Koh 12,4; Offb 18,22). Das durch Sieben gereinigte Getreidemehl wurde mit Wasser, Salz und z. T. Öl vermischt und auf Glutasche oder in einem Ofen zu Brot verbacken. Nur in den Städten der fortgeschrittenen Königszeit gab es Bäcker (Jer 37,21; Hos 7,4), ansonsten backten die Frauen (Gen 18,6; 1 Sam 28,24; 2 Sam 13,8). II. Brot ist das Grundnahrungsmittel schlechthin (Spr 17,1; Sir 34,25; Tob 4,17 u. a.). Entsprechend ist Brot Symbol des alltäglich Benötigten und kann für die Nahrung insgesamt stehen. So etwa in Gen 3,19, wo die Mühsal der Nahrungsbeschaffung als Straffolge bestimmt wird, in Rut 1,5, wo Gott seinem Volk wieder Brot gibt, in Ex 16, wo das Manna das tägliche Brot ersetzt oder in der Brotbitte des Vaterunsers (Mt 6,11; Lk 11,3). Wenn die joh. Christologie den Logos Jesus als das Brot des Lebens (Joh 6,35.48) tituliert, dann schließt das an die Mannaerzählung Ex 16 wie an Dtn 8,3 an, wo das Wort der Tora als notwendige Nahrung des Menschen neben das Brot gestellt wird. Häufig sind E. und T. positiv konnotiert, so in Zusammenhang mit der Festfreude (Hld 5,1; Spr 9,5; Ex 32,6; 2 Sam 11,12; Neh 8,10; Mt 22; Lk 22,30; Röm 13,13 u. a.; Freude), als Zeichen der Gastfreundschaft (Gen 18; Ri 19) oder im Kontext des gemeinschaftlichen Gottesmahls in Ex 24,11 (s. auch Abendmahl). E. und T. stehen für den natürlichen, entspannten Umgang und intakte zwischenmenschliche Verhältnisse (1 Kön 18,41; Gen 27,25; Ri 9,27; Rut 3,3; Ijob 1,4; Joh 21,20; Apg 2,46), weshalb bestimmte Verhaltensregeln bei Tisch eingefordert (Sir 31,12 32,17; 41,19; 1 Kor 11; Mk 7,5) oder bestimmte Mahlkonstellationen untersagt werden (Gen 43,23; Num 25,2; 1 Kön 13,6f; Mt 11,19; Lk 7,34). Entsprechend codiert sind auch das Gegensatzpaar Hunger und Durst, die in dem Mangel an Nahrungsmitteln oft eine Störung im Gottesverhältnis ausdrücken (Ex 16; Dtn 28; Am 8,11, dagegen Ps 23,5). Der Segen Gottes und die Endzeit sind entsprechend von Satt-Sein und Fülle gekennzeichnet (Jes 49,10; 55,1; 65,13; Joël 2,24; Sach 1,17; Offb 7,16), im verheißenen Land fließen Milch und Honig (Ex 3,8; 33,7; Dtn 6,3 u. a.) und die Begegnung mit Jesus hinterlässt Überfluss (Mt 14,20; 15,37; Mk 6,43; 8,8; Lk 9,17; Joh 6,13; 21,6; 2,9 vgl. schon 1 Kön 17,16; 2 Kön 4,44). Die Mahlgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und Sündern nehmen das endzeitliche Gastmahl symbolisch vorweg (Mt 9,10; Mk 2,15, s. auch Abendmahl), so wie Fasten den Willen zum Ausdruck bringt, eine Beziehungsstörung zu beseitigen (2 Sam 12; Sach 7,5; 2 Chr 20,3; Jdt 4,13) und als Ausdruck des Wartens auf das Gottesreich oder als Vorbereitung auf eine Gottesbegegnung verstanden werden kann (Ex 34,28; Dtn 9,9; Ps 109,24; Jes 58,3 6; Dan 10,3; Mt 4,2; Mk 1,13; Lk 4,2). A. Brenner/W. van Henten, Food and Drink in the Bible, in: J. Dyk (Hg.) u. a., Unless Some One Guide Me, Maastricht 2001, ; G. Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina 4, Gütersloh 1935; M. L. Gubler, Vom Hunger in der Wüste zum Mahl im Namen Jesu: Diak. 36 (2005) 15 19; H.-W. Jüngling, Essen und Trinken Ein vergessenes Thema der Theologie?: rhs 36 (1993) ; E. Schmitt, Das Essen in der Bibel, Münster 1994; R. Smend, Essen und Trinken ein Stück Weltlichkeit des Alten Testaments, in: ders., Die Mitte des Alten Testaments, München 1986, ; J. S. Webster, Ingesting Jesus, Atlanta Christian Frevel
184 Evangelium 172 Evangelium (Ev.) ( Dachartikel: Schrift/Schriftverständnis) I. Die ursprüngliche Bedeutung von epagg0lion im NT hat M. Luther trefflich umschrieben: Evangelion aber heysset nichts anders, denn ein predig und geschrey von der genad und barmhertzigkeytt Gottis Und ist eygentlich nicht das, das ynn büchern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondern mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt, und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und offentlich wirt außgeschryen, das mans uberal höret. (WA 12,259). Ev. ist im NT die mündliche Heilsbotschaft. Verkündeten die röm. Kaiser u. a. zum Regierungsantritt im Plural frohe Nachrichten, sich als Retter und Herrn, so verkündet das NT das Ev. im Singular, was den Anspruch auf Singularität gegen alle weltlichen wie auch rel. bestimmten Behauptungen enthält: Jesus bringt das Ev. Gottes (Mk 1,14) in Wort und Tat (Mt 4,23; 9,35), er ist der Retter (Lk 2,11; Joh 4,42), der Herr, k4riow. Theol. strukturiert wird Ev. erst durch das bibl. vorgegebene Verb evangelisieren (vgl. die Zitate von Jes 52,7, 61,1 in Mt 11,5par.; Lk 4,18; Röm 10,15; Apg 10,36; Eph 2,17). Jhwhs Sieg über die ganze Welt wird verkündet, das eschatologische Heil angesagt (Jes 40,9; 52,7; 60,6; 61,1), proklamiert vom Freudenboten (Jes 52,7 als Partizip belegt). Im theol. Sinn ist das Substantiv im AT nicht belegt. Ntl. Missionare dürften das Verb um das Ev. im Singular (als Kritik an weltlichen Ansprüchen) erweitert haben, um das Spezifische der Botschaft Jesu (vgl. die Antrittspredigt in Nazaret in Lk 4,16 22) zu behaupten. II. Entgegen dem profanen Gebrauch im masor. Text und in der LXX zielt im NT Ev. im Singular immer auf das singuläre Handeln Gottes ( Ev. von der Gottesherrschaft : Mk 1,14f; Mt 4,23; 9,35; 24,14), bezieht aber immer stärker Jesus als den Boten dieses Ev. (Mk 1,1; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9par.) und seinen Heils-Tod samt Auferweckung mit ein (1 Thess 1,5.8.10; 1 Kor 15,1 5; Röm 1,3f; Apg 10,36 43). Diese mündliche Heilsbotschaft kann in Hymnen, Credo-Formeln, aber auch narrativ in Jesus- Erzählungen entfaltet werden. Die Bedeutung des Ev. als Buch/ Schrift ist vermutlich nicht erst im Evangelium 2. Jh. n. Chr. bei Markion und Justin, sondern schon in Mt 24,14 und Mk 1,1 belegt. Dabei bleibt jedoch der primäre Bezug auf das mündliche Kerygma erhalten. Auch heben die unterschiedlichen Akzentsetzungen das Wissen um die Einheit nicht auf: Die Evangelisten verkünden etwa das eine Evangelium nach Lk (Kanon Muratori, Z. 2). Ebenso spricht Irenäus vom viergestaltigen Evangelium (Iren. adv.haer 3,11,8). Die vier Ev. und die deutlichen Akzentverschiebungen vom vor-pln./vor-mk. Gebrauch zu Paulus, Mk, Mt und Lk (Joh kennt statt Ev. den Begriff Zeugnis ) bestätigen Luthers dynamische Deutung. Ev. enthält keine Katechismus-Wahrheit, keine Lehrsätze, sondern stellt provokativ Menschen vor die Behauptung, dass Heil und Errettung allein von Jhwh, dem Gott Israels und Jesu, sowie in der Zusage Jesu möglich ist, der dafür den Tod auf sich nahm und von Gott in der Auferweckung bestätigt wurde ( Gottesvorstellungen). Mündliche Ev. und Ev. als lit. Gattung interpretieren sich gegenseitig: Immer geht es um die Zusage des Handelns Gottes. Mk ist der Schöpfer der Gattung Ev., nimmt aber zahlreiche, auch biographisch geprägte Jesus-Traditionen auf (bes. in Mk 14f). Die übergreifende Gattung gestaltet er in Rezeption atl. Biographien von Propheten und hell. Biographien von göttlichen Menschen. Mt und Lk folgen ihm, Joh steht in Verbindung zu lk. Traditionen. Verfasser weiterer apokrypher Ev., die nicht in den späteren Kanon aufgenommen wurden, folgten ihnen durch alle Jh., um Fehlendes zu ergänzen oder eigene theol., bes. gnost., esoterische Akzente zu setzen. Welches Ev. apokryph war, stand nicht von vornherein fest; geklärt wurde diese Frage in der Rezeption durch die Gemeinden, die die jeweilige Schrift für sich als maßgebend und heilig anerkannten. Ev. als Begriff und als kerygmatische Jesuserzählung, durch die der Glaube an Gottes Handeln bezeugt werden soll (Joh 20,31), steht in Kontinuität zur atl. Verkündigung und zu atl. Erzählungen. Alle zielen auf die Einheit von Kerygma und Geschichte, wobei wie im AT (vgl. die prophetischen Reden) so auch im NT zur guten Nachricht auch der Gedanke des End-Gerichtes gehört (Mk 8,35; 10,29; Röm 2,16; Offb 14,6f). Wer menschliche Freiheit und Entscheidung im Hinblick auf Annahme bzw. Ableh-
185 Ewigkeit Ewigkeit 173 nung des Ev. voraussetzt, behauptet auch seine endgültige Verantwortung vor Gott, die bibl. mit Gericht umschrieben wird. Dadurch wird die Frohbotschaft keineswegs eine Drohbotschaft (Lk 12,8f), da Ev. immer Umkehr erfordert (Mk 1,15). D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, Stuttgart 1999; H. Frankemölle, Evangelium, Stuttgart ; H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien, Stuttgart Hubert Frankemölle Ewigkeit (E.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) I. AT: 1. Der Begriff E. ist eine Fehlübersetzung von hebr. }olam, einer kosmologischen Kategorie zur Kennzeichnung des schöpfungsgemäß als konstant Gesetzten; was von }olam, d. h. seit immer und ewig existiert, wird auch bis }olam, d. h. bis in fernste Zeit, so bleiben. I. 2. Dem Begriff inhäriert weniger die Vorstellung einer unendlichen Zeit (auch nicht in Ps 90,2 6) als vielmehr der Begriff der Trans-Temporalität, verstanden als Unwandelbarkeit und Unvergänglichkeit (Koh 1,4). Vor allem bei DtJes wird }olam in spezifisch theol. Absicht verwendet. Nicht nur ist Gott ewig (Jes 40,28), er ist auch Herr über die Geschichte aller Völker, ist frei in seinem Herrsein über alle Welt als auch treu in seinem Heilswillen (Jes 40,8; 45,17; 51,6.8; 54,8; 55,3.13). }olam wird zum Kennwort für die Welt Gottes und für Gottes Handeln, das im Eschaton alleinbestimmend übrig bleibt (E. Jenni). II. NT: 1. In der griech. Lit. bezeichnet ax5n allgemein einen langen, unbegrenzten Zeitraum, zunächst die ferne und lang andauernde Zeit, dann aber auch die prinzipiell unbegrenzte Dauer sowohl mit Blick in die Vergangenheit (vgl. 1 Kor 2,7; Kol 1,26) als auch mit Blick in die Zukunft (Mk 11,14; Joh 10,28; Hebr 1,8; 5,6; Offb 20,10), sodass die Unendlichkeit zur E. gesteigert werden kann (Röm 1,25; 11,36; Hebr 13,8; Jud 25). II. 2. E. ist nicht einfach die Fortsetzung der Zeit, sondern gerade in ihrer oft pleonastisch ausgedrückten Steigerung ganz anders (Offb 21, 23.25; 22,5), weil sie in das Zeitmaß Gottes hineinreicht (Röm 16,26). So wird E. im NT zwar immer noch quasi zeitlich gedacht, irdische Zeit wird aber oft genug transparent auf die E., die Zeit Gottes, hin, da Gott Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Wenn in 1 Kor 15,28 Gott alles in allem wird, dann meint dies die vollständige Durchdringung der Welt(zeit) durch die (Zeit und) Gegenwart Gottes (K. Erlemann). Analog dazu bedeutet v. a. bei Joh das ewige Leben die durch den Glauben geschenkte Anteilgabe an der Zeit und Beständigkeit Gottes. Der Begriff ax5n besitzt neben zeitlichen zugleich auch räumliche Konnotationen ( Welt ), wobei bei der räumlichen Bedeutung ebenso wie bei der zeitlichen seine alles umfassende Totalität betont ist. In diesem Sinne kann Paulus von diesem Äon reden, um die Welt in ihrer Gänze zu bezeichnen (Röm 8,38; 1 Kor 3,22; 2 Kor 4,4; Gal 1,4). Der Gegensatz von hebr. ha}olam hazzm bzw. griech. Z ax>n ovtow der jetzigen Welt und hebr. ha}olam habba{ bzw. griech. Z ax>n m0llvn der zukünftigen Welt findet sich explizit zuerst im NT (Mt 12,32; Eph 1,21; 2,7), geht aber konzeptionell auf jüd.-apokalyptisches Denken zurück (1Hen 48,7; 71,15; Apokalyptik) und wird in der Jesustradition (Mt 13,39; Lk 16,8; 20,34f; Mk 10,30) wie auch von jüd. Lehrern benutzt (in mav 2,7 von Hillel). Die Entwicklung von diesem Äon hin zum kommenden Äon ist irreversibel, die Rede vom Tag (vgl. den Tag des Herrn Apg 2,20; 1 Kor 1,8; Phil 1,6.20; 2 Petr 3,10 und den Tag des Menschensohns in Lk 17,24) unterstreicht den Charakter der plötzlichen Wende und des von Gott her gewirkten Eintretens. Freilich ist der zukünftige Äon für Christen zumindest z. T. bereits Wirklichkeit geworden (Lk 16,8; 1 Kor 1,10; Gal 4,25f; Phil 3,20; Hebr 6,5) der strenge Gegensatz ist relativiert. I. J. Assmann, Zeit und Ewigkeit im alten Ägypten, Heidelberg 1975; J. Barr, Biblical Words for Time, London ; E. Jenni, Art. }olam: THAT II (1984) ; N. Lohfink, Gegenwart und Ewigkeit: GuL 60 (1987) II. G. Delling, Zeit und Endzeit, Neukirchen-Vluyn 1970; K. Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, Tübingen 1995; ders., Art. Zeit IV: Neues Testament: TRE 36 (2004) ; H. Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Göttingen 1992; T. Schmidt, Das Ende der Zeit, Bodenheim Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT)
186 Exegese 174 Exegese (E.) ( Dachartikel: Schrift/Schriftverständnis) Exegese I. Der Begriff E, abgeleitet von dem griech. Verb Ejhg0omai erzählen, berichten (vgl. Lk 24,35; Apg 10,8; 15,12.14; 21,19), enthält immer schon deutende, erklärende Aspekte, meint nie eine objektivierende Darstellung. Daher bedeutet das Verb im theol. Kontext offenbaren (so schon Plat. rep. 4,427c; 5,469a; Sir 43,31). Nach Joh 1,18 offenbarte der Logos den unsichtbaren Gott, legte ihn aus. Etymologisch bedeutet E. Herausführung des Sinnes, Erklärung von Texten, im kirchlichen Raum solche des Rechtes, der Dogmen und bes. der heiligen Schriften Israels und der Kirche. Schriftausleger gibt es so lange, wie es (heilige) Schriften gibt, auch im jüd. Bereich. Zunächst waren sie deren Schreiber (2 Sam 8,17; 1 Kön 4,3; Jer 36,32), dann deren Exegeten (Esra 7, 6 11; Sir 38,24ff). Im NT sind Schriftgelehrte (hebr. sof e rim, griech. grammateyw) und Gesetzeslehrer (griech. nomodid/skaloi) vielfach belegt. Die Unterscheidung deutet an, dass (wie in Qumran) Tora und prophetische Texte ganz unterschiedlich ausgelegt wurden, bedingt durch die bes. theol. Funktion der Tora für jeden jüd. Glauben, da in ihr grundlegend der verbindliche Wille Gottes für die Identität Israels geoffenbart ist. Ihr waren die prophetischen Texte in ihrer theol. Qualität nachgeordnet (vgl. Dtn 18,9 22; 34,10 12). Die gesetzlichen Partien der Tora wurden juristisch ausgelegt, auch erweitert (zum Sabbat vgl. etwa Dtn 5,12 14 mit Jer 17,21f; 1 Makk 2,29 41; Fest), die erzählenden Teile der Tora dienten der gesch. Legitimierung der Tora, indem sie mit der Offenbarung am Sinai, mit der Figur des Mose bzw. mit der Kultgründung verbunden wurden. Prophetische Texte wurden sehr viel freier behandelt, noch stärker auf Ereignisse der Gegenwart bezogen, wie v. a. die Pescharim aus Qumran belegen; danach hat der Text einen aktualisierend-eschatologischen Sinn für heute. Auch Jesus (vgl. Lk 4,21) und Paulus (2 Kor 1,20; 3,1 18) stehen in der Rezeptionsgeschichte des vielfach variierten Heute im Dtn (Dtn 5,3; 29,11). II. Erste Ausleger von bibl. Texten innerhalb der Bibel sind die Redaktoren der mündlichen Überlieferungen, von kleinen Sammlungen sowie die Interpreten früherer Texte (vgl. Dtn und 1/2 Chr). Im Unterschied zu diesen Fortschreibungen sind Demetrius, Aristobul und Philo im hell. Judentum als erste Ausleger bibl. Texte zu verstehen Ausleger im weiten antiken Sinn: u. a. durch Reinterpretationen/Textänderungen, Aktualisieren (vgl. die Midrasch-Lit.), Übersetzungen (griech., aram.), Paraphrasen (z. B. Targumim), allegorische Deutungen, Typologien. Bereits zur Zeit des NT gab es feste Regeln der Auslegung (middot, etwa die 7 Regeln des Hillel). Gemäß Ps 62,12; 68,12; Jer 23,29 war man überzeugt: Eine einzige Bibelstelle hat mehrere Bedeutungen (bsan 34a). Die Folge: Die richtige, objektiv vorgegebene einzige Auslegung gibt es nicht. Christl. Ausleger stehen in dieser jüd. und griech. Tradition, wenn sie grammatisch bzw. allegorisch und typologisch auslegten, einen mehrfachen Schriftsinn (so bes. Origenes) postulierten (geschich., allegorisch, moralisch, anagogisch; Hermeneutik), ebenso einen sensus plenior, den die bibl. Textverfasser noch nicht kannten. Im Kontext der vielfachen neuen Lesarten innerhalb der Rezeptionsgeschichte der heiligen Schriften Israels ist auch die Lesart der ntl. Theologen im Kontext ihres Glaubens an Gottes Handeln in und durch Jesus Christus strukturell konsequent. Diese christologische Relektüre führt aber zu einer qualitativ neuen, d. h. doppelten Leseweise der heiligen Schriften Israels, die im Verlauf der ntl. Kanongeschichte zum AT werden. Damit sind grundlegende Fragen der Hermeneutik angesprochen. Gerade die radikale typologische und christologische Lesart des ersten Teils der christl. Bibel, bei der der theol. Eigenwert der Offenbarung Gottes an Israel abgelehnt wird, war zwar nicht Ursache für die hist.-kritische E., brachte sie aber u. a. als Ergebnis hervor. Voraussetzung war das Bemühen der Humanisten, folglich auch der Reformatoren um Texte in ihrer Ursprache. Die Suche nach dem vom Verfasser gemeinten Sinn erzwang die Beachtung der lit. Formen (Formgeschichte). Hermeneutisch ist auch an die Aufklärung zu erinnern mit ihrer Kritik gegen alle dogmatischen Prinzipien. Hist.-kritischer E. geht es um das Verstehen hist. vorgegebener Texte ohne Rücksicht auf den Glauben der diese Texte rezipierenden Kirchen.
187 Exegese 175 Nach einer langen Phase der immer stärkeren Differenzierung der methodisch begründeten Einzelschritte (Text-, Literar-, Form-, Gattungs-, Motiv-, Überlieferungs-, Traditions-, Redaktionsund Kompositionskritik), der Erarbeitung der Vorgeschichte der Texte, der allgemeinen Traditions-, Religions- und Sozialgeschichte der Umwelt sowie archäologischer Fragen wurde im letzten Jh. dieses offene, stark textorientierte Methodenensemble um leser-/rezeptionsorientierte Zugänge erweitert (existentiale, handlungsorientierte/pragmatische, interaktionale, feministische, befreiungstheol. Auslegung). Linguistisch-strukturalistische, narrative, kulturanthropologische Zugänge machen zur Zeit den Methodenpluralismus noch vielfältiger; pneumatische E. versuchte, die oft fehlenden theol. Gehalte zu betonen. Ziel auch der hist.-kritischen E. ist letztlich die Erhebung von Glaubenszeugnissen, das Ernstnehmen der hl. Schriften als Gotteswort. Dem haben die unterschiedlichen methodischen Schritte zu dienen. Gegen den Fundamentalismus bestimmter Gruppen haben die ev. und auch die kath. Kirche die hist.-kritische E. als die unerlässliche Methode betont, daneben aber auch den Wert neuerer literaranalytischer Zugänge und solcher über die Humanwissenschaften begründeten. Angesichts der sinnvollen Pluralität der Methoden der E. müsste eine integrative Auslegung Ziel jeder E. sein, in der jeder Schritt seine dienende Funktion hat, um die in hist. Texten der Bibel sich findende Theol. und Offenbarung Gottes zu erheben als Anspruch an Glauben heute, an gegenwärtige Theol. und Kirchen. H. K. Berg, Ein Wort wie Feuer, Stuttgart 1991; C. Dohmen/ G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996; H. Frankemölle, Biblische Handlungsanweisungen, Mainz 1983; Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Stuttgart 1995; H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung 1, München 1990; J. Schreiner, Das Alte Testament verstehen, Würzburg Hubert Frankemölle Exil / Verbannung (E./V.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) I. AT: 1. Dem geschichtsphilos. Konstrukt einer Exilszeit (hebr. gola Exulantenschaft, Ableitungen von jr{ hinausgehen ; griech. diathor/ Zerstreuung ) liegt der hist. Sachverhalt zugrunde, dass Assyrer wie Neubabylonier Kriegsgefangene, vor allem die Oberschicht (Beamte und Militär; Amt; Heer) neu eroberter Provinzen, deportierten (Israeliten 733/732 und 722 v. Chr., Judäer 701, 597, 587 und 582 v. Chr.; im AT oft mit dem Verb glh Hifil = wegführen bezeichnet). I. 2. Nach unterschiedlichen demographischen Schätzungen und differierenden Interpretationsmöglichkeiten der Zahlenangaben in Jer 52,28 30 verlor das Territorium der bab. und pers. Provinz Jehud (Juda) v. Chr. durch Deportation 5 20 % seiner ca Bewohner. Durch die Verheerungen der Kriege und Epidemien (vgl. Ez 33,27; Krankheit), v. a. aber durch Abwanderung der Überlebenden aufgrund der wirtschaftlichen Vernachlässigung des Gebietes durch die Babylonier, sank die Bevölkerung von Jehud bis 500 v. Chr. auf ca Personen. Während die Assyrer ihre Deportierten in gleicher Funktion an anderer Stelle des Reiches einsetzten, bildeten die Neubabylonier ethnisch geschlossene (landwirtschaftliche?) Kolonien. Dies sowie die Tatsache, dass die Deportierten von v. Chr. (anders als diejenigen von v. Chr.) bereits lit. wie theol. verfestigte und innerhalb der Elite kursierende Traditionen ( Väter, Exodus) mitnahmen, erklärt die Kohärenz der gola. Mit der Interpretation der Deportation als E. (d. h. als vorübergehende Deportation, vgl. Jer 29,10) im Gegensatz zur Interpretation als Diaspora (der dauerhaften Existenz in einem kulturell fremdartigen Land, vgl. Jer 29,4 7) verbanden sich Restitutionshoffnungen. Ob diese Hoffnungen und damit die Interpretation der Deportation als E. schon vor der Ermöglichung der Rückkehr durch die pers. Übernahme des neubab. Reiches 539/8 v. Chr. einsetzten, ist umstritten (damit auch die Datierung von Jer 29,8f). Wirtschaftlich ging es der deportierten Oberschicht weiterhin (oder
188 Exodus 176 bald wieder) gut, im Gegensatz zu den im Lande ( Erde) Verbliebenen. Um 500 v. Chr. lebten in Babylonien mindestens bis Judäer, auf alle Fälle mehr als in Juda. Einige Gruppen von ihnen kehrten in verschiedenen Schüben zwischen 538 und 398 v. Chr. zurück und erklärten sich damit als Exilierte ; die Mehrheit blieb in Babylonien und verstand sich als Diaspora. Bei der inneren Organisation der pers. Provinz Jehud (Tempelbau v. Chr.; Mauerbau und Verlegung der Provinzhauptstadt von Mizpa zurück nach Jerusalem 444 v. Chr.; Promulgation der Tora 398 v. Chr.) spielte die bab. Gola aufgrund ihres Wohlstandes wie ihrer räumlichen Nähe zum Machtzentrum des Reiches eine maßgebende Rolle (Esra 1,5 11; 3,1 8; 7,1 8,36; Neh 1 6). Unter ihrem Einfluss setzte sich die (unhist.) Auffassung durch, ganz Israel (d. h. hier Juda) sei im E. gewesen und das Land habe brachgelegen (2 Chr 36,20f). Die Integration der nicht-deportierten Bevölkerung Judas (bzw. ihrer Nachkommen) in die nachexil. und bab.-jüd. dominierte Tempel- und Tora-Gemeinde spiegelt sich in der Aufnahme der Väter- und bes. der Abrahamtradition in den Grundmythos Israel, die Tora. Bei P wird der judäische Erzvater Abraham gar zu einem Angehörigen der bab. Gola, der zur { a lijja ( Heimkehr ) aufbricht (Gen 11,27 12,5*). Die äg. Diaspora wurde in der Tora durch die Aufnahme der Josefs-Novelle berücksichtigt. II. NT: Nur selten werden das ass. oder bab. E. im NT erwähnt. In Apg 7,43 gilt das E. in Fortsetzung dtr. Theol. als Strafe für Abfall und Götzendienst (mit Zitat von LXX Am 5,25 27 unter Verwendung des Verbs metoik2yv umsiedeln, wegführen ). Häufiger begegnet der Sachverhalt aber in übertragener Form. So wird in Hebr 13,14 die Diaspora-Situation der Christenheit in der Welt als Exilsituation in der Zeit erklärt, nach 1 Petr 1,1; 2,11; Jak 1,1 leben Christen in der Zerstreuung (diaspor/) und sind Gäste und Fremdlinge in dieser Welt (j0noi ka; parep2dhmo2; Hebr 11,13; Fremder), nach Phil 3,20 ist ihre Heimat (pol2tezma) im Himmel. In 1 Kor 7,29 31 propagiert Paulus angesichts des von ihm erwarteten nahen Endes eine Ethik des Habens als hätte man nicht. Das Wissen um die Vorläufigkeit irdischer Existenz führt Exodus zu einer zumindest programmatischen, wenn auch immer weniger praktisch umgesetzten Distanzierung von der Welt. Atl. Texte können helfen, das damit begründete kritische Potential nicht in blanke Weltverneinung umschlagen zu lassen (Jer 29,4 7; Tob 13,2 18). I. R. Albertz, Die Exilszeit, Stuttgart u. a. 2001; L. L. Grabbe (Hg.), Leading Captivity Captive, Sheffield 1998; E. A. Knauf, Wie kann ich singen im fremden Land?: BiKi 55 (2000) II. J. M. Scott (Hg.), Exile, Leiden u. a. 1997; G. Theißen, Wir haben alles verlassen (Mc. X 28): NT 19 (1977) Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Exodus (E.) ( Dachartikel: Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte) I. AT: 1. Insgesamt sieht das AT die Herausführung aus Ägypten (ausgedrückt durch die hebr. Verben jr{ hinausgehen und }lh hinaufgehen ) als Erwählung. I. 2. Die Herausführung aus Ägypten und die Rettung am Schilfmeer gehören zu den grundlegenden Elementen des atl. Glaubens und Geschichtsverständnisses. Jhwh ist der Gott von Ägypten her (Hos 12,10; 13,4), an sein Rettungshandeln in Ägypten wird am Beginn des Dekalogs erinnert (Ex 20,2; Dtn 5,6), es schweißt Jhwh und das von ihm gerettete und bewahrte Volk zu einer exklusiven Gemeinschaft zusammen (Dtn 4,34.37; 7,6; Ps 114,1f). Die Geschichte der Rettung aus dem Sklavenhaus und die Wanderung in der Wüste bieten nicht nur den narrativen Kontext für die atl.-jüd. Kultpraxis (vgl. die Stiftung des Sabbats nach Dtn 5,14f, das Pascha ( Fest), die Stiftshütte als Prototyp des Tempels einschließlich des Priestertums). Mit Mose tritt im narrativen Rahmen des E. auch eine der für das kollektive Gedächtnis Israels prägendsten Figuren auf. Die Berufung des Mose als Diener Gottes wird geradezu zum Sinnbild der Berufung des Volkes zum Dienst an Gott als Ganzem (Ex 3f). Umgekehrt steht Ägypten für Unfreiheit und Gewaltherrschaft und bildet so personifiziert durch den
189 Exodus 177 Pharao die Negativfolie für das Wesen und Verhalten des Gottesvolkes. Die Strafen, die Ägypten erleiden musste, werden Israel warnend vor Augen gestellt (Am 4,10). Die Wüste ist der Ort der Bewahrung und Bewährung, dient als Schauplatz der göttlichen Nähe (Wolken- und Feuersäule) und Offenbarung (Sinai) wie auch der menschlichen Schwäche (Goldenes Kalb; vgl. Am 5,25 27). Die vermutlich ältesten Traditionen des AT betonen die militärische Dimension des E. (so das Mirjamlied Ex 15,21), doch werden stets nach Erfordernis auch andere Elemente angesprochen. Religionshist. erklärt sich die Grundaussage der bibl. Rel. Jhwh hat Israel aus Ägypten geführt aus dem Zusammenbruch der äg. Herrschaft in der kanaan. Provinz und seinen demographischen, polit. und ereignisgesch. Begleiterscheinungen. Seit dem 11. Jh. v. Chr. ist ein Wüstengott ( Herr der Strauße ) in Israel/Palästina ikonographisch nachweisbar (Abb. 20). Es liegt nahe, dass der Wüstengott Jhwh mit der Exodusgruppe im Verlauf des 12. Jh. v. Chr. in das Land kam. Wer im 14. bis 12. Jh. v. Chr. das Territorium der kanaan. Städte in den Ebenen Palästinas, der äg. Provinz Kanaan, verließ und sich jenseits der Kultur- und Provinzgrenze in den Bergen Judas und Samarias niederließ, war in gewisser Weise aus Ägypten ausgezogen. Derartige Abwanderer aus ihrem Machtbereich waren für die Staaten des AO hapiru, davon hebr. }ibri, Hebräer. In den Bergen mussten sie sich mit lokalnomadischen Sippen (den Schasu der äg. Texte) auseinandersetzen und zusammenraufen. Dies führte seit dem 12. Jh. v. Chr. zur Bildung der Stämme des zukünftigen Volkes Israel. Einen Stamm (nicht Stammesverband) dieses Namens hat der Pharao Merenptah vor 1208 v. Chr. in Zentralpalästina vernichtet. Es steht zu vermuten, dass kriegsgefangene und deportierte Israeliten aus der Zeit Merenptahs und/oder einige ihrer Nachkommen unter den Asiaten waren, die der Pharao Sethnacht ( v. Chr.) aus Ägypten vertrieb. Wenn Überlebende dieser Gruppe in Kanaan ankamen und ihr Überleben dem Wüstengott Jhwh zuschrieben, dessen Bekanntschaft sie unterwegs gemacht haben können, wäre ihre Aussage Jhwh hat Israel aus Ägypten geführt bei den Stämmen, die sich damals in der Nachfolge Israels aus dem Abb. 20: Der Herr der Strauße. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 162c. 13. Jh. v. Chr. in Zentralpalästina bildeten, unter Umständen auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Heimat des Gottes Jhwh ist östlich des Golfes von Aqaba im Land Midian zu suchen. Midianiter hatten als Bergbauexperten im Jh. v. Chr. in den Kupferabbaugebieten in der }Araba (Timna und Fenan) sowohl mit Ägyptern wie mit den lokalen Stämmen des Negeb Kontakt. Als Saul am Anfang des 10. Jh. v. Chr. Jhwh zum Gott seiner anti-philistäischen Stämme-Koalition machte, war damit der Name Israel für diese Koalition wie der Charakter Jhwhs als kriegerischer Ägypten-Bezwinger vorgegeben (Abb. 21). In der Entfaltung der Exodustradition, deren frühe Stadien weithin unklar bleiben (bezieht sich 1 Kön 12,26 33 [vgl. auch Ri 18,30] auf Jerobeam I. oder II.?), nahmen die Variablen Jhwh, Israel und Ägypten im Zuge der zeitgesch. Konstellationen und Konfrontationen immer wieder neue Bedeutungen an und auf. Nach dem Untergang Israels 722 v. Chr. kämpfen in Hos 12* ein in Verwandtschaftsgruppen konstituiertes Jakob-Israel und ein sich prophetisch-theokratisch legitimierendes Exodus-Israel um die Definitionsmacht über (und die Zukunft für) Israel. Die Flucht israelit. Gruppen nach Ägypten wird zum Anti-E. (Hos 7,16; 8,13; 9,3.6), die Sammlung aus der äg. Diaspora und ass. Exulantenschaft wird zum neuen E. (Hos 11,11). Die früheste Bezeugung der Exodustradition bei Hosea weist darauf hin, dass sie ursprünglich ins Nordreich gehörte. Abb. 21: Wagen und Rosse Pharaos über den besiegten Feinden. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 60.
190 178 Nach Juda kam sie wohl erst mit der Annexion Bet-Els (und Süd-Samarias) ca. 622 v. Chr.; noch vor 597 v. Chr. entstand hier die von der Ideologie des Jhwh-Krieges geprägte Ex-Jos-Geschichte als Ausgangspunkt jener Traditionsbildung, die um 400 v. Chr. zur Fixierung der Tora (und des Hexateuchs) geführt hat. In Jes wird der E. zum Paradigma für die Heimkehr-Hoffnung (oder die Heimkehr-Propaganda) der bab. Exulantenschaft. In der priesterschriftlichen Version der Schilfmeergeschichte (Ex 14) steht Ägypten für die selbstherrliche und schöpfungswidrige Großmacht (die auch einmal Assur geheißen hat), die Jhwh mit den Mitteln des Schöpfergottes (Teilung der Wasser!) vernichtet und so Israel gebiert. II. NT: 1. Der Begriff E. stammt aus dem Griech. Hier bezeichnet Xjodow den Ausgang. In den bibl. Schriften ist mit Xjodow bes. der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten im Blick. II. 2. Wie zahlreiche andere atl. Heilstraditionen hat sich das NT auch die Exodusthematik in spezifischer Weise angeeignet. Wie in der zwischentestamentlichen Lit. gilt der E. auch im NT, sofern er erwähnt wird, als Musterbeispiel für Gottes befreiendes und rettendes Handeln, wobei die Akzentuierung durchaus unterschiedlich sein kann. In der erinnernden Vergegenwärtigung des E. in 1 Kor 10,1 13 sind vielfältige Erfahrungen eingegangen die der Rettung, wo nichts mehr zu hoffen war, oder des Untergangs, wo nichts zu fürchten war (E. Reinmuth). Paulus nimmt die Erfahrungen Israels in der Wüste als Warnung an uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat (1 Kor 10,11), damit wir uns nicht von der Gier beherrschen lassen (1 Kor 10,6) und uns in der Versuchung gegen Gott auflehnen. Zugleich dient der E. als Erweis dafür, dass Gott treu ist und seinem Volk in der Versuchung einen Ausweg schaffen wird, sodass ihr sie bestehen könnt (1 Kor 10,13). In Apg 7,33 44 begegnen die wichtigsten Elemente der Exoduserzählung im Zusammenhang der langen Scheltrede des Stephanus (Berufung und Sendung des Mose; Bewahrung des Volkes durch Zeichen und Wunder in Ägypten, am Roten Meer und in der Wüste ; Gabe des Gesetzes als Worte des Lebens ; Abfall des Volkes von Gott und im Vorverweis auf die spätere Geschichte die Abwendung Gottes von seinem Familie / Eltern Volk). Das Verhalten Israels, das schon Mose und den Geboten nicht gehorcht hat, ist nur eine Etappe auf der fortgesetzten Geschichte des Ungehorsams des Volkes gegen den Heiligen Geist (Apg 7,51). Indem Mose explizit auf einen zukünftigen Propheten (Dtn 18,15; Apg 3,22; Joh 1,21; 4,25) hinweist, wird die Geschichte transparent auf Christus hin (vgl. Apg 7,52f). Was in Apg 7 als mahnende Anklage gegen das Volk gewandt wird, begegnet in Apg 13,7 41 als Beweis dafür, dass Gott seine Verheißungen, die er an die Väter gerichtet hat, in Jesu Auferweckung erfüllt hat (Apg 13,32f). Wer an Jesus glaubt, steht somit in der Kontinuität göttlicher Heilsgeschichte und empfängt Gerechtigkeit und Leben (Apg 13,37.39). Nach Jud 5 bewahrte die Errettung aus Ägypten das Volk nicht davor, dass Gott später alle vernichtete, die nicht glaubten (vgl. die Relativierung der Abrahamskindschaft in der Scheltrede des Täufers in Mt 3,7 9). In Hebr 11 begegnet die Exodusgeschichte im Zusammenhang der großen Predigt über den Glauben der Väter; Hebr 11,27 stellt konkret den Aufbruch des Mose aus Ägypten und seinen Verzicht auf allerlei Annehmlichkeiten zum vorbildhaften Akt des Glaubens dar. I. S. Frank, Das Exodusmotiv des Alten Testaments, Münster 2004; E. A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart 1994; ders., Der Exodus zwischen Mythos und Geschichte, in: R. G. Kratz u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift, Berlin u. a. 2000, 73 84; N. P. Lemche, Die Vorgeschichte Israels, Stuttgart u. a. 1996; K. Schmid, Erzväter und Exodus, Neukirchen-Vluyn II. S. Frank, Das Exodusmotiv des Alten Testaments, Münster 2004; S. C. Keesmaat, Paul and His Story, Sheffield 1999; E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik, Leipzig 2003; W. N. Wilder, Echoes of the Exodus Narrative in the Context and Background of Galatians 5:18, New York u. a Ernst Axel Knauf (AT) / Jürgen Zangenberg (NT) Familie / Eltern (F./E.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Familie / Eltern I. AT: 1. Die F. ist die kleinste Einheit des sozialen Systems und eine Abstammungsgemeinschaft. Sie bestand aus den Großeltern väterlicherseits, E., Kindern (unverheiratete Töchter, Söhne und
191 Familie / Eltern 179 Schwiegertöchter) und Enkeln und wurde als Haus (bajit) oder Vaterhaus (bet {ab) bezeichnet. Zum Hausstand gehörten auch die Sklaven und sonstige Abhängige. Mehrere F. formten eine Sippe bzw. einen Clan (mišpaga), mehrere Sippen/Clans bildeten einen Stamm (šebœt, mattm). Ausdrücke für Verwandte können }ammim (z. B. Ez 18,18), š e {er, basar ( Fleisch ) oder {ag ( Bruder ) sein. I. 2. Die familiäre Zugehörigkeit wirkte bei der Orientierung der Menschen am stärksten bestimmend, sekundär spielte die regionale Zugehörigkeit und der subsistenzwirtschaftliche Kleinraum, erst tertiär gar der polit. Raum ( Staat) eine Rolle. Die paläst. F. war patrilinear, patriarchalisch und patrilokal strukturiert. Alle Mitglieder einer Blutsverwandtschaftslinie gehörten zusammen und hatten Teil an der gemeinsamen (kollektiven) Ehre. Die sozial intimste Beziehung in der F. war nicht die zwischen Eheleuten ( Frau), sondern die zwischen Kindern und E. Der Vater ({ab), dessen genealogische Linie durch die Kinder weitergeführt wurde (nicht die der Mutter {em), hatte über seine Kinder Macht und Autorität. Die Familiengerichtsbarkeit oblag ihm. Die E. wachten gemeinsam über die Erziehung ihrer Kinder. Sippenoberhaupt waren die Alten oder Ältesten. Die F. wurde als ein geschlossenes und geordnetes System angesehen, über das der Hausvorstand wachte, das jedoch von außen ( Fremder) destabilisiert werden konnte. Aus dieser Grundidee ergab sich für Frauen ein frauenspezifisches Problem. Denn während die Söhne im väterlichen Haushalt blieben oder ihm eng verbunden waren, wechselten Töchter durch die Heirat die F. Als eingeheiratete Frauen verblieben sie in der Peripherie ihrer neuen F. ( Ehe). Sie waren dort fremd und den familienhierarchisch höher stehenden Frauen (Schwiegermutter) untergeordnet. Sie verbesserten ihren Status erst durch die Geburt eines Sohnes, der ihr Verbündeter war und mit dem sie innerhalb der F. (neben ihren eigenen Brüdern und Schwestern, nicht etwa mit dem Ehemann) die engste emotionale Beziehung hatten. Atl. Texte setzen diese Vorstellung des Eindringens einer Frau in ein geschlossenes familiäres System voraus und betrachten die Braut als möglichen Destabilisierungsfaktor. Frauen waren (mit Ausnahme von Königsfrauen, Witwen, Prostituierten) auf die private, auf die F. bezogene innere Sphäre festgelegt. Gesellschaftlich hoch geschätzt war die Frau, die gehorsam, zurückhaltend und verschwiegen ihren Pflichten nachkam, als Arbeitskraft zur Verfügung stand, im Haus für Harmonie und Ruhe sorgte, ihren Mann konstruktiv unterstützte, seine Autorität anerkannte und mit diesem Verhalten die etablierten Familienstrukturen und Traditionen fortsetzte (Spr 31). Erwartet wurde, dass sie die Kinder ihres Mannes (keine anderen!) gebar, um den Fortbestand seiner Familienlinie zu sichern, aber auch um das Sozialprestige und die Arbeitskraft der F. zu erhöhen sowie für sich und ihren Mann die Versorgung im Alter und die Durchführung des Begräbnisses ( Grab) zu gewährleisten. Kontinuität und Stabilisierung der vorhandenen Situation wurden nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern erwartet. Auch für sie war Pflicht, den ererbten Status (in Bezug auf Sozialstatus, Ehre, Prestige, Besitz, Rechte und Verpflichtungen etc.) beizubehalten, an der genealogischen Kontinuität weiterzuarbeiten und alles zu unterlassen, was die F. destabilisieren könnte. Für einen Mann war sein Verhältnis zu seinen Brüdern und sein Rang unter denselben von Bedeutung, da davon seine soziale und erbrechtliche Stellung innerhalb der F. abhing. Letztere konnte sich durch den Tod des Erstgeborenen ( Erstgeburt) oder des Vaters verändern. Behinderte wurden in ihrer Herkunftsfamilie mitversorgt und gingen dort im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Hand. Der atl. Dekalog sichert die F. durch die Bestimmung der Versorgung (= Ehrung ) der E., wenn sie gebrechlich werden, durch das Verbot des Ehebruchs ( Ehe) und das Verbot, in die innerfamiliären Eigentumsrechte anderer einzugreifen (Ex 20, par.), womit das AT dem ao. Gewohnheitsrecht entspricht. Innerhalb der F. galten Solidaritätsregeln, die durch Brauch oder Gesetz geregelt waren. Zu nennen sind die Pflicht zur Blutrache (Ri 8,18 21; Blut), zur Leviratsehe (Dtn 25,5 10; Rut), zur Auslösung eines verschuldeten Familienmitglieds aus der Schuldknechtschaft (Lev 25,47 49), zum Rückkauf von verpfändetem Grundstückseigentum (Lev 25,25) oder zur Kre-
192 180 ditgewährung (Lev 25,35ff; Dtn 23,20f). Der Löser (go{el) ist der zur Hilfeleistung verpflichtete männliche Verwandte. I. 3. Auf der rel. Ebene zentrierte sich die F. um den Hauskult ( Kult), der in allen Epochen archäologisch nachweisbar ist und dem Familiengott bzw. der Familiengöttin galt. Wenn Göttinnen auch in der israelitisch-judäischen Namengebung des 1. Jt. v. Chr. bislang nicht bezeugt sind, so gibt es ikonographische Belege dafür, dass sie im Haus- und Lokalkult eine große Rolle spielten (Abb. 22). Sie begleiteten die Menschen u. U. auch mit ins Grab. Ungeklärt ist, ob auch die Verstorbenen im Rahmen eines Ahnenkults ( Ahnen), wie er in Syrien belegt ist, im eisenzeitlichen Palästina versorgt und verehrt wurden. Zu allen Zeiten beging man Familienfeste. Sie dienten der Bestätigung der eigenen Gruppenidentität und Gemeinschaft mit der Gottheit. In dieser Hinsicht vertritt das AT zwei unterschiedliche Festtheorien: Für das Dtn ist das gesamte Volk (inklusive Sklaven, Fremden, Leviten, Witwen) F. Jhwhs, der als F.-Vorstand Israel in sein (einziges) Haus, den Jerusalemer Tempel, einlädt. Folglich sind die Feste als Wallfahrtsfeste in Jerusalem zu begehen (Dtn 16,1 17). Demgegenüber vertritt P insbes. in Bezug auf das Pascha-Mazzot-Fest die (ältere) Ansicht, dass die Feste als Teil der Familienreligiosität im Rahmen der F. und im Privathaus zu feiern sind (Ex 12,1 14*). Allein diese Regelung machte es Exils- und Diasporagemeinden möglich, die Feste zu begehen und die eigenen rel. Traditionen ortsungebunden von F. zu F. weiterzugeben. Theol. konstruiert insbes. P die Bevölkerung der damals bekannten Welt als F. (Gen 2,4a; 6,9f; 10 u. a.). II. NT: 1. Es gibt kein der modernen Konzeption von F. entsprechendes antikes Pendant, was sich bereits an den zwei wichtigsten zugehörigen Wortfeldern zeigt. omkow/oxk2a ( Haus, Hausgemeinschaft, lat. familia) und Derivate (u. a. oxkodesp3thw Hausherr ; oxkon3mow Hausverwalter ; oxkeyow Hausgenosse ; oxk0thw Sklave ) beziehen sich auf die Hausgemeinschaft als soziale und ökonomische Basisinstitution der Antike. Gene//g0now ( Geschlecht ) und Stammverwandte (z. B. goneyw E. ; pr3gonoi Vorfahren ; szggen1w verwandt ; szgg0neia Verwandtschaft ) haben die durch den Zeugungs-/ Abb. 22: Judäische Pfeilerfigurine aus Lachisch, die eine Göttin zeigt. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb Familie / Eltern Geburtsvorgang (genn/v zeugen, gebären ) hergestellte Blutsverwandtschaft im Blick. Beide Konzeptionen sind breiter als unsere Definitionen von der Kernfamilie: Zum omkow gehörten neben E. und Kindern auch die Sklavinnen und Sklaven sowie weitere im Einflussbereich des Hausherrn wohnende Verwandte, gegebenenfalls auch Klienten, Freigelassene etc. Die Worte vom Stamm gen- können sich je nach Kontext auf die unmittelbare biologische Nachkommenschaft eines Ahnherren beziehen und die engere F., die Sippe, die Gruppe der (als durch patrilineare Abstammung miteinander verwandt geltenden) Zeitgenossen oder auch das ganze Volk bezeichnen. Trotz dieser Einschränkung waren die zentralen Personen einer F. Vater (pat1r), Mutter (m1thr) und deren Kinder, die untereinander Bruder (Bdelf3w) und Schwester (Bdelf1) sind (der Plural Bdelfo2 umfasst Geschwister beiderlei Geschlechts). Alle diese Begriffe werden im NT häufig auch übertragen gebraucht, Vater v. a. als zentrale ntl. Gottesvorstellung, als ehrende Anrede (Apg 7,2) und in Bezug auf die Vorfahren (1 Kor 10,1; bes. Abraham: Röm 4). {Adelf3w/1/ o2 bezeichnen Volksgenossen und Glaubensgeschwister ( Kirche), wobei man gleichermaßen an atl.-jüd. wie pagane Traditionen (Mysterienrel., Kultgemeinschaften) anknüpfen konnte. II. 2. Die Hausgemeinschaft bildete als Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft die Basisinstitution der antiken Gesellschaft. Ihr Funktionieren war seit Aristoteles (pol. 1,1253b) unter dem To-
193 Familie / Eltern 181 pos oder Buchtitel per; oxkonom2aw (über die Haushaltsführung) fester Bestandteil philos. Reflexion und Ermahnung, wobei neben technischen Fragen (Landwirtschaft, Gartenbau, Geldwirtschaft) das ausschließliche Interesse dem aristokratischen Hausherrn in seiner Herrschaftsfunktion gegenüber der Ehefrau, den Kindern und der Sklavenschaft galt. Ihren rechtlichen Niederschlag hat diese Hausvaterideologie in der Verfügungsgewalt (patria potestas) des röm. pater familias über sein Hauswesen (inklusive der Kindeskinder) gefunden, die erst mit dem Tod des Familienoberhaupts endete. Zwar war die ursprünglich unbeschränkte Strafgewalt gegenüber Frau und Kindern in der Kaiserzeit eingeschränkt worden ( nur über Neugeborene und Sklaven besaß der pater familias noch die vitae necisque potestas, die Gewalt über Leben und Tod), doch konnten erwachsene Söhne und Töchter kein eigenes Vermögen erwerben, nicht selbständig über ihren Aufenthaltsort, über Eheschließung oder Scheidung beschließen etc. Die streng patriarchale röm. Mentalität wirkte auf die röm. beherrschten Gebiete mit anderer Tradition und Gesetzgebung ein und hat auch im hell. Judentum und im NT Spuren hinterlassen. Andererseits war die soziale Realität gerade der Unterschichtsfamilien komplexer als es die ideologische Sicht der Oberschichtsliteratur und Gesetze vermuten lassen. Im NT begegnen Familien(betriebe), denen Frauen vorstanden (Apg 16,14f: Lydia; Kol 4,15: Nympha), und Frauen, die gegen alle Konvention ihrem Ehemann vorgeordnet wurden (Priska: Röm 16,3 5; Apg 18,18; 19,26). In den egalitären und familienkritischen Tendenzen der Jesusüberlieferung liegen Bruchstücke eines eschatologisch motivierten, gegenkulturellen Familiendiskurses vor, für den es vereinzelt Parallelen gibt, v. a. in der kynischen und der asketischjüd. Tradition. II. 3. Rechte wie Pflichten aller Familienmitglieder finden ihre Grenze an dem übergeordneten Willen Gottes, der im Konfliktfall F. zerbricht und eine neue F. konstituiert, wie am Beispiel von Jesu eigener F. in Mk 3, ; 6,4 demonstriert wird. Spannungen, selbst Hass und Todfeindschaft zwischen E. und Kindern, Geschwistern, Verwandten sind Zeichen der durch die Nähe des Gottesreiches ( Herrschaft) ausgelösten eschatologischen Krise (Mk 13,12; Lk 12,51 53). Jesus verlangt von seinen Jüngerinnen und Jüngern ( Apostel), um der Gottesreichsverkündigung willen die F. zu verlassen und die elementarsten Pflichten gegenüber Familienmitgliedern hintanzustellen, z. B. das Begräbnis des Vaters, die ökonomisch erforderliche Mitarbeit im elterlichen Gewerbe, die Versorgung der Kinder und anderer abhängiger Familienmitglieder (Lk 9,59f; Mk 1,16 20; 10,28 30; Lk 14,26, abgemildert in Mt 10,37). Ein negatives Label aufgreifend nannte Jesus seine Jünger und sich Eunuchen für das Himmelreich (Mt 19,12). Die positive jesuanische Alternative zum patriarchalen Familienmodell ist die familia dei. In der Gemeinde ( Kirche) als neuer, an Gottes Willen orientierter F. bleibt die mit Herrschaftsausübung assoziierte Vaterrolle Gott vorbehalten (explizit: Mt 23,8f; Gottesvorstellungen), die Mutter- und Geschwisterrollen werden besetzt (Mk 3,34f; 10,30; Röm 16,23) und alle werden zu gegenseitigem Dienst verpflichtet, wobei gerade die Ersten sich als Diener aller hervortun sollen (Mk 9,33 37; 10,42 45). Auch die Rolle von Frauen wird relativiert: Nicht die Brüste, die den Messias genährt haben, sind selig zu preisen, sondern die das Wort Gottes hören und bewahren (Lk 11,27f). Mutterschaft an sich ist also kein Wert; das Ansehen der Mutter vom Status des Sohnes abhängig zu machen, ist unangemessen. II. 4. Die E. zu ehren war nicht nur in der jüd. Überlieferung eine ethische und rel. Pflicht ersten Ranges, in allen philos. Strömungen galten die E. als Autoritäten, die direkt nach den Göttern und manchmal selbst als göttergleich zu verehren sind (Aristot. NE 1165a 24). Nach den Synopt. hat Jesus das Dekaloggebot der Elternehrung ( Dekalog) ohne Einschränkung für gültig erachtet (Mk 10,19), die Polemik in Mk 7,9 13 zeigt aber, dass er dabei vor allem die soziale Funktion des Gebots im Blick hatte, den Unterhalt der alten E. durch die erwachsenen Kinder zu sichern. Eph 6,1 3 dagegen stellt (wie Philo decal ) im Geist der philos. Oikonomia-Tradition das jüd. Gebot in den Dienst der gehorsamen Einfügung der Kinder in die hierarchische Ordnung des Hauses, welche strukturgebend ist für die Ermahnungen der sog. Haustafeln (Kol 3,18 41; Eph 5,21 6,9, vgl. 1 Petr 2,18 3,7; Ehe). In
194 182 den Past. wird (unter heftiger Polemik gegen konkurrierende Ansichten) die Erfüllung der familiären Rolle im Sinne der oikonomischen Tradition (hier bes. neopythagoreischer Traktate und Briefe) zum Ausweis der Gläubigkeit erhoben für Sklaven (1 Tim 6,1 2; Tit 2,9f), Frauen (1 Tim 2,9 12; 5,4.8.14; Tit 2,3 5) und Amtsträger (1 Tim 3,2.4f.12; 5,9f; Tit 1,6). Kindergebären wird für Frauen sogar zur Bedingung des Heils erklärt (1 Tim 2,15). Im NT stehen demnach im Wandercharismatikermilieu wurzelnde gegenkulturelle Traditionen, die die herkömmliche Koppelung von mütterlicher Ehre an die Geburt legitimer Nachkommen und väterlicher Ehre an die Kontrolle über Frau, Kinder und Sklavenschaft in Frage stellen, unausgeglichen neben Traditionen, die im Zusammenhang mit den in der Antike üblichen Ansichten eben diese Koppelung im Namen Christi untermauern und das familiäre Zusammenleben durch Herrschaft und Unterordnung strukturiert sehen wollen. I. S. Bendor, The Social Structure of Ancient Israel, Jerusalem 1996; F. Fechter, Die Familie in der Nachexilszeit, Berlin u. a. 1998; K. van der Toorn, Family Religion in Babylonia, Syria and Israel, Leiden u. a II. C. Osiek/D. L. Balch, Families in the New Testament World, Louisville 1997; T. Roh, Die familia dei in den synoptischen Evangelien, Freiburg u. a. 2001; G. Theißen, Die Jesusbewegung, Gütersloh Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Feind (F.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Feind I. AT: 1. Ein F. (hebr. {ojeb), Bedränger (rar) oder Hasser (sone{/m e sanne{) ist das Gegenteil eines Freundes ({oheb). I. 2. Generell galt in der ao. Gesellschaft jeder, der nicht der eigenen Familie oder Ersatzfamilie zugehörte, als ein Mensch, dem mit Misstrauen zu begegnen war. Er war in jedem Fall ein außenstehender Fremder, auch wenn er am selben Ort wohnte. Dorf-Fremde, also Menschen, die der gleichen kulturellen Gemeinschaft angehörten, aber nicht am selben Ort ansässig waren, Feind waren potentielle F., während Menschen, die aus einem anderen kulturellen Kreis stammten (= Ausländer), als beinahe sichere F. angesehen wurden. Zu Ausländern/Fremden auf der Durchreise hielt man Distanz oder versuchte, sie durch Gastfreundschaft in ein Loyalitätssystem der wechselseitigen Verbindlichkeiten einzubinden und so die Fremdheit/Gefährlichkeit zu reduzieren. Kamen Fremde als Invasionsarmee ins Land, so waren die Fronten klar. Im Laufe der Geschichte konnten aus ehemaligen F. jedoch auch Alliierte werden. Dies galt nicht nur im persönlichen, sondern auch im öffentlichen Bereich: Die polit. Schaukelpolitik der paläst. Kleinstaaten des 1. Jt. v. Chr. (u. a. Israel und Juda/Judäa) führte wiederholt dazu, dass ausländische (ehedem feindliche) Armeen als Verbündete (gegen einen gemeinsamen F.) zu Hilfe gerufen wurden, wenn es den Interessen der Herrschenden diente (zu Assyrien vgl. 2 Kön 16,8ff; zu Ägypten vgl. Jer 37,5ff). I. 3. Bezeichnet man jemanden als F., so bringt man zum Ausdruck, dass man sich dessen potenzieller Aggression ausgesetzt sieht. Ein Mensch kann übermenschliche und menschliche Wesen zum F. haben. Jhwh kann Menschen zum F. werden, wenn er die F. seines Volks angreift (Ex 23,22; Dtn 28,7; Num 10,35), seinem Volk zürnt (Klgl 2,4f; Jes 63,10) und ihm zur Strafe F. sendet (Ri 2,11 23; Jer 6,27; 12,7 u. a.) oder sich gegen den einzelnen Frevler wendet (Ijob 13,24; 19,11; Ps 36; 37,20). Kosmische Feinde, Dämonen und ruhelose Totengeister sind im Vorderen Orient seit alters her bezeugt, im AT gut belegt (Ijob 40f; Jes 27,1; Lev 16,8.10) und seit der ausgehenden Perserzeit in wachsender Anzahl und Bedeutung vertreten (1QM 1,1 13; 13,1 11; Tob 3,8). Sie sind (wie seit der pers.-hell. Zeit) als der Widersacher/Satan/Belial/Beelzebub Gegner der Schöpfung, Ordnung und des Lebens. Gegen ihre Angriffe schützte sich der Einzelne mit Amuletten und Beschwörungen. Unter den menschlichen Feinden unterscheidet man meist den militärischen oder polit. F. (Ex 1,10; Num 10,9; 32,21; Dtn 1,42; 21,10; Neh 4,11; 6,1), unter dem u. U. durchaus auch der innenpolit. oder anders denkende bzw. glaubende Gegner subsumiert sein kann, und den persönlichen Angreifer (Rechtsstreit: Ps 27,12; 35,11; Rivalitäten: 1
195 Feind 183 Sam 18,29; 19,17; Verleumdung: Ps 55,13; 64; Begleiterscheinung von Krankheit: Ps 30; 38; 41; 102), wobei die Grenzen oszillieren können. Persönliche Feindschaft gegenüber dem König hat als Opposition eine polit. Dimension (1 Kön 21,20). Das Niederschlagen der F. gehört vorderorientalisch, äg. und atl. zu den zentralen Aufgaben des Königs, der damit die gottgegebene Weltordnung erhält und als Stellvertreter seines Gottes agiert. Ein Krieg wurde auf allen Seiten unter Beteiligung der jeweiligen Staats-, Dynastie- oder Kriegsgötter geführt und konnte rituelle Komponenten beinhalten (Jos 6). In diesen Kontext gehört, wenn atl. im Rahmen eines Feindvernichtungsrituals in Jhwhs Auftrag der Bann vollzogen werden soll (1 Sam 15). In den Klagepsalmen des Einzelnen ( Klage) ist häufig von F. die Rede, die dem Beter nachstellen (Ps 3,8; 13,3.5; 25,2.19 u. a.). Ihre Identität wurde in der Forschung diskutiert (Zauberer, Dämonen, Fremdvölker u. a.), ist jedoch kaum einheitlich zu bestimmen, da sie stark von einer Stereotypisierung geprägt ist, die es in der Gebetspraxis der Psalmen erlaubt, die Leidensschilderungen jeweils auf verschiedene Notlagen zu applizieren. Der Umgang mit F. aller Art im AT reicht von deren Animalisierung (Ps 22,17; 57,5) oder Dämonisierung (Ps 35; Ez 13,17ff), die aus den Gegnern eine Manifestation des Chaos und einen Handlanger des Todes machte, gegen die jedes Kampfmittel recht war, über deren physische Vernichtung bis hin zur weisheitlichen Aufforderung, sich über den Fall des F. nicht zu freuen (Prov 24,17) und ihn mit Brot und Wasser zu versorgen, um Kohlen auf dessen Haupt zu häufen (Prov 25,21). II. NT: 1. Am häufigsten wird der F. im NT mit dem substantivierten Adj. Exur3w bezeichnet ( Feindschaft = Xxura), auch Bnt2dikow wird verwendet, ferner Enant2ow in der Bedeutung feindlich. II. 2. Die Unterscheidung in persönliche F. (Mt 10,36; 13,25.28; Röm 12,20; speziell vor Gericht: Mt 5,25; Lk 18,3) und polit. F. des Volkes Israel bzw. des Einzelnen (Lk 1,71.74; 19,27.43; 23,12) lässt sich nur kontextuell begründen, Allgemeinaussagen beziehen sich auf alle Dimensionen von Feindschaft. So in dem von Jesus formulierten Gebot der Feindesliebe (Lk 6,27f ), das Mt 5,43f als Konkretion und Zuspitzung des Nächstenliebegebotes präsentiert ( Ethik; Liebe). Das dem Zitat Du sollst deinen Nächsten lieben (Lev 19,18) hinzugefügte und deinen F. hassen, ist wohl nicht auf spezifische Gebote (etwa der Essener: 1QS 1,10) zu beziehen, sondern soll rhetorisch überspitzt die verbreitete partikulare Auslegungstradition, die den Begriff des Nächsten (z. B. auf Israeliten) einschränkte, als Ausdruck von Feindeshass brandmarken. Feindesliebe ist Ausdruck der Vollkommenheit und imitatio dei (Mt 5,45 48; Lk 6,35f). Sie wird im NT immer gekoppelt an die Aufhebung des Reziprozitätsprinzips, d. h. an die Aufforderung, auf Vergeltung des Bösen zu verzichten (Mt 5,38f; Röm 12,17.19; Mt 5,39b-41: provokativer Gewaltverzicht) bzw. den Feinden aktiv Gutes zu tun (allg. Maximen: Lk 6,27.35; Röm 12,17f.21; konkret: Beten für Verfolger, Mt 5,44; nicht fluchen, speisen und tränken, Röm 12,14.20). Auch Bereitschaft zu innergemeindlichem Sozialausgleich fällt nach Lk 6,32 35 unter die Feindesliebe. In atl.-jüd. Tradition stehen die Bezeichnung des Teufels als F. (Mt 13,39; Lk 10,19; 1 Petr 5,8) und die Hoffnung auf endzeitliche Überwindung der F. durch den Messias (Zitat Ps 110,1: Mk 12,36; Apg 2,35; Hebr 1,13; 10,12f; vgl. die F. der zwei Zeugen: Offb 11,5.12), bezogen auf dämonische Mächte und den Tod in 1 Kor 15, Dieselbe dualistische Grundkonzeption wirkt sich aus in der Bezeichnung der Gegner der christl. Verkündigung (Apg 13,10; Tit 2,8) und selbst innerchristl. Gegner als F. (Phil 3,18: F. des Kreuzes). Letztlich sind alle unerlösten Menschen F. Gottes; das Versöhnungshandeln Christi überwindet diese Feindschaft zwischen dem sarkischen Mensch und Gott (Röm 5,10; 8,7; Kol 1,21) und die Feindschaft zwischen Juden und Heiden in der Gemeinde (Eph 2,14.16). Dies freilich um den Preis neuer Feindschaft: Röm 11,28 nennt die Juden um der Väter willen Geliebte, doch F. um euretwillen. 1 Thess 2,15 bemüht gar den antijudaistischen Topos von der Menschenfeindlichkeit der Juden (Tac. hist. 5,5). I. B. S. Childs, The Enemy from the North and the Chaos Tradition, in: L. G. Perdue/B. W. Kovacs (Hg.), A Prophet to the Nations, Winona Lake 1984, ; V. Haas, Die Dämonisierung des Fremden und des Feindes im Alten Orient: RoczOr 41
196 Fest 184 (1980) 37 44; P. Riede, Im Netz des Jägers, Neukirchen-Vluyn 2000; F. van der Velden, Psalm 109 und die Aussagen zur Feindschädigung in den Psalmen, Stuttgart II. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Neukirchen-Vluyn , ; G. Theißen, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38 48/Lk 6,27 28) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Fest (F.) ( Dachartikel: Kult) Vorbemerkung: Rel. F. stiften nicht nur Gemeinschaft, sondern strukturieren die Zeit und schaffen einen Ort, an dem die von der Gottheit eingerichtete und gelenkte Ordnung der Welt, die Bändigung des Chaos durch Gestaltung des Kosmos ( Weltbild), begangen, erinnert und vergegenwärtigt wird. I. AT: 1. Im Alten Israel wurde, wie in der syr.- kanaan. Welt, der kultische Kalender durch die Jahreszeiten bestimmt und von drei agrarischen Hauptfesten strukturiert: dem Fest der ungesäuerten Brote (Mazzot), dem Fest der Schnitternte (Qazir) oder Wochenfest (Schavuot) und dem Fest der Lese (Asif) oder Laubhüttenfest (Sukkot). Nur diese drei heißen F. (gag). Die beiden ersten finden im Frühjahr, das eine zur Gersten-, das andere zur Weizenernte statt, das dritte im Herbst zur Weinlese und Ernte der Baumfrüchte. Das Herbstfest im siebten Monat gilt in der Tradition als das F. schlechthin (vgl. 1 Kön 8,2.65f u. a.) und verbindet sich mit dem Jahreswechsel. So liegt es nahe, in ihm auch das vorexil. Neujahrsfest zu vermuten, an dem in den Staatsheiligtümern der beiden Reiche Israel und Juda die Thronbesteigung Jhwhs (Ps 93; 29) gefeiert wurde. I. 2. Im AT sind vier Festkalender überliefert: Ex 23,14 17; 34,18 23; Lev 23; Dtn 16,1 16, dazu weitere Bestimmungen in Num 28f und Ez 45. Der älteste Kalender findet sich in Ex 23 und lässt erkennen, dass es sich bei den drei Jahresfesten um Wallfahrten an überregionale Heiligtümer ( Tempel) handelt, um die Erstlinge der Feldfrüchte vor Jhwh darzubringen (Ex 23, 14 17; Erstgeburt). Nur für das erste F. ist ein Datum (sieben Fest Tage im Monat Abib, Ähren ) genannt. Von Ex 23 sind die anderen Fassungen lit. abhängig, die viele Details hinzufügen und den F. nicht nur neue Namen, sondern auch einen neuen Sinn geben. Die wichtigste Neuerung ist die Zentralisierung der F. im Rahmen des Dtn, das die Wallfahrten nach Jerusalem lenkt (Dtn 16,16 17), ausführlich V. 1 15). Mit der Zentralisierung geht der Namenswechsel einher, der beim zweiten Frühjahrsfest die in Wochen berechnete, in Dtn 16,9 auf sieben Wochen und in Lev 23,15f auf fünfzig Tage festgelegte Frist zwischen Gersten- und Weizenernte und beim Herbstfest das Aufstellen von Laubhütten in den Weinbergen (vgl. Ri 21,19 21) berücksichtigt. Das Dtn und die Zentralisierung des Kults werden für gewöhnlich mit 2 Kön 22f in die Zeit Joschijas datiert, doch ist das keineswegs sicher. In exil.-nachexil. Zeit wurden die F. nach und nach historisiert und die Termine festgelegt. Während das Jahr in Israel und Juda traditionellerweise im Herbst (Juli/August) begann, setzt die Numerierung der Monate mit dem mesopotamischen Kalender den Beginn im Frühjahr (März/ April) voraus. Das Mazzotfest wurde als Pascha- Mazzot (14./ I.) mit dem Exodus (nachgetragen auch in Ex 23,15), das Laubhüttenfest ( VII., mit einem zusätzlichen achten Tag in Lev 23,36; Num 29,35ff; vgl. 2 Chr 7,9f; Joh 7,37) mit der Wüstenwanderung (Lev 23,43) und das Wochenfest (im dritten Monat, 50 Tage nach Pascha-Mazzot) nachbibl. mit der Gabe der Tora und dem Bund (vgl. Ex 19,1; 2 Chr 15,10ff; Jub) in Verbindung gebracht. Die F. vergegenwärtigen damit die Gründung Israels in der gesch. Erwählung und der Gabe des Gesetzes. Von ihrem agrarischen Ursprung ist die Festfreude geblieben, die in Dtn 16 bes. betont ist. Lev 23, Num 28f und Ez 45,21 25 rücken demgegenüber den Aspekt der Sühne ins Blickfeld, vermehren die Opfer und schalten vor Beginn des Herbstfests am 15. VII. einen neuen Festtag am 10. VII., den Versöhnungstag (Jom Kippur; Versöhnung), ein (Lev 23,26 32; Num 29,7 11; vgl. Lev 16). I. 3. Eine bes. Bewandtnis hat es mit dem Pascha- Mazzot-F. Der Ursprung des Pascha liegt im Dunkeln. Es handelt sich um einen alten, in vorexil. Zeit vermutlich regelmäßig (vielleicht am
197 Fest 185 Vollmondtag) geübten apotropäischen Ritus zum Schutz vor bösen Geistern. Der Ritus wird in Ex 12 (im Rahmen einer häuslichen Feier) auf den Exodus und die Tötung der Erstgeburt Ägyptens bezogen, in Dtn 16,1 8 (sowie Ex 12,14.15ff) mit dem Mazzotfest verbunden und im Zuge dessen an das zentrale Heiligtum verlegt. Seither gilt das Pascha als öffentliches, am Tempel in Jerusalem zu begehendes F. (2 Kön 23,21 23; 2 Chr 30 im zweiten Monat entsprechend Num 9,6ff; 2 Chr 35; Esra 6,19 22). Das Opfertier soll am Abend vom 14. auf den 15. I. geschlachtet und in der Nacht vor Beginn des siebentägigen Mazzotfests vollständig verzehrt werden (Ex 12, ; Dtn 16,4.6; Lev 23,5 8 und Num 28,16 25). Daraus hat sich in hell.-röm. Zeit die Sitte entwickelt, dass das Paschalamm zwar am Tempel geschlachtet, aber in einem häuslichen Paschamahl (in Jerusalem) zubereitet und gegessen wurde (Mk 14,12ff, Abendmahl). Die Festtermine für das Mazzotfest werden für das späte 5. Jh. v. Chr. in einem Papyrus von Elephantine bestätigt, wo man sich um das Zentralisationsgebot nicht kümmerte. Auch die Verbindung mit dem Pascha findet in dem freilich sehr lückenhaften Text keine Erwähnung. I. 4. Außer den drei Hauptfesten werden oft Neumond und Sabbat in einem Atemzug als Festtermine genannt (2 Kön 4,23; Jes 1,13; Hos 2,13 u. a.). Der Neumondtag wurde in privaten Feiern (1 Sam 20,5f.18.24f) und am Tempel (Ps 81,4; Num 28,11 15; Ez 46,1.3f) begangen und hat sich bis in die nachexil. Zeit behauptet (vgl. 1 Chr 23,31; 2 Chr 2,3; Esra 3,5; Neh 10,34). In Lev 23,24 wird der Neumondtag des siebten Monats, in den das Herbstfest fällt, bes. hervorgehoben und in Num 29,1 als Tag des Lärmblasens bezeichnet. Daraus hat sich der jüd. Neujahrstag am 1. VII. entwickelt (vgl. Neh 8,1ff). Der Sabbat war ursprünglich der Vollmondtag in der Mitte des Monats (vgl. Ps 81,4), wie er in Mesopotamien begangen wurde. Die kultischen Bestimmungen im Festkalender (Lev 23,37f; Num 28,9f; Ez 46,4f) setzen bereits die Zusammenlegung mit dem wöchentlichen Ruhetag (Ex 23,12) voraus (Lev 23,3). Daneben sind eine Reihe von F. zu bes. Anlässen belegt: In der Familie wurden die Entwöhnung des Kindes (Gen 21,8) und vermutlich die Beschneidung, die Hochzeit (Gen 24; Ri 14,10ff; Ehe) und das Begräbnis (2 Sam 3,31ff; Grab) festlich begangen, Hirten feierten die Schafschur (1 Sam 25,2ff; 2 Sam 13,23ff), Könige und ihr Gefolge die Thronbesteigung (1 Kön 1,33ff; 2 Kön 11,4ff) und die Siege über ihre Feinde (1 Sam 15,12); in Notsituationen wurden Klage- und Fastentage abgehalten ( Buße, Trauer). An öffentlichen wie privaten F. nimmt die prophetische Überlieferung Anstoß (Jes 1,11 17; 29,1; Hos 2,13; 6,1 6; Am 5,21 27). Gerügt wird nicht der Kult als solcher, sondern die innere Haltung. Auf der Grundlage des dtn. Zentralisationsgebotes geraten auch die jährlichen Wallfahrten an die überregionalen Heiligtümer wie Bet-El, Gilgal oder Beërscheba, die in vorexil. Zeit völlig unanstößig waren (vgl. 1 Sam 1,3), in die Kritik (Am 4,4f; 5,5). Auf der Grundlage des ersten Gebots werden die F. Jhwhs als Fremdgötterkulte diffamiert (Hos 4; Jer 7,18 u. a.). Die Kultpolemik erscheint so als eine nachträgliche Rationalisierung des göttlichen Gerichts. I. 5. In hell. Zeit kamen neue F. auf. Im (lunaren) Kalender, der sich durchgesetzt hat, sind dies Purim und Chanukka. Die Ätiologie des Purimfests, in 2 Makk 15,36 als Mordechaitag erwähnt, erzählt das Buch Ester, das in Est 9,17 32 die Festlegende enthält. Es wird am 14. und 15. XII. gefeiert und gedenkt der Rache der Juden an den Feinden in der pers. Diaspora. Der Kolophon des griech. Esterbuchs weist in hasm. Zeit. Die Einsetzung des Chanukkafests am 25. IX. geht auf die Wiedereinweihung des Tempels im Jahr 164 v. Chr. zurück, den drei Jahre zuvor Antiochus IV. geschändet hatte (1 Makk 4,36 59; 2 Makk 10,1 8; Ios. ant.iud. 12,316ff). Das Anzünden der Lampen, das dem F. seinen Namen gab, erinnert an einen Vorgang bei der Tempelweihe (1 Makk 4,50) und wird in 2 Makk 1,8.18ff mit einer apokr. Erzählung von Nehemias Fund des heiligen Feuers beim Bau des zweiten Tempels in Verbindung gebracht. Weitere Gedenktage an die makkabäische Erhebung sind der Nikanortag (1 Makk 7,43 49; 2 Makk 15) und der Tag der Einnahme der Akra (1 Makk 13,51f). Nicht durchzusetzen vermochten sich die zusätzlichen F. des (solaren) Festkalenders, der in Qumran und anderen Teilen des antiken Judentums
198 Fleisch / Geist 186 praktiziert wurde (Hen, Jub, Tempelrolle). Er sieht zwei zusätzliche agrarische F., das Neuweinund das Frischölfest, sowie ein Holzabgabefest vor. Die bibl. F. werden beibehalten und genauestens berechnet, fallen aber auf andere Tage als nach dem lunaren Kalender, weswegen es zu heftigen Kontroversen in der Kalenderfrage kam. II. NT: 1. Für Jesus und die frühen Christen werden die F. (griech. Dort1, Fest ) wie selbstverständlich vorausgesetzt. Das F. ist das Pascha (griech. p/sxa, vgl. Mk 14,1f), zu dem auch die Eltern Jesu nach Jerusalem wallfahren (Lk 2,41f). Weiter erwähnt werden Pfingsten, d. h. das 50 Tage nach Pascha-Mazzot (Ostern) liegende Wochenfest (Apg 2,1; 20,16; 1 Kor 16,8), das Laubhüttenfest (Joh 7,2), Chanukka (Joh 10,22) und natürlich der Sabbat. Doch schon für Paulus waren Festtermine irrelevant, wenn nicht eine Gefahr des Rückfalls in den Götzendienst (Gal 4,10; vgl. Kol 2,16f); doch wie bei der Beschneidung empfiehlt er eine christologisch begründete, pragmatische Lösung (Röm 14,5f). Sie wurde auch praktiziert. Viele haben die jüd. F. und Feiertage weiter gehalten, solange der Tempel stand und darüber hinaus (Mt 24,20; Lk 2,41; Apg 2,46f u. a.). Auch die Evangelienüberlieferung nimmt eine vermittelnde Position ein. Die Polemik gegen den Tempel (Mk 11,15ff.par.; Apg 7), den Sabbat (Mk 2,27f.par.), das Fasten (Mk 2,18f.par.) und das Opfern (Mt 5,23f; 12,7; Mk 12,32 34), die Jesus und Stephanus in den Mund gelegt wird, geht über die traditionellen Topoi der prophetischen Kultkritik kaum hinaus ( Prophet). Sie eignet sich eher dafür, die Teilnahme am Kult zu vertiefen, statt sie abzuschaffen. Doch mit der Zeit traten mehr und mehr der Tag des Herrn (Offb 1,10) und das Mahl des Herrn (1 Kor 11,20) am ersten Tag der Woche (1 Kor 16,2; Apg 20,7) in den Vordergrund, der Tag also, der Kreuz und Auferstehung vergegenwärtigt ( Abendmahl) und im kirchlichen Festzyklus bald auch Ostern (Pascha-Mazzot) und Pfingsten (Schavuot) an sich band. I. A. Berlejung, Heilige Zeiten: JBTh 18 (2003) 3 61; C. Körting, Der Schall des Schofar, Berlin u. a. 1999; E. Otto/ T. Schramm, Fest und Freude, Stuttgart II. G. Braulik, Pascha Von der alttestamentlichen Feier zum neutestamentlichen Fest: BiKi 36 (1981) ; S. Galley, Das jüdische Jahr, München 2003; S. Schreiber, Aktualisierung göttlichen Handelns am Pfingsttag: ZNW 93 (2002) Reinhard G. Kratz Fleisch / Geist (F./G.) ( Dachartikel: Anthropologie) Fleisch / Geist Vorbemerkung: Durch die bekannten Zitate Der G. ist willig, aber das F. ist schwach (Mk 14,38par.), Der G. ist es, der lebendig macht; das F. nützt nichts (Joh 6,63) oder die wir nicht nach dem F., sondern nach dem G. leben (Röm 8,4) sind die Begriffe als Gegensatzpaar stark besetzt. F. wird dabei mit Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit verbunden, G. hingegen mit dem weltjenseitigen Göttlichen. Eine solche Antithese wird weder dem bibl. Befund noch der christl. Anthropologie gerecht, weshalb sie heute meist in dieser scharfen Form aufgegeben ist. I. AT: 1. Im AT sind F. (basar, seltener š e {er) und G. (ru a g) keine antithetischen, sondern komplementäre, anthropologische Grundbegriffe. Ein scharf zwischen beiden trennender Dualismus ist zwar im Ansatz an manchen Stellen grundgelegt, wird aber noch nicht ausgebildet. Zunächst bezeichnet der Begriff F. die Weichteile des menschlichen wie tierischen Körpers (außer Knochen, Blut und Organen), kann aber auch für das männliche Geschlechtsorgan (Lev 15,2f.7; Ez 16,26, vgl. Ex 28,42) oder die weibliche Scham (Lev 15,19) stehen. Mit der Rede von allem F. wird die Menschheit (Ijob 12,10; Jes 40,5f; Jer 25,31; Sach 2,17 u. a.), die Tierwelt (Gen 7,15f; Lev 17,14 u. a.) oder die belebte Welt insgesamt (Gen 6,13.19; 9,11.15; Num 18,15; Ps 136,25 u. a.) bezeichnet. Der Begriff F. bezeichnet den Menschen in seiner Leiblichkeit und damit in seiner Vergänglichkeit (Ijob 34,15; Spr 5,11; Ps 78,39; Jes 40,6). Er ist Synonym für die menschliche Schwachheit (Jes 31,3; Ps 56,5; 2 Chr 32,8) und oft auch sündhafte Anfälligkeit (Jer 17,5; Koh 5,5). Trotz dieser Konnotationen ist das AT über weite Strecken nicht leibfeindlich, ein Menschsein ohne F. ist nicht möglich, auch wenn das F. ohne Blut als Sitz der Lebenskraft und ohne G. als Lebensprinzip nicht lebensfähig ist. I. 2. Einen vom Körper unabhängigen G. des
199 Fleisch / Geist 187 Menschen im Sinne einer Seelenvorstellung kennt das AT nicht. ru a g ( G. ) bezeichnet wörtlich die bewegte Luft und kann so vom Sturmwind bis zum leichten Säuseln alles meinen. Der G. wird oft mit dem Atem gleichgesetzt (vgl. Gen 2,7 mit Ez 37,6.8.10, ferner Jes 42,5; Ijob 4,9; 27,3; 34,14). Da durchgehend festgehalten wird, dass der Lebensgeist ausschließlich vom Schöpfergott kommt (Gen 6,3; Jes 57,16; Ijob 33,4) und die Übergänge zum schöpferischen G. Gottes fließend sind (Ps 104,29f; Ijob 34,14f, vgl. auch Gen 1,2), scheint eine trennende Zweiteilung (dualistische Dichotomie) zwischen dem weltlichen F. und dem Geist als Gottesgeist/-atem grundgelegt. Hinzu kommt, dass als G. des Menschen nicht nur das mit dem Atem verbundene Lebensprinzip verstanden wird, sondern darüber hinaus mit Willen, Antrieb und Gemüt verbundene Dimensionen des Personseins bezeichnet (Ps 31,6; 51, ; 77,4.7; Ez 11,19; Ijob 7,11; Spr 18,14 u. a.) werden. Damit ist eine Trennung vom Leib möglich, auch wenn sie im AT selbst aufgrund des ganzheitlichen Verständnisses nie scharf durchgeführt wird. I. 3. Die durch die Komplementarität von Leib und Gottesgeist/-atem angelegte wertende Trennung zwischen F. und G. wird im Frühjudentum verstärkt und zu einem mehr und mehr leibfeindlichen Dualismus ausgebaut (Num 16,22 LXX; Weish 7,1.7; Jub 2,2; 1 Hen 15,4 16,1; TestHiob 27,2; 4Makk 7,18; TestAbr 20 u. a.). In Qumran tritt neben den bibl. Sprachgebrauch die Rede vom Fleischesgeist (1QH 5,13; 4Q416 1,12; 4Q418 81,1f) als Synonym für den Menschen. Zugleich wird aber das F. moralisch als mit Sünde, Schuld und Unrecht konnotiert abgewertet (1QM 4,3; 12,11f; 1QS 4,3.20f; 11,9.12). Bei den antiken jüd. Schriftstellern Philo (LA 1,105; 2,49f; 3,71.158; somn. 2,232, gig. 31 u. a.) und Josephus (ant.iud. 19,325; bel.iud. 3,372; 6,47) führt die hell. beeinflusste Trennung zwischen Leib und Seele zu leibfeindlichen Tendenzen, die eine Lösung des F. von dem G. fordern oder erwarten. II. NT: 1. Die frühjüd. Traditionslinien aufnehmend, wird im NT F. (s/rj) noch stärker mit Hinfälligkeit und Anfälligkeit verbunden und dem G. (pneqma) entgegengesetzt. Zwar ist die Grundlinie des AT, im F. den ganzen Menschen zu sehen und das s/rj nicht abzuwerten, vielfach noch erkennbar (Mt 24,22; Mk 13,20; Lk 3,6; Apg 2,26), doch wird insbes. bei Paulus, wo auch die meisten Belege zu finden sind, s/rj auch als Oppositionsbegriff zu pneqma entfaltet. S/rj steht für die Todesverfallenheit und Sündhaftigkeit des irdischen Menschen (Röm 7,14; 8; 2 Kor 4,11; Gal 4,13f), G. für das Sein in Christus (Röm 7,6f; Gal 3,3; 5,16f; Phil 3,3). Dabei stellt Paulus F. oder im F. sein als notwendige Dimension des Menschseins in der Welt nicht in Frage (Gal 2,19f; Phil 1,22 24). Vielmehr sind fleischlich und weltlich nahezu Synonyme (2 Kor 10,2f; 11,18 u. a.) und da alle Menschen F. sind, sind auch alle Menschen ausnahmslos Sünder (Röm 5,12 21; 8,5 8). Nur durch die Inkarnation in Gestalt des sündigen F. (Röm 8,3) ermöglicht Gott in Jesus Christus die Neuschöpfung im G. Der G. hilft unserer Schwachheit auf (Röm 8,26). Durch die in Christus erwirkte Teilhabe an der Gerechtigkeit Gottes soll der Mensch aber nicht mehr dem F. nach, sondern dem G. nach leben (Röm 8, ; Gal 5,25). Das bedeutet die ethische Realisation der Rechtfertigung in Werken der Liebe, das Fernbleiben von der Sünde und der Widerstand gegen die Begierde des F. (Röm 6,12; 7,7f; 13,14; Gal 5,16). II. 2. Außerhalb des Corpus Paulinum ist die Antithese zwischen G. und F. weniger ausgeprägt. Von bes. Gewicht sind ausgehend von dem Inkarnationsgedanken Joh 1,14 (und der l3gow ist s/rj geworden) die beiden Stellen des Joh (Joh 3,6; 6,63) und wegen der Rezeptionsgesch. das der G. ist willig, doch das F. ist schwach (Mk 14,38; Mt 26,41). Gegenüber den Qumrantexten und auch der pln. Theol. ist hier ein schwächerer Dualismus vorherrschend. Der G. als Sitz des Willens wird dem F., das dem unkontrollierbaren vegetativen Bereich zugeordnet ist, gegenübergesetzt, ohne dass dieses grundlegend abgewertet würde. I. J. Scharbert, Fleisch, Geist und Seele im Pentateuch, Stuttgart 1966; H. J. Stipp, Alles Fleisch hatte seinen Wandel auf der Erde verdorben (Gen 6,12): ZAW 111 (1999) II. E. Brandenburger, Fleisch und Geist, Neukirchen-Vluyn 1980; J. Frey, Die paulinische Antithese von Fleisch und Geist und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition: ZNW 90 (1999) 45 77; O. Hofius, Widerstreit zwischen Fleisch und Geist?, in: U. Mittmann-Richert u. a. (Hg.), Der Mensch vor Gott, Neukirchen-Vluyn 2003, Christian Frevel
200 Frau / Mann 188 Frau / Mann (F./M.) ( Dachartikel: Anthropologie) I. AT: 1. Das bibl. Verhältnis von M. und F. kann aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Eine erste ist die der biologischen Unterschiede, eine zweite die der differenten Geschlechterrollen von F. und M. (sex/gender-problematik) einschließlich deren soziokultureller Einbindung. Eine dritte ist die der anthropologischen Grundlagen zum Geschlechterverhältnis. Die Ebenen sind nicht randscharf voneinander zu trennen. Alle Überlegungen gehen von derselben Voraussetzung aus: Sowohl für die atl. wie die ntl. Welt ist von einem stark asymmetrischen Geschlechterverhältnis auszugehen, in dem der M. eindeutig der F. vorund übergeordnet wird ( Sozialstatus). Schon die Terminologie spiegelt dieses Gefälle, wenn der Ehemann hebr. ba}al Herr (Ex 21,22; Dtn 24,1; Joël 1,8 u. a.), die Ehefrau aber nicht ba} a la Herrin, sondern hebr. {išša Frau (lexematisches Gegenstück zu hebr. {iš Mann ) heißt. Obwohl im zweiten Schöpfungsbericht Gott das Gattungswesen {adam Mensch erschafft (Gen 2,5.7.8), wird dieser durch die später eingetragene Stammelternperspektive zu dem M. Adam. Diese geschlechtliche Fixierung war wegen der sprachlichen Offenheit des Terminus {adam möglich, der Mensch wie M. bedeuten kann. Auch im NT wird die Ehefrau über den M. definiert, z. B. Röm 7,2, wo Paulus die (verheiratete) F. (griech. gzn1) durch Hpandrow gzn1 dem M. (griech. Bn1r) zuordnet. Die bibl. Texte durchbrechen diese Asymmetrie nur partiell, heben sie aber nicht generell auf, sondern begründen sie und schreiben sie im Kontext patriarchalen Denkens fort. Dementsprechend bleiben F. über weite Strecken unsichtbar und passiv. Auf der anderen Seite sind sich die Texte im Blick auf die Erlösung der Kontingenz ihrer patriarchalen Grundlagen bewusst. Von bes. Wichtigkeit ist deshalb der Blick auf die Texte, die das Geschlechterverhältnis thematisieren und durchbrechen. I. 2. Die biologischen Unterschiede zwischen M. und F. sind zwar bekannt und führen zu differenten Bewertungen, werden insgesamt aber nur selten thematisiert. Beispiele sind die Differenzierung in den Körperflüssigkeiten (Lev 15) oder in Frau / Mann der Haartracht (Bart, Glatze u. a. Lev 13,40f). Aufgrund der körperlichen Unterschiede gelten Frauen von Ausnahmen wie Jaël Ri 4,9.21 oder Judit Jdt 8 16 abgesehen als schwächer, Männer als kampfstärker. Die unterschiedliche Wertigkeit der Geschlechter über biologische Unterschiede hinaus zeigt sich beispielhaft in der geschlechtsspezifischen Differenzierung im Preis für personengebundene Gelübde (Lev 27,1 7, vgl. aber den gleichen Preis für Sklave wie Sklavin in Ex 21,32). In der differenzierten Gesellschaft im Israel der Königszeit sind Geschlechterrollen stark ausgeprägt. Jede Überschreitung festgelegter Rollen wird strikt abgelehnt (Dtn 22,5). Die am Jerusalemer Tempel Dienst tuenden Priester, die Propheten, Berufsbeamten und -soldaten scheinen nahezu ausschließlich M. gewesen zu sein (Ausnahmen sind etwa die F. am Offenbarungszelt Ex 38,8; 1 Sam 2,22 mit nichtpriesterlichen Funktionen, die F., die für Aschera in den Tempelgebäuden Webarbeiten ausführen 2 Kön 23,7, Hulda 2 Kön 22,14; die Prophetin bzw. F. des Jesaja Jes 8,3 oder Noadja Neh 6,14). I. 3. Mit zunehmender Ablösung der Subsistenzwirtschaft durch den Handel mit Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln sowie der Herausbildung der Kleinfamilie und ökonomischer Strukturen wächst die Zuordnung von F. zum Haushalt. Zuvor war die F. ebenso für die Viehzucht wie für Bereiche des Ackerbaus und für die Herstellung von Naturprodukten (Mehl, Wolle, Wein, Textilien usw.) (mit-)zuständig. Mit der Herausbildung einer Volkswirtschaft auf der Grundlage von Marktbeziehungen differenzieren sich Berufe aus, die meist von M. ausgeübt werden (Töpfer, Bäcker, Weber, Winzer, Fischer u. a.). F. wird in diesem Kontext mehr und mehr die (gesellschaftlich geachtete, vgl. Spr 31) Rolle der Hausfrau und Mutter zugewiesen, die für die Haushaltsführung sowie die Alten- und Kinderversorgung zuständig ist. Diese Arbeitsteilung gilt bis in ntl. Zeit. I. 4. In Gesellschaften, für die die Fortführung genealogischer Linien in möglichst breiter Form oberstes Ziel ist, werden Frauenrollen häufig zwar nicht vollständig auf Mutterschaft reduziert, aber doch darüber definiert ( Familie, Ehe). Ausnahmen von F. mit Ämtern oder gesellschaft-
201 Frau / Mann 189 lichen Funktionen (etwa Debora, Hulda, Judit, die F. von En-Dor u. a.) sind eher selten. Patriarchales Recht und patriarchales Denken definieren F. und ihren gesellschaftlichen Status (auch wenn sie ihnen grundsätzlich mit Respekt begegnen) über diejenigen, die über ihre Sexualität verfügen: Das Mädchen über den Vater, die F. über ihren M. Relativ selbstbestimmt sind geschiedene bzw. aus der Ehe entlassene F., sofern sie nicht zurück in den Verfügungsbereich ihres Vaters oder Vaterbruders überführt werden. Unabhängig, aber sozial schwach sind Witwen und Waisen, denen die entsprechenden ökonomischen und sozialen Schutzräume des Patriarchats fehlen (vgl. die Schutzrechte und -appelle Ex 22,21; Dtn 14,29; 24,17; Ps 68,6 u. a.). Sie sind auf Almosen oder familiäre Solidarität angewiesen (Rut 2f; Gen 38; Dtn 24,19, vgl. Lev 19,9f; 23,22 u. a.). Sowohl ökonomisch wie sozial unabhängig sind lediglich Prostituierte. Während der ehelose M. ökonomisch wie sozial selbständig in der patriarchalen Gesellschaft leben kann, bleibt die ehelose F. abhängig, nämlich im Verfügungsbereich des Vaters und seiner Familie. Die Ehe als soziale Institution (die in der ao. Welt deutlicher Zweck- als Liebesbeziehung ist) ist in der patriarchalen Welt für Männer nur als Voraussetzung der genealogischen Weiterexistenz notwendig, während sie für F. und die Familie des Vaters eine soziale Notwendigkeit darstellt. Vielleicht liegt in der Gefahr der sozialen Verelendung geschiedener F. einer der Gründe für die Ablehnung der Ehescheidung durch Jesus (Mt 5,28). I. 5. Obwohl in der Realität starke Unterschiede im Status zwischen M. und F. existieren, gehen die anthropologischen Grundlagentexte des AT zumindest für die anfängliche Schöpfung von der fundamentalen Gleichheit der Geschlechter aus. Gott schafft den Menschen im ersten, priesterschriftlichen Schöpfungsbericht als M. und F. Beide sind gleichermaßen Bild Gottes (Gen 1,26f; Ebenbild). Trotz der überwiegend negativen Rezeption trägt auch der zweite Schöpfungsbericht kein Gefälle zwischen M. und F. vom Anfang her ein. Nicht Adam wird zuerst erschaffen, sondern das Gattungswesen Mensch. Erst durch die Differenzierung in M. und F. ist der Mensch als zweigeschlechtliches Wesen vollständig. Die Bezeichnung der F. als Hilfe (Gen 2,18.20) darf nicht als Haushaltshilfe, Magd oder in anderer sozial abwertender oder unterordnender Weise verstanden werden, sondern muss von dem erläuternden die ihm entspricht ausgehend als partnerschaftliches Gegenüber interpretiert ausgehend werden. Auch darf die Frage der Schuld am Sündenfall (Gen 3) trotz des Dialogs mit der Schlange nicht einseitig zu Lasten der F. gedeutet werden. Vielmehr hält die Gartenerzählung fest, dass sich der Mensch als M. und F. gegen das Gebot Gottes vergangen hat. Die Strafsprüche schreiben eine Wirklichkeit fest, die erst durch den Sündenfall entsteht: Festgefügte Geschlechterrollen und ein Herrschaftsgefälle zulasten der F. (Gen 3,16 19). Die unverstellte, zweckfreie und partnerschaftliche Sexualität wird durch die Scham als Folge der Sünde zurückgedrängt. Zusammengefasst: In den Schöpfungsberichten wird der Mensch als zweigeschlechtliches Wesen erschaffen. M. und F. sind sich zugleich polar wie komplementär zugewandt. Das partnerschaftliche Gegenüber von M. und F. ist das schöpfungsgemäße Verhältnis der Geschlechter, die patriarchale Asymmetrie ist Folge der Sünde. I. 6. Diese in der Schöpfung wurzelnde fundamentale Gleichheit droht in der späten Weisheitstradition aufgegeben zu werden, wenn auch unter zunehmendem hell. Einfluss die F. als potentielle Gefährdung des Weisheitssuchenden verstanden wird (Spr 7; Sir 9; 19,2; 25f). Den Gipfel bildet die tendenziöse Interpretation von Gen 3 durch Sir 25,24, wo einseitig die Schuld auf die Seite der F. verlagert und die F. verantwortlich für die Sterblichkeit des Menschen gemacht wird. Durch die frauenfeindliche Rezeption über Jahrhunderte hat dieser Vers viel Unheil angerichtet, sodass die von stark differenten Geschlechterrollen geprägten, aber doch nicht durchgehend negativen Aussagen über die F. in der späten Weisheitslit. in den Hintergrund geraten sind. II. NT: 1. Auch Paulus steht in seinen, die F. abwertenden Tendenzen in dieser Linie der Rezeption von Gen 3. Etwa wenn er in der hierarchischen, von Christus her entwickelten Ableitung der Gottebenbildlichkeit ( Ebenbild) der F. nur eine vom M. abgeleitete Gottebenbildlichkeit ( Abglanz des M. ) (1 Kor 11,7) zuspricht oder die F. als auf den M. hin geschaffen versteht (1
202 Freiheit 190 Kor 11,9). Deutlich ist dies auch in 1 Tim 2,11 15, wo ein Paulusschüler aus Kleinasien/Ephesus den M. mit Verweis auf Gen 2/3 als Ersterschaffenen der F. vorordnet und die F. auf die Mutterrolle eng führt. Die deuteropln. Haustafelethik fordert im Einklang mit der Antike trotz Wertschätzung der F. deren soziale Unterordnung unter den M. (Kol 3,18; Eph 5,22f). Die auf die häusliche Ökonomie gerichtete Ordnung ( Familie) wie die davon abgeleitete Gemeindeordnung (1 Kor 14,34f; 1 Tim 2,12) schreibt im Herrn ein Geschlechtergefälle fest, das weder der Schöpfungs- noch der Erlösungsordnung entspricht. Das macht der Blick auf Gal 3,28 deutlich, wo es mit der Taufe in Christus nicht mehr M. und F. gibt. Die diskriminierenden Geschlechterrollen, die einen Unterschied zwischen männlich und weiblich im Menschsein festhalten, werden in der (eschatologischen) Neuschöpfung, die in der Taufe symbolisiert ist, überwunden. II. 2. Wie im AT (Gen 1 3) ist eine Differenz zwischen patriarchaler Sozialordnung einerseits und egalitärer Erlösungsordnung andererseits festzustellen (vgl. Mk 12,25par.). Von der Naherwartung ist auch die pln. Maxime der Ehelosigkeit 1 Kor 7 geprägt. Paulus lehnt sowohl die strenge sexuelle Askese als auch die Scheidung um des Ev. willen ab. Auch wenn eine charismatische Ehelosigkeit wegen der ungeteilten Zuwendung zum wiederkehrenden Herrn nach Paulus den Vorzug verdient, lehnt er die partnerschaftliche Zuordnung der Geschlechter in der Ehe nicht prinzipiell ab, sondern bewertet sie grundsätzlich als schöpfungsgemäß. II. 3. Obwohl die Sozialordnung durchgehend patriarchal strukturiert bleibt, ist in der Beteiligung von F. in der Verkündigung gegenüber dem AT insgesamt gesehen eine Akzentverschiebung zu verzeichnen. In der Mission in den pln. Gemeinden ebenso wie in der Jerusalemer Urgemeinde spielen F. eine erkennbar größere Rolle. Dies scheint in einer Tendenz stärkerer öffentlicher Gleichberechtigung in der griech.-röm. Antike, dem in der Anthropologie des AT wurzelnden Verhalten Jesu und der in anthropologischer Rücksicht egalisierenden christl. Erlösungsbotschaft begründet zu sein. Auch wenn Jesus die traditionelle patriarchale Ordnung nicht aufhebt oder die Androzentrik der Sprache nicht überwindet, zeigen die vorurteilsfreien, offenen Begegnungen mit F., ihre Beteiligung am Jüngerkreis und die Hineinnahme in die Bildworte seiner Verkündigung eine grundlegende Gleichwertigkeit von M. und F. Jesus ist nicht der sozialrevolutionäre Cross-Gender-Rabbi und auch nicht der erste neue M., sondern steht fest auf dem Boden des zeitgenössischen Judentums in der Tradition der schöpfungsgemäßen Gleichwertigkeit der Geschlechter, die den Menschen nur als M. und F. begreifen will und kann. Die Gegenposition, die Jesus in idealisierender Weise von dem damaligen jüd. Patriarchalismus radikal abhebt, ist hist. unzutreffend und tendenziell antijudaistisch. II. 4. Zusammenfassend: Weder AT noch NT schreiben bestimmte Rollenmuster und Herrschaftsverhältnisse von M. und F. dauerhaft und unhintergehbar fest. Die schöpfungsgemäße Gleichheit vor Gott und die partnerschaftliche Zuordnung der Geschlechter bleibt von der bibl. Tradition aus betrachtet kritisches Korrektiv für heutige Anthropologien. Gesellschaftlicher Status und Geschlechterrollen sind hingegen soziokulturell wie zeitbedingt und aus bibl. Sicht wandelbar. I. C. Frevel/O. Wischmeyer, Menschsein, Würzburg 2003; E. Gerstenberger/W. Schrage, Frau und Mann, Stuttgart 1980; E. Klinger u. a., Geschlechterdifferenz, Würzburg II. G. Dautzenberg u. a. (Hg.), Die Frau im Urchristentum, Freiburg 1983; H. Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, Freiburg 1997; T. Schneider (Hg.), Mann und Frau Grundproblem theologischer Anthropologie, Freiburg Christian Frevel Freiheit (F.) ( Dachartikel: Ethik) Freiheit Vorbemerkung: F. eignet in der deutschen Sprache eine relativ breite Bedeutung, die philos., theol., polit. und sozial bestimmt ist. Wiewohl das neuzeitliche Verständnis von F. auch Elemente der griech. antiken Philos. tradiert und in das Verständnis auch insbes. seit der Reformation bibeltheol. Aspekte eingeflossen sind, ist es notwendig zu betonen, dass es ahistorisch wäre, eine deckungsgleiche Vorstellung in der Bibel zu erwarten. F. ist zwar ein Thema der Bibel, aber eben auf
203 Freiheit 191 eigene Art und Weise, die sich nicht zuletzt der narrativen Grundstruktur verdankt. I. AT: 1. Bezeichnenderweise fehlt im AT ein substantivisches Äquivalent zu F.; gleichwohl kennt das AT eine narrative Reflexion über den Zustand der Unfreiheit und den der F., wobei letzterer der ist, der dem Menschen zukommt. I. 2. Grundlegend für jedes bibl. Reden von F. ist der Gedanke der unverfügbaren, dem Menschen im letzten unbegreiflichen F. Gottes. In ihr erweist er sich als der nahe und zugleich ferne, der daseiende und sich verbergende Gott (Jer 23,23). In der Erfahrung der F. Gottes bricht die Frage nach dem Menschen selbst auf, der sich nicht sich selbst, sondern ausschließlich Gott verdankt, sodass die anthropologische Frage immer notwendig in die theol. mündet (Ps 8; Anthropologie). Die Wichtigkeit des Gedankens der F. Gottes für das AT ist an der Konzeption des Gottesvolks Israel abzulesen. Israels Sein geht auf Gottes Handeln aus Erbarmen ( Barmherzigkeit) zurück (Ex 3,6f); ein weiterer Grund ist nicht benennbar (Jes 46,10). Zu diesem F.-Akt Gottes hat Israel selbst nichts hinzugetan; das, was es ist, ist es durch Gott allein (Dtn 7,7; 9,6). Die Konstituierung Israels selbst vollzieht sich durch einen Erweis der F., indem Gott sein Volk aus Ägypten führt und es sich unterstellt. Die Befreiung Israels hat ihr Ziel im Dienst an Gott (Ex 7,16; 8, ; 9,1.13; 10,3). Diese Erlösung (Dtn 7,8; 13,5) meint die polit. F. von Unterdrückung und Fremdbestimmung, die aber immer nur F. vor Gott sein kann. Wie immer der hist. Exodus zu bewerten ist, so bleibt das daraus erwachsende F.- Verständnis, dessen Besonderheit die Verschränkung von Politischem und Religiösem darstellt, bleibend gültig. Die Bedrohung der F. des Volkes bedeutet zugleich die Infragestellung der F. zum Dienst für den Gott, der diese F. begründet und garantiert. Wenn aber diese F. nicht gesichert ist, ist polit. F. notwendig fragmentarisch und defizitär (Jer). Ein nicht-theol. begründeter F.-Begriff ist der Bibel völlig fremd. Aufgrund dieser Konzeption ist die Sklaverei, jedoch nur insoweit es sich um israelit. Sklaven handelt, problematisch, da sie eine Verletzung des F.-Willens Gottes für sein Volk darstellt. Die Freilassung dieser Sklaven bzw. Gefangenen ist ein dem F.-Handeln Gottes entsprechendes Tun (Ex 21,1 11), das deswegen auch als wahrer Gottesdienst (Jer 58,6; mit Gerichtsdrohung in Jer 34,8 22) eingefordert und als Hoffnung proklamiert (Jes 61,1) werden kann. Eine partielle F.-Erfahrung auch für Unfreie bietet der Sabbat, an dem alle unterschiedslos, ob frei oder unfrei, den Tag des Herrn begehen (Ex 20,10) und somit die F. verwirklicht erfahren können (Dtn 5,14f). Die Erfahrung des Bösen hängt mit der Frage nach der F. des menschlichen Handelns zusammen. Die atl. Theol. hält daran fest, dass der Mensch als Geschöpf von Gott in das Vermögen gesetzt wurde, sich für Gut oder Böse frei zu entscheiden (Gen 3; Dtn 30,15 20; Jes 7,15f). Selbst der Gedanke der Verstockung eines Menschen durch Gott (Ex 7,3) bedeutet nicht, dass dessen F. der Entscheidung aufgehoben ist (Ex 8,11). Die Verstockung folgt vielmehr der Entscheidung zum Bösen. Da die Tora den Willen Gottes und somit den Weg zur F. mit und vor Gott aufweist, ist die Ablehnung der Tora durch den Menschen zwar ein bewusster Akt der freien Entscheidung, die ihn aber de facto in die Unfreiheit, weil Gottesferne, führt (Lev 26,15 35; 1 Kön 9,6f; 1 Chr 28,9; Jer 8,9; 31,37; Ez 5,6; Hos 4,6; 9,17). II. NT: 1. Für F. steht im Griech. bes. der Begriff Elezuer2a ( F. ), aber auch Ejozs2a ( F., Fähigkeit, Macht, Vollmacht ). II. 2. Für das NT bleibt die atl. Konzeption der von Gott ermöglichten und gewirkten F. von Gültigkeit. Auch wenn der Begriff F. im 20. Jh. zu einem Interpretament der pln. Theol. wurde F. vom Gesetz; von der Sünde, vom Tod, ist die methodische Unterscheidung von Text und Rezeption zu beachten. In der Verkündigung Jesu begegnet F. bis auf Mt 17,24 27, die Debatte um die Tempelsteuer, nicht. Allerdings ist hier in der F. der Söhne ein Gedanke festgehalten, der dem Verhalten Jesu durchaus entspricht, nämlich der F. von gesellschaftlichen Verhaltensmustern aus der völligen Bindung an Gott, die eine F. gegen die Vorbefindlichkeit der Welt ermöglicht und damit in letzter Konsequenz eine subversive Infragestellung bedeutet. Allerdings ist davon, soweit zu erkennen ist, auch nicht die Hoffnung auf polit. und rel. F. ausgenommen. Sympathien mit den Anfängen der judäischen Befreiungsbewegung sind bei Jesus nicht festzustellen. F. erwartet er von Gott allein durch Gottes Handeln, und
204 192 zwar im Sinne einer vollkommenen Restituierung Israels als Volk Gottes (Mk 2,17; 6,34; Mt 10,6; 15,24). Dass für Jesus die gute Herrschaft Gottes das Ende der menschlichen Herrschaft über Menschen bedeutet, ist anzunehmen; diese Implikation der Gottesreichverkündigung brachte ihn ans Kreuz. Eine antizipatorische Erfahrung der zukünftigen F. des Reiches Gottes konkretisiert sich in den Wundern, insbes. den Dämonenaustreibungen, die den Menschen wieder zu seinem Selbst und einem menschlichen Leben befreien. Indem sie aus der Knechtung und Unfreiheit des Bösen retten, stellen sie den Menschen in die F. vor Gott. Die lk. Theol. hat diesen Aspekt der jesuanischen Praxis konsequent vom Motiv des Jubeljahres her gedeutet (Lk 4,16 30; 7,20 23). II. 3. In den pln. Briefen findet sich das Wortfeld F. häufiger in unterschiedlichen Kontexten (Röm 6, ; 7,3; 8,21; 1 Kor 7,21f.39; 9,1.19; 10,29; 12,13; 2 Kor 3,17; Gal 2,4; 3,28; 4,22f.26.30f; 5,1.13). Innerhalb der Gemeinden ist nach Paulus die F. Gottes bereits Realität geworden, da hier trennende Unterschiede aufgehoben sind (Gal 3,28; 1 Kor 12,13); diese Negierung des Bestehenden betrifft auch die Sklaverei (1 Kor 7,22), obwohl daraus nicht eine Forderung nach der Sklavenfreilassung folgt (Phlm). Diese neue Ordnung ist gegründet in Christus und bezeugt ihn (2 Kor 3,17). Die christologische Heilswirklichkeit der Glaubenden ist bestimmt durch die F. von Sünde und die Herrschaft Gottes. (Röm 6,1 14). Es findet sich das Schema der Exoduserfahrung, nach der Befreiung von Unterdrückung zu Gott führen muss. Die durch Tod und Auferstehung Jesu geschehene Befreiung ermöglicht das Tun des Gesetzes in Liebe (Gal 5,14.23; Röm 8,14 17). Der Mensch, der das Ev. angenommen hat, ist dem Gesetz, das vor Christus die menschliche Sünde aufdeckt und ihm so, von dieser instrumentalisiert, den Tod bringt, nicht mehr unterworfen (Röm 8,1 4), sondern kann es erfüllen ( Rechtfertigung). Die F. nach der Taufe ist eine zum Tun des Willens Gottes; hierzu ist der Mensch allein durch Gott befähigt. Die durch Sünde und Tod korrumpierte F. des Menschen wird rekonstruiert, wobei es zu der paradoxen Situation kommen kann, dass der zur F. gekommene Mensch sich gegen Gott als seinen Befreier Fremder wendend diese F. wieder an die Sünde verspielt (1 Kor 5f). Anhand der Problematik des Verzehrs von Götzenopferfleisch entfaltet Paulus die soziale Dimension der F., die in der Rücksichtnahme auf Andere ihre Begrenzung findet (1 Kor 10,29). F. ist dem Menschen geschenkt. Sie realisiert sich in der Verantwortung für sich und die Anderen (Gal 5,13; vgl. 1 Petr 2,15f). Die bibl. Konzeption der F. geht von einem hohen Verantwortungsbewusstsein der Menschen aus. Gottes Gaben der Tora und Liebe verhelfen zu ihrer Verwirklichung, was aber nicht ausschließt, dass der Mensch in F. einer Pseudo-F. anheimfällt, die ihn von Gott, den Menschen und sich selbst entfremdet. I. G. Braulik, Zur deuteronomistischen Konzeption von Freiheit und Frieden, in: ders., Studien zur Theologie des Deuteronomiums, Stuttgart 1988, ; B. M. Couch, Befreiung: eine biblische Vision (1Sam 1,2 2,11): Conc. 33 (1997) ; C. Dohmen, Um unserer Freiheit willen: IKaZ 21 (1992) 7 24; H. F. Fuhs, Aus der Befreiung leben, in: K. Backhaus/F. G. Untergaßmair (Hg.), Schrift und Tradition, Wien u. a. 1996, 3 18; C. Hardmeier (Hg.), Freiheit und Recht, Gütersloh 2003; L. Schottroff, Befreiungserfahrungen, in: dies., Befreiungserfahrungen, München 1990, ; U. Struppe, Aus der Knechtschaft in die Freiheit: HlD 46 (1992) II. W. Huber, Zur Freiheit berufen, Gütersloh 1996; F. S. Jones, Freiheit in den Briefen des Apostels Paulus, Göttingen 1987; K. Niederwimmer, Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament, Berlin 1966; H.-R. Reuter (Hg.), Freiheit verantworten, Gütersloh Rainer Kampling Fremder (F.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Fremder I. AT: 1. Das Hebr. unterscheidet zwischen dem F. als Ausländer (nokri), dem Andersartigen, Abweichenden (zar), der außerhalb der Gemeinschaft stand, und dem zugezogenen Beisassen (tošab) oder niedergelassenen Schutzbürger (ger), die mit bestimmten Einschränkungen in die Gesellschaft aufgenommen wurden. I. 2. Die Kategorie des F./Andersartigen (gegenüber dem Einheimischen/Vertrauten) ist problematisch und von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängig, die sowohl gesellschaftlich wie individuell vorgegeben sind und die Anwendung
205 Fremder 193 der Begrifflichkeit prägen. Dabei ist zwischen der Innen- und der Außenperspektive, der Eigenund der Fremdbezeichnung zu unterscheiden: Eine Gemeinschaft kann z. B. Menschen als abweichend/fremd marginalisieren, obwohl dieselben selbst durchaus der Ansicht sind, dieser Gemeinschaft anzugehören. Wer die Grenzen zwischen üblich/einheimisch und abweichend/ fremd(artig) zieht, mit welcher Absicht, in welchem Kontext und zu welchem Zeitpunkt, ist daher jeweils kritisch zu hinterfragen. Die Ausgrenzung anderer Menschen als F. gehört zu den Auseinandersetzungsstrategien, mit denen Menschen andere Menschen stigmatisieren, deklassieren und bestehende unerwünschte Beziehungen aufbrechen können. Umgekehrt kann man zwischen separaten sozialen Systemen Zusammenhänge herstellen, indem man eine verwandtschaftliche Bindung behauptet (z. B. durch gemeinsame Genealogien), die hist. nicht zutrifft. So wird das Fremde im Rahmen einer Wahlverwandtschaft über die Konstruktion einer Blutsverwandtschaft dem Vertrauten/Eigenen angeeignet (z. B. Dtn 26,5). Andersartigkeit/Fremdheit spielt bei Konflikten zwischen Gesellschaften, jedoch auch bei innergesellschaftlichen Kontroversen eine Rolle. Bei letzteren kann es dazu kommen, dass eine Gruppe eine andere als fremd abqualifiziert und ihr damit die Ebenbürtigkeit und Rechtmäßigkeit abspricht: Im Zuge der Identitätsbestimmung der nachexil. judäischen Gesellschaft kam es zur Konstruktion der Fremdheit des Gottesvolks Israel gegenüber den kanaanäischen Vor- und Mitbewohnern des Landes, obwohl mit neueren Landnahmetheorien davon auszugehen ist, dass Israel hist. größtenteils in und aus Kanaan/Kanaanäern entstanden ist. Der Gegensatz zwischen Israel und Kanaan, Einwanderern und Kulturlandbewohnern, den das AT aufbaut, ist als ein Interpretationsmuster der nachexil. Zeit zu verstehen, durch das man im Ringen um Kriterien zur eigenen Identitätsbestimmung die Distanz zum eigenen Lebensraum, der eigenen Sprache und ethnischen Zugehörigkeit ausdrückte. Wer ein F. oder Ausländer war oder nicht, war in Palästina, das zu allen Zeiten eine sozial, polit., ethnisch wie geographisch stark fragmentierte multikulturelle Gesellschaft war, kaum eindeutig festzulegen. 1 Kön 8,41 kann nicht als Definition eines Ausländers gelten, da weder die Größe Volk Israel (Juda?) fest umrissen ist noch die Herkunft aus einem fernen Land (ausgehend von welchen Distanzen und Landesgrenzen?) eindeutige Angaben sind. Die Territorialgrenzen der Stämme, der beiden Königreiche Israel und Juda sowie der nachfolgenden Provinzen variierten im Laufe der Geschichte beträchtlich, sodass die polit./ethnischen/kulturellen/kultgemeinschaftlichen Grenzen immer in Bewegung waren und das Fremde schnell zum Vertrauten werden konnte. I. 3. Durchreisende Ausländer/Andersartige (nokri, zar) und ansässige Beisassen/Schutzbürger (tošab, ger) waren unterschiedlich gestellt. Der ger stand nach dem AT explizit unter göttlichem Schutz (Dtn 10,18), was vom durchreisenden Ausländer so nicht belegt ist. Für alle galt jedoch: Innerhalb der vorderorientalischen Gesellschaft mit ihrem strukturierten Arrangement von zugewiesenen und weitgehend ererbten Rollen konnten Außenstehende, die keine Verbindungen zu ansässigen Familien hatten, nur am Rande des Gesellschaftsgefüges in untergeordnetem Status bestehen. Von zugezogenen/durchreisenden F. befürchtete man, dass sie eine Gefährdung des ererbten (= zugeteilten) sozialen Status der Gemeinschaftsmitglieder oder andere unerwünschte Veränderungen bringen würden, die als Destabilisierung der gegenwärtigen Situation abgelehnt wurden. Ein F. war daher immer ein potentieller Feind. Dem Andersartigen begegnete man mit Misstrauen, Abwehr, Aggression, aber auch Gastfreundschaft, die zwischen den Beteiligten ein System komplexer Loyalitäten schuf und dem F. einen Teil seiner Fremdheit nahm. Der Beisasse/ Schutzbürger, der sich dauerhaft im Gastland ansiedelte, verlor ebenfalls einen Teil seiner Fremdheit, sodass er einen Status erwarb, der ihn der Gemeinschaft annäherte. Für ihn kennt das AT diverse Gesetze, die sein Recht am Rand der Gesellschaft schützen sollten (Ex 22,20f; 23,9). Er war als Zugezogener teilweise integriert und durfte Häuser besitzen (Gen 19,9). War er arm, wurde er zusammen mit Witwen und Waisen in die Notlinderungsgesetze aufgenommen (Lev 19,10; Dtn 24,19 21). Die Sorge für den Schutzbürger wurde heilsgesch. motiviert, da Ex 22,20; 23,9; Lev 19,33f; Dtn 10,19 darauf verweisen, dass das Gottesvolk selbst in Ägypten Schutzbürger war.
206 194 Lev 19,33f; Dtn 10,18f gehen über die Solidaritätsforderung hinaus, indem sie den ger in das Gebot der Nächstenliebe mit einbeziehen ( Nächster). In rel. Hinsicht gelten in nachexil. Zeit für beschnittene Schutzbürger (Ex 12,48) und Angehörige des Gottesvolkes dieselben Vorschriften der Sabbatheiligung (Ex 20,10; Dtn 5,14), des Fastens am Versöhnungstag (Lev 16,29), der Pascha-Feier (Num 9,14) sowie der Einhaltung der Opfer- und Reinheitsvorschriften (Lev 17,8 16), wodurch der ger in priesterlicher Tradition zum Gemeindemitglied wird. Die LXX übersetzt den hebr. Begriff ger mit pros1lztow ( der Hinzugekommene ), was auf Proselyten, d. h. Heiden ohne jüd. Vorfahren, zu beziehen ist, die die Bundesverpflichtungen ( Beschneidung, Sabbatobservanz, Speisegebote) befolgten. Diese Offenheit jüd. Gemeinden, Konvertiten aufzunehmen, galt vor allem für das hell. Judentum und Diasporagemeinden. Esra 9 und Neh 13 bezeugen, dass man in Bezug auf die nachexil. Fragestellung, wie mit F. und Ausländern in Bezug auf die Aufnahme in das Gottesvolk Jhwhs als Kultgemeinschaft verfahren werden sollte, in Jerusalem sehr exklusiv partikulare Ansichten vertrat (die bis zur Auflösung der sog. Mischehen führte; Ehe), während Jona, Rut, 1 Kön 8,41 43 und Jes 56,3 zeigen, dass durchaus auch integrative und universalistische Positionen vertreten wurden. In spiritualisierter Weise kann auch das Gottesvolk selbst als Schutzbürger im Land bezeichnet werden, dessen eigentlicher Eigentümer Jhwh ist (Lev 25,23; Ps 39,13), der seinem Volk Zuflucht und Asyl gewährt. II. NT: 1. Das substantivierte Adjektiv j0now für den rechtlosen F. im Gegensatz zum Bürger (pol2thw) bedeutet zugleich auch Gast ; entsprechend kann das Verbum jen2yein gastlich aufnehmen, aber auch befremden bedeuten. Weitere wichtige Worte für F. im NT sind p/roikow (von par/ bei und omkow Haus ), Nachbar, ansässiger F. und parep2dhmow (abgeleitet von dvmow Volk ), Zugezogener. II. 2. Die überkommene Pflicht, F. gastlich aufzunehmen, hat auch im NT einen hohen Stellenwert, sie gilt in Mt 25, f sogar als Kriterium im End-Gericht. Freilich liegt der Schwerpunkt der Ermahnung meist auf der Gastfreundschaft (filojen2a) unter Glaubensgeschwistern (Röm Fremder 12, 13; Hebr 13,2; 1 Petr 4,9), insbes. Missionare waren darauf angewiesen (Phlm 22; 3 Joh 5; Apg 10,6 u. a.). Die Rolle des Gaius in Korinth als Gastgeber (j0now) des Paulus und der ganzen Gemeinde (Röm 16,23) beleuchtet die zentrale Rolle privater Versammlungsräume im urchristl. Gemeindeleben und erklärt, warum Gastfreiheit unter den Merkmalen genannt wird, die zum Bischofs- bzw. Witwenamt qualifizierten (1 Tim 3,2; 5,10; Tit 1,8). Während das Judentum und die meisten antiken Rel. ethnisch gebunden waren, überwindet die urchristl. Bewegung diese Beschränkung und die mit ihr verbundene Diskriminierung Andersstämmiger. Aus einst Fernen, Gästen und F. (j0- noi ka; p/roikoi), die vom Bürgerrecht Israels und den Verheißungen des Bundes ausgeschlossen waren, werden durch die Versöhnungstat Christi Nahe, Mitbürger (szmpolytai) der Heiligen (d. h. der geborenen Israeliten) und Hausgenossen (oxkeyoi) Gottes (Eph 2,11 22). Selbst Barbaren und Skythen, F. par excellence, finden sich in der Liste der durch die Taufe in die Christusgemeinschaft Aufgenommenen in Kol 3,11 (vgl. Gal 3,28; Röm 1,14). II. 3. In der Praxis verlief die Integration von Menschen verschiedenster Herkunft nicht ohne Spannungen und Konflikte. Die Überwindung fremdenfeindlicher Haltungen und trennender rel. Riten thematisieren Erzählungen wie Jesu Heilung der Tochter der Syrophönizierin nach anfänglichem Widerstand (Mk 7,23ff) oder die drastische Vision des Petrus vor der Bekehrung des Kornelius (Apg 10,9ff). Jedoch führte dieser Prozess dazu, dass die abgelegten Gebräuche der Herkunftsrel. nunmehr als fremde Lehren verabscheut wurden (Hebr 13,9). Der Überwindung überkommener Fremdheitswahrnehmungen im binnenkirchlichen Raum korrespondierte eine gesteigerte Fremdheitserfahrung der Gemeinde im Gegenüber zur Außenwelt. Schon Paulus bringt es auf den Begriff, dass die Heimat/das Bürgerrecht (pol2tezma) der Christen in den Himmeln ist (Phil 3,20), der Hebr (11,9f.13: Erzväter und -mütter als Vorbilder) und bes. der 1 Petr (1,1; 2,11) definieren die Christen als F. in dieser Welt. Als auserwählte Fremdlinge in der Zerstreuung (diaspor/; Diaspora) sind die Christen um ihrer eschato-
207 Freude Freude 195 logischen Hoffnung willen und in der Nachfolge Christi in der Fremde (paroik2a) zu einem gottgefälligen Leben aufgefordert (1 Petr 1,1.17), das die sozialen und polit. Ordnungen dieser Welt voll respektiert, aber in seiner Ablehnung des paganen Gottesdienstes, irdischer Laster und Genüsse die Umwelt befremdet (1 Petr 4,4: jen2yesuai) sowie ihre Feindschaft und Verfolgung hervorruft (1 Petr 2,11 4,11). Leiden mit Christus widerfährt daher den Christen nicht als etwas Fremdes (1 Petr 4,12: Kw j0noz), sondern wird als Konsequenz ihrer christologisch und eschatologisch begründeten Distanz von der Welt bewertet. I. C. Bultmann, Der Fremde im antiken Juda, Göttingen 1992; F. Crüsemann, Fremdenliebe und Identitätssicherung: WuD 19 (1987) 11 24; ders., Das Gottesvolk als Schutzraum für Fremde und Flüchtlinge, in: ders., Maßstab: Tora, Gütersloh 2003, ; ders., Gott und die Fremden, in: ebd ; V. Haas (Hg.), Außenseiter und Randgruppen, Konstanz 1992; E. Otto, Die Aktualität des biblischen Fremden-Rechts, in: ders./ S. Uhlig (Hg.), Kontinuum und Proprium, Wiesbaden 1996, II. R. Feldmeier, Die Christen als Fremde, Tübingen 1992; J. J. Pilch/B. J. Malina (Hg.), Handbook of Biblical Social Values, Peabody Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT) Freude (F.) ( Dachartikel: Anthropologie) Vorbemerkung: Die spontan empfundene F. gehört zu den Grundbefindlichkeiten des Menschseins. Anlass, Ausdruck und Intensität der F. sind vielfältig: F. am Spiel, an der Begegnung mit Freunden, am Schönen, am Erfolg oder im gemeinsamen Feiern mit Musik und Tanz, im Klatschen, Springen und Jubeln. Bibl. gehören F. und Glück eng zusammen. I. AT: 1. Für das AT ist die F. (simga, smg, daneben auch rnn, gil jubeln ) als theol. gedeuteter Grundbegriff in dreifacher Weise näher in den Blick zu nehmen: F. als von Gott verursachte F. und die daraus resultierende F. an Gott, F. vor Gott als Leitkategorie des Kultes und schließlich F. als gebotene Lebenshaltung. I. 2. Gottes rettendes und befreiendes Handeln ruft bei den Menschen F. und Jubel hervor. Das zeigt sich beispielhaft im Buch Jes, wo sich Israel, die aus dem Exil Zurückkehrenden oder die Armen Israels über das Eingreifen Gottes freuen (Jes 9,2; 25,9; 30,29; 35,10; 51,3.11; 55,12). Weil die Trauer über den Zusammenbruch (Klgl 5,15) in F. verwandelt ist (Jes 60,20; Jer 31,13; Ps 126,2f), werden Zion und die Bewohner Jerusalems immer wieder zum Jubel aufgefordert (Jes 54,1; 66,10; Joël 2,23; Zef 3,14; Sach 2,14). Die F. ist dabei nicht nur eine spontane Empfindung, sondern steht für ein heilvolles, beschütztes und versorgtes Leben. Das wird in den Pss. deutlich, wo der Beter die heilvolle Zuwendung Gottes mit dem Geschenk der F. verbindet (Ps 4,8; 30,12; 51,10; 90,14 u. a.). Bes. die Armen und Gedemütigten, denen sich Jhwh bevorzugt zuwendet ( Armut), freuen sich an ihm (Jes 29,19; Ps 34,3, vgl. 1 Sam 2,1). So wird Gott zum Gott meiner F. (Ps 43,4), die F. zur Grundhaltung (Ps 68,4; 70,4) und die F. am Herrn zur Stärke (Neh 8,10). Da die Tora als Geschenk göttlicher Gegenwart verstanden wird, freuen sich die Gerechten an ihr (Ps 1,2; 119,16.47, vgl. Röm 7,23 und die erst nachtalmudisch ausgebildete Simchat Tora am letzten Tag des Laubhüttenfestes). Ihren festen Ort hat die F. als Festfreude im Kult (Lev 23,40; Num 10,10; 1 Sam 11,15; 1 Kön 1,40 u. a.; Fest), wo Gottesnähe konkret und gemeinschaftlich erlebbar wird. Zum Leitbegriff des Kultes wird sie im Dtn (Dtn 12, ; 14,26; 16,11.14f; 26,11; 27,7; 28,47). Im Mittelpunkt der Festfreude steht das gemeinschaftliche Mahl: F. an und vor Gott als dankende Antwort auf die reichhaltigen Gaben Gottes. I. 3. In keinem anderen Buch spielt der Aufruf zur sinnlichen F. eine solche Rolle wie bei Koh (Koh 3,22; 9,7 10; 11,9 u. a.). In der gottgeschenkten F., die es im gegenwärtigen Augenblick spontan und bewusst zu leben gilt, ist für den Menschen Glück, das unverfügbar bleibt, erfahrbar. Die F. ist so für den Prediger der Ort, an dem Gott dem Menschen Antwort gibt (Koh 5,17 19). Damit ist F. stets mehr als reines Vergnügen oder Lust an der Lust. Anthropologisch gewendet ist F. für Kohelet eine Grundhaltung, die von Gott her dem Menschen unverfügbar eröffnet wird, ihn auf Gott hin öffnet und gelingendes Leben ermöglicht. II. NT: 1. Auch im NT ist F. (griech. xar/, Ver-
208 Fülle 196 bum xa2rv, seltener auch Bgall2asiw, epfros4nh) als Geschenk Gottes verstanden. Als Freudenbote bringt Jesus die endzeitliche F., ein deutender Zug, der möglicherweise sogar zum Selbstverständnis des hist. Jesus als eschatologischer Prophet gehört. In seiner Person und in der Begegnung mit ihm wird die endzeitliche F. (im gemeinschaftlichen Mahl, in Heilungen, in der Auferweckung) gegenwärtig. Seine frohe Botschaft ( Evangelium) wird von den Hörern und Hörerinnen mit F. aufgenommen (Mk 12,37; Mt 13,20, vgl. Apg 13,48; Hebr 4,2) und seine Gottesnähe lässt ihn selbst F. empfinden (Lk 10,21; Joh 15,11; 17,13). Schon die Magier werden beim Anblick des Sterns von großer F. erfüllt (Mt 2,10), der Engel verkündet den Hirten auf dem Feld eine große F. (Lk 2,10) und man empfindet F. über das Auftreten Jesu (Lk 13,17; 19,6; Joh 3,29; 8,56). Das Joh bindet die F. am stärksten an die Person und das Auftreten Jesu in der Welt (Joh 16,20 24; 17,13). Als Ev. der F. ist Lk durchzogen vom Jubel und Lob über die Heilstat Gottes in Jesus (Lk 1; 2,10; 4,19; 10,20; 15 u. a.). In allen Evv. (außer Mk) ist die F. über die Auferstehung fest verankert (Mt 28,8; Lk 24,41.52; Joh 20,20). II. 2. Eine bedeutende Rolle spielt die F. über das Sein in Christus und die damit erlangte Teilhabe an der göttlichen F. bei Paulus. Er hat nicht nur F. an seiner Aufgabe und vor allem an seinem Missionserfolg (2 Kor 7,4.7; 13,9; 1 Thess 2,19f; 3,9; Phil 1,18; 4,1), sondern seine F. rührt aus der Nähe zu Gott im Glauben an Jesus Christus, denn das Reich Gottes [ ] ist Gerechtigkeit, Friede und F. im Heiligen Geist (Röm 14,17, vgl. Gal 5,22). Dabei fordert Paulus immer wieder zur aktiven Teilhabe an dieser F. auf (Phil 2,17f). Die F. soll Zeugnis von dem Sein in Christus geben und nicht von den Glaubenden weichen (1 Thess 5,16; Phil 3,1; 4,4; Röm 12,12). Die F. als christl. Grundhaltung nehmen die Deuteropaulinen und Past. auf (Kol 1,12; 1 Petr 1,6). Hier wie schon bei Paulus (2 Kor 6,10; 7,4) soll die F. in allen Lebenslagen auch im Leiden (1 Petr 4,13) durchgehalten werden. I. G. Braulik, Von der Lust Israels vor seinem Gott, in: ders., Studien zum Deuteronomium und seiner Nachgeschichte, Stuttgart 2001, ; N. Lohfink, Koh 5,17 19 Offenbarung durch Freude, in: ders., Studien zu Kohelet, Stuttgart 1998, ; L. Schwienhorst-Schönberger, Gottes Antwort in der Freude: BiKi 54 (1999) II. W. Fenske, Freude als Grundzug der Theologie und Biographie des Paulus, in: M. Becker/ders. (Hg.), Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils, Leiden 1999, ; R. Kampling, Freude bei Paulus: TThZ 101 (1992) Christian Frevel Fülle (F.) ( Dachartikel: Eschatologie) Fülle I. AT: 1. In den Pss. erscheint der Gedanke der F. als Steigerungsmotiv: Vor Gott herrscht Freude in F. (hebr. sb}, Ps 16,11; vgl. auch 1QS 3,7f), die Armen (Ps 37,11) bzw. die, die Gottes Weisung lieben (Ps 119,165) werden Glück (šalom)in F. (rob/rab) genießen. Bei Gott ist Erlösung (p e dut) inf.(rbh, Ps 130,7). I. 2. Das Motiv der (endzeitlichen) F. als Verheißung begegnet bereits bei der Wiederholung und Erneuerung der Zusagen Gottes an Abraham nach der Bindung Isaaks in Gen 22,17: Gott wird Abraham Segen in F. schenken. Diese Verheißung an Abraham wird in Hebr 6,13f als bleibend gültiger und zuverlässiger Schwur Gottes bei sich selbst aufgegriffen und als Lohn für Abrahams Ausdauer gedeutet den Gläubigen als Motivation, die Erfüllung der Verheißung Gottes zu erwarten, vor Augen gestellt. Das erwartete endzeitliche Heil in F. malen die prophetischen Utopien des AT aus ( Eschatologie). Dies geschieht z. B. mit dem Bild des Tierfriedens, der blühenden Wüste, mit der Heilung von Behinderungen und Krankheiten, aber auch ganz konkret mit der F. an Nahrungsmitteln durch reiche Ernten (vgl. u. a. Dtn 33,13 16; Ps 72,16; Am 9,13f). II. NT: 1. Im NT begegnet bevorzugt der griech. Begriff pl1rvma als Bezeichnung für eine übertragene Bedeutung des Wortes F. II. 2. Paulus spricht in Gal 4,4 von der F. der Zeit, die dadurch markiert ist, dass Gott seinen Sohn sandte und von einer Frau gebären ließ (vgl. auch Mk 1,15: Der Beginn der Verkündigung Jesu kennzeichnet die Erfüllung der Zeit). In Röm 15,29 äußert Paulus die Hoffnung, zu den Adressaten in der F. des Segens Christi zu
209 Fürbitte Fürbitte 197 kommen. In endzeitlicher Erwartung hofft Paulus in 2 Kor 4,17 auf ein maßloses Übermaß (kau Operbol:n exw Operbol:n) an Herrlichkeit, das die kleine Last der gegenwärtigen Not bei Weitem übersteigt (vgl. auch Röm 8,18 24). Diese unterschiedlichen Motive von F. tauchen auch in der weiteren Brieflit. auf. Insbes. die göttliche F. ist ein gemeinsamer Leitgedanke in Kol und Eph: Die F. der Zeiten (pl1rvma tmn kairmn) ist in Christus erreicht (Eph 1,10), der die Kirche erfüllt (Eph 1,23), die als zukünftige erhoffte Einheit aller Glaubenden die F. des Christus darstellt; durch diese Vervollkommnung der Glaubenden in der Liebe Christi werden sie mit der F. Gottes erfüllt (Eph 3,19). Diese F. Gottes wohnt(e) in Christus (Kol 1,19; 2,9) und daher konnte Christus die F. Gottes als Gnade an die Menschen weitergeben (Joh 1,16). Joh enthält auch das bekannte Jesuswort: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10). Die F. des Lebens, die Jesus verleiht, markiert Joh in seiner Symbolsprache durch Überfluss an Nahrung: Jesus ist das lebendige Wasser, das nie mehr durstig sein lässt (Joh 4,14; 7,37f), und das lebendige Brot, das nie mehr hungrig sein lässt (Joh 6,35). Der Gedanke der vollkommenen Freude vor Gott (vgl. Ps 16,11) wird in den Abschiedsreden des Joh deutlich: Was Jesus den Jüngern sagt, soll Freude in F. bewirken (Joh 15,11; 16,24; 17,13). I. G. Baudler, Das Leben in Fülle: AnzSS 109 (2000) ; H. Groß, Bei ihm ist Erlösung in Fülle : BiKi 42 (1987) II. J. Ernst, Pleroma und Pleroma Christi, Regensburg 1970; P. D. Overfield, Pleroma: NTS 25 (1979) ; K. Schubert (Hg.), Vom Messias zum Christus, Freiburg 1964; R. Yates, Re- Examination of Ephesians 1,23: ET 83 (1972) Thomas Hieke Fürbitte (F.) ( Dachartikel: Soteriologie) Vorbemerkung: Der Begriff F. impliziert die Existenz einer Mittlerperson, welche die Anliegen anderer Menschen vorträgt. Im Rahmen der Soteriologie geht es dabei meist um die Vorstellung, dass die Position der eigentlich Hilfesuchenden für den heilvollen Ausgang ungünstig ist, weil die Kommunikation mit der Rettungsmacht, die ein Mensch oder eine Gottheit sein kann, aus irgendwelchen Gründen beeinträchtigt oder zerstört ist. I. AT: Ein prominentes Beispiel für F. bei einem menschlichen Retter ist Ester. In höchster Gefahr für das jüd. Volk bittet die Königin den pers. König, dass ihr und ihrem Volk das Leben geschenkt werde (Est 7,2; vgl. 5,6 8). In der Beziehung zu Gott übernehmen vor allem König, Priester und Prophet F.-Funktion. Als König bittet Salomo im F.-Gebet (1 Kön 8,28 53) für das Volk um Rettung aus vielerlei Gefahr und um Vergebung der Sünden. Auch König Hiskija betet für Juda (2 Chr 30,18 20). Im priesterlichen Bereich geht es v. a. um die F. des Hohepriesters, der in der Theol. der P zur kultischen Führungsperson ausgestaltet wird ( Amt). Ihm ist der Kult des Versöhnungstages (Lev 16; Fest) vorbehalten, der funktional eine (nonverbale) F. darstellt. Der Hohepriester agiert als Vertreter des Volkes vor Gott und vermittelt kultisch Versöhnung. In 2 Makk 3,32f wird der Tempelschänder Heliodor durch das F.-Opfer des Hohepriesters Onias gerettet vor dem göttlichen Zorn. In Esra 6,10 ordnet der Perserkönig an, dass die Jerusalemer Priester für ihn opfern und beten. V. a. aber ist es Mose, der als der Mittler zwischen Gott und den Menschen fungiert und F. leistet. Immer wieder tritt er vor Jhwh für das Volk ein. Seine F. bewirkt, dass Gott seinen Zorn über den Abfall des Volkes aufgibt und auf das beabsichtigte Strafgericht verzichtet (z. B. Ex 32,11 14; Num 12,13; 21). Außerdem bewirkt die F. des Mose die Befreiung Ägyptens von der Froschplage (Ex 8,5 11) und von Ungeziefer (Ex 8,24 27). Generell gehört die F. zur Rolle des Propheten, der in Vertretung seines Volkes vor Gott steht und umgekehrt (1 Sam 7,5; 12,19.23; 1 Kön 13,6; Neh 1,6; Dan 9,20). In Jer 42 betet Jeremia für den Rest Israels. In Jer 7,16 und 11,14 allerdings wird dem Propheten von Gott verboten, für Israel zu bitten: Jhwh ist entschlossen, sich nicht mehr umstimmen zu lassen. Das Verbot der F. weist auf die Wirkmacht hin, die der prophetischen F. zugetraut wird. Elija bewirkt durch seine F. die individuelle Rettung eines toten Kindes (1 Kön 17,17 23). Unter den Patriarchen legt Abraham F. für
210 Gebet 198 Sodom ein (Gen 18,23 33). Isaak betet für seine kinderlose Frau Rebekka (Gen 25,21). Eine bes. Rolle spielt die F. im Ijob-Buch. Zum einen wird in der Rahmenerzählung, dem ältesten Teil des Ijob-Buchs (5. Jh. v. Chr.?), die heilswirksame F. des Ijob für seine Freunde erwähnt (Ijob 42,8ff). Für diese solidarische F. wird Ijob von Gott belohnt (Ijob 42,10). In diesem Zusammenhang ist auch an Ps 109,4 zu erinnern, wo gesagt wird, dass der Gerechte für seine Feinde betet. Zum anderen finden sich im Ijob-Buch zwei der seltenen atl. Stellen, wo die F. von Engeln erwähnt wird. Zum einen wird in Ijob 5,1 (Rede des Elifas) Ijob die Möglichkeit abgesprochen, sich an einen der Heiligen (= Engel) zu wenden. Zum anderen wird in den Elihu-Reden, dem jüngsten Teil des Buches, ein Engel erwähnt, der dem Menschen zur Seite steht und für ihn F. bei Gott einlegt (Ijob 33,24). II. NT: Ein Beispiel für F. bei einem menschlichen Retter ist der Phlm, dessen gesamte pragmatische Intention F. ist. Paulus bittet für den entlaufenen Sklaven Onesimus, den er nun als Bruder in Christus an seinen christl. Herrn Philemon zurückschickt. Wenn es um die Gott-Mensch-Beziehung geht, so ist auf das Gebot der Feindesliebe zu verweisen, das zur ältesten Jesustradition gehört ( Feind). In der Logienquelle wird es durch die Aufforderung zur F. für die Verfolger ergänzt (Mt 5,44, vgl. Lk 6,28). Bei Lk erfüllt Jesus selbst diese Aufforderung, wenn er am Kreuz für die bittet, die ihn umbringen (Lk 23,34). Beim Sterben des Stephanus (als Imitatio Christi gestaltet) taucht diese F. ebenfalls auf (Apg 7,60). Bei Paulus ist die F. ein solidarischer Akt der Christgläubigen: Er bittet die Gemeinde in Rom um F. bei Gott (Röm 15,30; vgl. auch Eph 6,18) und versichert seinerseits, dass er für sie betet (Röm 1,9f). Diese gegenseitige F. stellt über jede Trennung hinweg ekklesiale Gemeinschaft her. Eventuell kann auch die in Korinth praktizierte stellvertretende Taufe für Tote (1 Kor 15,29) als eine bes. Form der F. verstanden werden. Im Hohepriesterlichen Gebet (Joh 17) bittet der scheidende Jesus den Vater, dass er allen Glaubenden ewiges Leben schenke. Die F.-Funktion wird in 1 Joh 2,1 auf den erhöhten Christus übertragen und mit dem Begriff Beistand (par/klhtow) umschrieben ( Geist). I. E. Aurelius, Der Fürbitter Israels, Lund 1988; U. Becker, Der Prophet als Fürbitter: VT 51 (2001) ; E. Nielsen, Der Fürbitter Israels: SJOT 2 (1989) 94 99; M. Oeming, Ich habe ein Lösegeld gefunden! (Ijob 33,23), in: R. Bernhardt (Hg.), Metapher und Wirklichkeit, Göttingen 1999, ; M. Widmer, Moses, God and the Dynamics of Intercessory Prayer, Tübingen II. M. Blum, denn sie wissen nicht, was sie tun, Münster 2004; G. Friedrich, Die Fürbitte im Neuen Testament, in: ders., Auf das Wort kommt es an, Göttingen 1978, ; E. A. Obeng, The Origins of the Spirit Intercession Motif in Romans 8,26: NTS 32 (1986) ; A. Schenker, Das fürbittend sühnende Martyrium 2 Makk 7,37 38 und das Kelchwort Jesu: FZPhTh 50 (2003) Joachim Kügler Gebet (G.) ( Dachartikel: Kult) Gebet Vorbemerkung: Neben dem Opfer ist das G. (hebr. t e filla; griech. prosezx1) die natürlichste und häufigste Form der rel. Äußerung und Reaktion des Menschen auf die Erfahrung des Göttlichen. Es zeichnet sich durch Sprachlichkeit aus und setzt einen persönlichen Gottesbegriff voraus. Die Grundformen des G. sind die Klage (Bitte) und das Lob (Dank). Je nachdem soll das G. entweder die Gottheit zum helfenden Einschreiten bewegen oder sie der Verehrung des Beters vergewissern. Die Grenzen zur Beschwörung (Magie) und zur (mystischen) Kontemplation sind fließend. Beim G. liegt der Akzent darauf, die Lebenserfahrung im Gegenüber zur Gottheit zu artikulieren; insofern ist es dialogisch ausgerichtet und auf Erhörung, aber nicht unbedingt auf Erfüllung angewiesen. Die Phänomenologie des G. in der bibl. und parabibl. Überlieferung ist, bei aller Vielfalt, ziemlich konstant und unterscheidet sich von der ao. bzw. hell.-röm. Gebetspraxis nur wenig. Daher wird im Folgenden zwischen AT und NT nicht getrennt. I. Phänomenologie. An Gebetsgesten begegnen das Stehen (1 Sam 1,26; Lk 18,11; Mk 11,25), das Knien (1 Kön 8,54; Lk 22,41), die Proskynese (Gen 24,26; Mt 26,39) und das Ausstrecken oder Erheben der Hände (1 Kön 8,22.54; Ps 141,2; 1 Tim 2,8). Ort und Zeit sind frei, mit Ausnahme der vorgeschriebenen, rituellen G. an Festtagen
211 Gebet 199 und zu den täglichen Gebetszeiten (Dan 6,11; Apg 3,1; 10,9; Did 8,3; 4Q503) am Ort (Lk 18,10; Apg 3,1) oder in Richtung des Tempels in Jerusalem (1 Kön 8,44; Dan 6,11). Als eine Besonderheit hat sich in hell. Zeit die jüd. Gebetskleidung herausgebildet: der Gebetsmantel (Tallit) mit Quasten (Num 15,37ff; Dtn 22,12) und die Gebetsriemen (Tefillin, Mt 23,5). Zur Gebetspraxis ist mit der Zeit das für die Klage und Trauer übliche Fasten ( Askese) als festes Element hinzugetreten (Jer 14,11f; Dan 9,3; Neh 1,4; Tob 12,8; Lk 2,37; Apg 13,2f). Als Anlässe werden in der Überlieferung außer den festen Gebetszeiten rel. Erfahrungen und kultische Praktiken jeder Art genannt, z. B. Orakelanfragen (1 Sam 14,37.41) oder das Versprechen und Einlösen von Gelübden (Gen 28,20 22; Ri 11,29 40), die Nachwahl eines Apostels (Apg 1,24f) und Einsetzung von Diakonen oder Ältesten (Apg 6,6; 14,23) oder die Aussendung von Missionaren (Apg 13,3). Auch Visionen werden von (Fasten und) G. begleitet oder durch sie ausgelöst (Dan 2,19 23; 9,20ff; Apg 9,11f). Des Weiteren sind es sowohl regelmäßig wiederkehrende als auch außergewöhnliche Ereignisse im Alltag der Menschen, die ein G. motivieren: Kinderwunsch (1 Sam 1,10f; Lk 1,13) und Namensgebung (Gen 29,31 30,24), Speise und Trank (Ps 104,27f/145,15f; Mt 6,11par.; Mk 14,22f.par.; 1 Tim 4,3 5; Essen), glückliche Begegnungen und Fügungen (Gen 24, f; Lk 2,28 32), Krankheit und Heilung (2 Kön 4,33; Jes 38; Jak 5,14 16), Abschied (Apg 20,36) und Sterben (Lk 23,46), Krieg (Ex 15,21; Jos 7,7 9) und Naturkatastrophen (Jer 14,7 9), Not und Verfolgung (Ri 15,18; Apg 4,24 30; Röm 15,30 32; Jak 5,13). Sofern die Betroffenen ihre G. nicht selbst vor Gott brachten, wurden diese vor allem im Rahmen des Kults von bes. begabtem oder geschultem Personal (1 Sam 7,5; 2 Kön 4,33; 1 Chr 16; Neh 9) oder von höher gestellten Menschen wie dem Familienoberhaupt (Gen 12,8; 13,4; 21,33; 26,25), dem König (1 Kön 8; 1 Chr 29,10ff) oder dem Apostel und Gemeindevorsteher (Jak 5,14) artikuliert. Eine bes. Form des stellvertretenden G. ist die Fürbitte (Gen 25,21; für die Obrigkeit Ps 72,15; Esra 6,10; Jer 29,7), die im AT als Aufgabe der Propheten gilt (Gen 20,7; 1 Sam 7,5; 1 Kön 13,6; Am 7,2.5; Jer 7,16 u. a.; Ez 9,8; 11,13; vgl. Jak 5,17f), im Gefolge der Propheten auch von Mose zuweilen ausgeübt wird (Ex 32 34; Dtn 9f) und im NT zur allgemeinen Christenpflicht erhoben ist (1 Tim 2,1f). II. Texte. Die Masse der überlieferten Gebetstexte findet sich im Psalter. Von den hier gesammelten Hymnen und G. stammen jedoch die wenigsten aus alter (vorexil.) und die meisten aus später (exil.-nachexil.) Zeit. Die Hauptgattungen sind der Hymnus (Lob), der die klassischen mythologischen Themen der kanaan. geprägten Stadttheol. besingt (Jhwh-Königtum, König, Zion, Weltordnung und -erhaltung), sowie das Klagelied (Klage) und das Danklied des Einzelnen (Lob), die den anthropologischen Dimensionen dieser Theol. Ausdruck verleihen. Sowohl die Gattungen als auch die sprachlichen Muster und alten Textreste haben im vorexil. Tempelkult ihren ursprünglichen Sitz im Leben. Beide, Gattungen und Texte, wurden im Laufe der Zeit weiter ausgebildet, verändert und den neuen Bedingungen der späteren Zeit angepasst. Damit haben die Pss., soweit sie nicht im Kult des zweiten Tempels weiter Verwendung fanden, ihre ursprüngliche Bestimmung verloren und sind im Rahmen der Komposition des Psalters zu persönlichen G. geworden. Von dieser Entwicklung zeugen auch die bibl. und parabibl. Erzählungen, Evv. und Briefe, die meist nur kurze, spontane und situationsgebundene Gebetsformulierungen mitteilen. Auch sie leben von den kultischen Formularen, wie etwa die Klage in Gen 25,22, die Bitte in Gen 32,12 und vor allem die in Erzählungen sehr beliebte Benediktion Gepriesen sei Jhwh/seist Du, der deutlich machen, mit denen Begebenheiten kommentiert und in ein rel. Bezugssystem eingeordnet oder ausführlichere G. eingeleitet werden (Gen 24,27; Tob 3,11). Darüber hinaus wurden bekannte oder neu geschaffene G. als Einlagen in die Erzählungen eingefügt (Ex 15; 2 Sam 22; 1 Kön 8; 1 Chr 16; 29,10ff; Esra 9; Neh 1 und 9; Zusätze zu Dan 3 und Est; G. des Manasse; Tob; 1 3 Makk; Lk 1; Joh 17). In Qumran erfreute sich der Psalter großer Beliebtheit und wurde in einer Vielzahl von Abschriften überliefert. Der bibl. Textbestand ist darin z. T. anders gruppiert und durch neue Stücke
212 200 ergänzt (11QPs a ). Daneben entstand die Sammlung der Hodajot (1QH), die ebenso wie die Hymnen und G. im Sirachbuch und die Psalmen Salomos eine lebendige und breite Gebetstradition bezeugt. Diese schlug sich auch in der Bildung der klassischen jüd. G. (Achtzehnbittengebet, Kaddisch u. a.) sowie im Vaterunser (Mt 6,9 13par.) nieder. Die Anrede Gottes mit Abba, Vater (Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6) oder Vater allein (Lk 23,34) ist bemerkenswert, aber keine christl. Bildung (vgl. Weish 14,3; Sir 23,1). Wie bei der auf Bestätigung und Aneignung zielenden Schlussformel Amen handelt es sich um ein Relikt der vorchristl. hebr.-aram. Tradition. Die Gebetslit. lehnt sich auch sonst deutlich an die im Tempelkult beheimatete rituelle Gebetssprache an, geht aber, wie schon der Psalter selbst, formal und inhaltlich eigene Wege. Sie bewegt sich nicht selten neben oder gar in Konkurrenz zum Tempel. Innerhalb wie außerhalb des Tempels gilt das G. als Opfer (Ps 141,2; Apg 10,4) und tritt mehr und mehr an seine Stelle. Wie der Tempelkult will auch das in Privathäusern, Synagogen oder unterwegs rezitierte G. Anteil an der himmlischen Welt und ihrem Kult gewähren (Offb 8,3f). Nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. löste das G. den Opferkult endgültig ab. III. Theologie. Theol. sind viele der späten G. dtr. geprägt und zeichnen sich durch das kollektive Schuldbekenntnis aus (Jes 63,7ff; Esra 9; Neh 1 und 9; Dan 9). Sie geben die Auffassung der Gruppe der toratreuen Frommen (Chasidim) wieder, die ihre Zeit als Zeit der anhaltenden Sünde und des göttlichen Zorns begriffen und auf das von Gott bereitete Ende, das End-Gericht über die Sünder und die Rettung der Frommen hofften. Eine andere Auffassung vertreten der mit Verweis auf die Tora Gottes eröffnete (Ps 1) und doxologisch strukturierte, in fünf Bücher unterteilte Psalter (Ps 41,14; 72,18f; 89,53; 106,48; 145; ) und ihm nahe stehende G. (bes. in Chr, Sir, Tob, Dan 1 6 einschließlich der Zusätze zu Dan 3 sowie Est u. a.). Sie stammen aus (priesterlichweisheitlich geprägten) schriftgelehrten Kreisen, die bei aller (selbst-)kritischen Distanz und unbeschadet des eschatologischen Vorbehalts dem Tempelkult positiv zugeneigt waren und sowohl Gebet das Schicksal ihres Volkes (bzw. der Frommen im Volk und unter den Völkern) als auch ihr persönliches, ebenfalls auf dem Toragehorsam gegründetes Leben unter das Vorzeichen von Lob und Dank stellten. In den Hodajot von Qumran kann man sehen, wie sich aus diesen Kreisen eine Gruppe löst und in einen radikalen, apokalyptischen Dualismus flüchtet: Grund für Lob und Dank haben nur die Erleuchteten, die Gott für das Leben in der qumranischen Gemeinschaft und für die schon im Jetzt gewährte Teilhabe an der himmlischen Welt vorherbestimmt und auserwählt hat; alle anderen wandeln in der Finsternis und sind seit jeher bis in Ewigkeit der Sünde, dem Zorn und dem eschatologischen Gericht preisgegeben. Im G., das der Herr Jesus gelehrt hat, dem Vaterunser, lebt hingegen die eschatologisch zugespitzte Gebetstheol. des Psalters weiter. Sie prägt auch das übrige NT, bes. die lk. Theol. (Lk 11,1ff; 18,1ff), und die frühchristl. Tradition (vgl. 1Clem 59 61). Das G. ist auch hier an Gott gerichtet, aber natürlich christologisch determiniert. Seinen Ausdruck findet dies in dem eschatologischen Ruf Maranatha ( Unser Herr, komm, 1 Kor 16,22; vgl. Offb 22,20), den auf den erhöhten Herrn bezogenen Doxologien (Röm 9,5; 2 Petr 3,18; Offb 1,6; 5,9 13) sowie dem Dank durch Christus für das von Gott geschenkte Heil (Röm 1,8; 5,11; 7,25) und dem G. im Namen Jesu (Joh 14,13f; 15,16; 16,23f). An der Erfüllung der G. besteht kein Zweifel (Mt 6,5ff; 7,7 11). Als Tröster und Gebetsmittler tritt bis zur eschatologischen Vollendung der Geist ein (Röm 8,26f; Joh 4,23f). Das Beten zu Jesus (2 Kor 12,7f; Apg 7,59; Röm 10,12f) bleibt die Ausnahme. O. Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen ; D. K. Falk, Daily, Sabbath, and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls, Leiden u. a. 1998; W. Fenske, Und wenn ihr betet (Mt 6,5), Göttingen 1997; J. Heinemann, Prayer in the Talmud, Berlin 1977; J. H. Newman, Praying by the Book, Atlanta 1999; B. Nitzan, Qumran Prayer and Religious Poetry, Leiden u. a. 1994; H. Graf Reventlow, Gebet im Alten Testament, Stuttgart 1986; R. A. Werline, Penitential Prayer in Second Temple Judaism, Atlanta Reinhard G. Kratz
213 Geburt Geburt 201 Geburt (G.) ( Dachartikel: Anthropologie) I. AT: 1. Die G. wird im Hebr. durch verschiedene Derivate des hebr. Verbums jld ( zeugen, gebären ) oder den Zusammenhang mit dem Mutterleib (bætæn) ausgedrückt. Insgesamt wird die G. in der Bibel als positiver, herausgehobener und beglückender Vorgang verstanden, der in bes. Weise des Schutzes und der Begleitung durch Gottheiten und Mitmenschen bedurfte. Das physiologische Wissen über die Empfängnis war gering. Natürlich war der Zusammenhang von Zeugung und Geschlechtsakt bekannt (Gen 38; Dtn 22; Mt 1). Aus den Vorschriften über die Aufhebung der Unreinheit nach der Regelblutung (Lev 15,19 24) scheint auch ein Wissen um den idealen Zeitpunkt für die Empfängnis auf, wenn die Frau nach dem Ende der Menstruation eine siebentägige Karenz zu wahren hat und damit der erste mögliche Geschlechtsverkehr in etwa in den Zeitraum des Eisprungs fällt. Dass sich Batseba von ihrer Unreinheit reinigt (2 Sam 11,4), soll vor allem anzeigen, dass sie nicht von ihrem Mann Urija schwanger und so empfängnisbereit war. Wo der Samen des Mannes nach dem Beischlaf in der Frau verblieb, war unbekannt. Durch Aborte (Ex 21,22; 23,26; 2 Kön 2,19.21; Ijob 3,16; Ps 58,4; Koh 6,3, anders Jer 20,17) waren spätere Embryonalstadien bekannt, doch blieb das Entstehen des Embryos ein Rätsel (Koh 11,5; 2 Makk 7,22). I. 2. Für das Werden des Kindes im Mutterleib werden unterschiedliche Metaphern gebraucht, in denen jeweils ungeformtes Material in Form gebracht wird. Bibl. ist dabei das Weben am häufigsten (Ijob 11,10; Ps 139,13; Spr 8,23; Jes 38,12). Die Vorstellung eines Gerinnungsvorgangs im Mutterleib versucht, die Lücke zwischen Besamung und sichtbarer Schwangerschaft zu füllen. Weish 7,2 belegt die Vorstellung gerinnenden Blutes ausdrücklich, Ijob 10,11 deutet sie durch das Bild gerinnender Milch in einer Käseallegorie an (vgl. die Kombination in WaR 14,9). Während der Schwangerschaft stand die werdende Mutter unter bes. Schutz (Jer 31,8). Das Kind wuchs im Mutterleib heran, wobei als Zeitpunkt der G. 40 Wochen nach der letzten Periode gerechnet wurden. So war die Zeit der Niederkunft bekannt (Gen 25,24; 1 Sam 4,19; Lk 1,57; 2,6), zu der man bei Einsetzen der Wehen die Hebamme (Gen 38,28; 35,17; Ex 1,15 21) oder erfahrene Geburtshelferinnen aus der Nachbarschaft (Rut 4,14.17; 1 Sam 4,20) verständigte. Geboren wurde anscheinend in einer hockenden Stellung, worauf die in Gen 30,3; Ijob 3,12 erwähnten Knie wie auch die Geburtssteine Ex 1,16 hinweisen könnten. Die Komplikationen unter der G. waren den medizinischen und hygienischen Kenntnissen entsprechend groß, ebenso wie die Säuglingssterblichkeit (Hos 9,16). Entsprechend stark wurden in diesem Bereich die Bedrohung von Dämonen und der Beistand von Gottheiten und Schutzmächten erfahren. In Ägypten sind dies beispielsweise die sieben Hathoren, die Göttin Heqet, Bes und Beset, in Ugarit die Kotharot, vielleicht Aschera in Israel ( Göttin), im monotheistischen Duktus des AT ist es Jhwh (Gen 29,32f; Ps 22,10; Rut 4,13). Neben Geburtsorakeln und Beschwörungen sollten die in Amuletten oder Plaketten präsenten Kräfte eine gute G. gewährleisten. Viele Erzählungen ranken sich um die Schwere und das hohe Gefahrenpotential der G. für Mutter und Kind (Gen 35,17f; 1 Sam 4,19f; Hos 13,13; Num 12,12) oder beziehen sich auf die Wehen, das heftige Atmen unter der G. und die starken Schmerzen (Ps 48,7; Jes 13,8; 21,3; 42,14; Jer 4,31; 22,31; Röm 8,22; 1 Thess 5,3; Offb 12,2 u. a.; endzeitlich- paradiesisch fallen die Geburtsschmerzen wieder weg, Gen 3,16; Jes 66,7f). I. 3. War das Kind geboren, wurde es abgenabelt, gewaschen, aus hygienischen Gründen mit Salz abgerieben und in Windeln gewickelt (Ez 16,3; Weish 7,4; Lk 2,7.12). Die Freude über die G. war nicht nur bei dem benachrichtigten Vater (Jer 20,15), sondern auch im sozialen Umfeld (Rut 4,14f; Jes 9,5; Lk 1,14.42; 2,28f) groß. Vor allem bei der Frau lässt die Freude die Mühen der G. in den Hintergrund treten (Gen 4,1; Joh 16,21). Am 8. Tag wurde das männliche Kind beschnitten (Gen 17,12; Lev 12,3; Lk 2,21; Phil 3,5). Da jeglicher Kontakt mit Körperflüssigkeiten, insbes. Blut als verunreinigend angesehen wurde, musste die Wöchnerin sich nach Ablauf von 7 Tagen Unreinheit und von 33 Tagen geminderter Reinheit am Heiligtum ( Tempel) durch ein Opfer reinigen (Lev 12; Lk 2,22 39, bis ins 20. Jh. die sog. Aussegnung ). Dass bei der G. von Mäd-
214 Gedächtnis / Erinnerung 202 chen exakt die doppelte Frist vorgeschrieben ist (Lev 12,5), hängt mit der patriarchalen Logik und priesterlichen Systematik zusammen, nach der Mädchen weniger wert sind als Jungen (Lev 27,2 7). Die Stillzeit nach der G. durch die leibliche Mutter oder eine Amme (Gen 21,7; Ex 2,7.9 u. a.) war lang, üblicherweise drei Jahre, z. T. auch länger (2 Makk 7,27; 1 Sam 1,21 28; 2,11; 2 Sam 4,4). Sie wurde mit einem Entwöhnungsfest abgeschlossen (Gen 21,8). I. 4. Die Bedeutung der G. wird durch den Blick auf den Mangel unterstrichen: Kinderlosigkeit und insbes. Sohnlosigkeit waren wegen der Bedeutung einer familiären Genealogie und der an der Anzahl der erwerbsfähigen Kinder hängenden Altersversorgung ein großes Problem ( Alter). Unfruchtbarkeit wurde dabei als Strafe Gottes gedeutet (Gen 30,2; 1 Sam 1,5f) und die Ursachen dafür nahezu ausschließlich auf Seiten der Frau gesucht (Gen 11,30; 29,30; Ri 13,2f; Jes 49,21; 54,1; Lk 1,7.36; 23,29, anders Dtn 7,14, wo die Unfruchtbarkeit auf Männliches und Weibliches bezogen ist). Wird eine längere Zeit der Kinderlosigkeit durch die G. beendet, ist die Freude entsprechend groß. Die Geburtsankündigung an eine Unfruchtbare ist daher bes. Zeichen der Zuwendung Jhwhs (Gen 18,10f; Ri 13,3; 1 Sam 1; Lk 1,7.13). II. NT: 1. Die kulturanthropologischen Konstanten zur G. verändern sich im NT kaum. Wie im Hebr. liegen Zeugen und Gebären sprachlich in den Verben genn/v bzw. g2nomai eng beieinander und Derivate stehen für die G. (z. B. g0nesiw Mt 1,18 [mit der Konnotation Ursprung]; Lk 1,14, genet1 Joh 9,1, genn1mata ExidznMn für die Schlangenbrut Mt 3,7par. u. a., gennhto2 gznaikmn die von Frauen Geborenen für alle Menschen Mt 11,1par. Der Mutterleib heißt allg. koil2a, das in der LXX verwandte m1ira kommt im NT nur Lk 2,23 u. Röm 4,19 vor. Die G. bestimmt das spätere Sein sowohl hinsichtlich der Herkunft, des sozialen Status oder der körperlichen Konstitution (Mt 19,12; Mk 7,26; Joh 9,1; Apg 3,2; 14,8; Gal 2,15). II. 2. Das zeigen auch die Genealogien Jesu, die ihn in eine verheißungsgesch. Linie mit Abraham und David (Mt 1,1.2 17) stellen bzw. ihn an den Beginn der Menschheitsgeschichte in Adam zurückbinden (Lk 2,23 38). Die Umstände der Gedächtnis / Erinnerung G. Jesu spielen in den älteren Traditionen weder bei Mk noch bei Paulus eine bes. Rolle (Gal 4,4, vgl. Röm 1,3). Die legendarisch ausgestalteten Geburtsgeschichten bei Mt und Lk präfigurieren Jesus als den verheißenen Retter und entlehnen dafür Formelemente der Verheißung einer bes. G. (Jes 7,14; 9,5; Mi 5,2; Num 24,17 u. a.) bzw. der G. eines königlichen Retters und Heilsbringers und dessen Rettung (vgl. die G. des Mose Ex 2).mm Eine in der Wirkungsgesch. bedeutende Nachwirkung der Wertschätzung der G. ist 1 Tim 2,15, wo dem Gebären rettende Qualität zugeschrieben wird, zugleich aber die Frau auf die Rolle der Mutter eng geführt wird. I. G. Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina 8, Berlin 2001; A. Dierichs, Von der Götter Geburt und der Frauen Niederkunft, Mainz 2002; D. Schmidt, Und Sara ward schwanger und gebar Abraham einen Sohn, in: R. Kampling (Hg.), Und Sara lachte, Paderborn 2004, 65 97; M. Stol, Birth in Babylonia and the Bible, Groningen II. D. Erbele-Küster/D. Dieckmann, Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen, Neukirchen-Vluyn 2006; J. Kügerl, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, Norderstedt 2004; C. Tuor- Kurth, Geboren werden, um etwas Neues anzufangen, in: E. W. Stegemann/K. Wengst (Hg.), Eine Grenze hast du gesetzt, Stuttgart 2003, Christian Frevel Gedächtnis / Erinnerung (G./E.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) I. AT: 1. Für das Gedenken ist die hebr. Wurzel zkr ( denken an, gedenken, sich erinnern ) mit den Derivaten zekær ( Gedenken, Erwähnung ), zikkaron ( Gedenken, E., Denkzeichen ) entscheidend. I. 2. Gedenken bezieht sich nicht nur auf Vergangenes und ist keine rein intellektuelle Tätigkeit, sondern schließt persönliches Engagement, existentielle Betroffenheit und aktives Ausüben mit ein; (ge)denken an heißt also auch sich kümmern um (vgl. Ex 20,8). In erster Linie richtet sich das Gedenken auf Personen (Gen 8,1), daneben auf Gegebenheiten (Jes 43,25; Ijob 4,7) und Ereignisse (Neh 9,17), die für Personen von bes. Wichtigkeit sind. Dass Personen aneinander (Neh 5,19; 13,14) oder an das sie Verbindende (Gen
215 Geduld Geduld 203 9,15; Jer 14,21) denken, heißt, dass zwischen ihnen eine Reziprozitätsbeziehung besteht bzw. dass sie Mitglieder desselben sozialen Netzwerks sind. Diese Reziprozität kann sich ebenso in egalitären wie hierarchischen Gegenseitigkeitsbeziehungen konkretisieren. Auch eine Reziprozität und ein Sich-Kümmern im Negativen (zur Rache/Strafe) gibt es (Ps 109,14; Hos 8,13). Als gegenseitiges Aneinander-Denken wird die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk beschrieben (Dtn 8,18; Ps 115,12). Zentral ist im AT das Gedenken an den Gründungsmythos der Größe Israel, nämlich den Exodus und die Erwählung durch Jhwh. In der Feier der drei großen (Ernte- bzw. Wallfahrts-)Feste Pascha/Mazzot, Schavuot und Sukkot ( Fest) konstituiert sich Israel sichtbar als Traditionsgemeinschaft, wenn es gemeinsam der Befreiung aus der Knechtschaft gedenkt (vgl. die historisierende Erklärung der Bedeutung der Feste in Ex 12,14; 13,3 10; 23,14 17; 34, ; Lev 23,42f; Dtn 16,1 17; sowohl für DtrG wie ChrG ist das Begehen dieser Feste ein zentraler Punkt, vgl. 2 Kön 23,21 23; 2 Chr 30; 35; Esra 6,19 22; Neh 8,14 18) und das Geschehene so rituell immer wieder vergegenwärtigt und auf sich selbst bezieht (Ex 13,3.8f; Dtn 16,1 3). Bes. Aufmerksamkeit gilt der Übermittlung dieser in der Erzählüberlieferung und den Geschichtspsalmen (Ps 78; 105; 106; 135; 136) festgehaltenen Tradition an die nachfolgende Generation (Dtn 6,20 25). Wie die regelmäßige gemeinsame Festfeier dienen Gedenksteine der permanenten Vergegenwärtigung identitätsstiftender Ereignisse (Jos 4, ; 24,25 27). Woran nicht (mehr) gedacht wird, unterliegt einer gleichsam gesteigerten Nichtexistenz (Ijob 24,20; Jes 43,25; Hos 2,19). Da das AT erst in seinen jüngsten Passagen mit einer Auferstehung der Toten rechnet, ist weithin das G., d. h. das Fortleben des Namens, die einzige Form des Weiterlebens, auf die sich die Hoffnung richtet (2 Sam 18,18; Ps 112,6; grundsätzlich skeptisch dagegen Koh 1,11; 2,16; 3,24; 9,5); Name und G. können synonym gebraucht werden (Ex 3,15; Hos 12,6). Das Land des Vergessens ist die Unterwelt (Ps 88,13), wo auch Jhwhs nicht mehr gedacht wird (Ps 6,6), es also keine Beziehung mehr zu ihm gibt. II. NT: 1. Im Profangriech. ist sich erinnern / gedenken (mimn1skomai, mnhmone4v, mn/omai, sowie Ableitungen und Komposita) primär eine Verstandestätigkeit ohne vergleichbare soziologische Konnotationen wie zkr im AT ( sich kümmern um ). Im NT begegnet diese Konnotation aber in Nachahmung der atl. bzw. der LXX-Sprache (Lk 1,72; 23,42; Hebr 13,3; Offb 16,19). II. 2. Das für die griech.-röm. Kultur zentrale Anliegen, im G. der Nachwelt fortzuleben (vgl. mnvma oder mnhmeyon Gedenkmal, Grab ), spielt im NT nur eine marginale Rolle (Mk 14,9par.; Lk 1,48; Hebr 13,7). Stattdessen richtet sich die Hoffnung auf die individuelle Auferstehung der Toten. Das rituelle G. (Bn/mnhsiw), explizit geboten im Hinblick auf das Herrenmahl (Lk 22,19; 1 Kor 11,24f; Abendmahl), bewirkt auch im NT die Vergegenwärtigung und Gleichzeitigkeit des Heils. In der spät- und nachntl. Zeit wird die Erinnerung an die überlieferte Wahrheit immer wichtiger (2 Petr 1,12 15; 3,1f), bis sich zuletzt die apostolische Tradition als ausschließliche Grundlage des kirchlichen Glaubens etabliert. I. G. Braulik, Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels, in: ders., Studien zum Buch Deuteronomium, Stuttgart 1997, ; M. Görg, Erinnere dich!: MThZ 49 (1998) 23 32; C. Hardmeier, Die Erinnerung an die Knechtschaft in Ägypten, in: F. Crüsemann (Hg.), Was ist der Mensch?, München 1992, ; W. Schottroff, Gedenken im Alten Orient und im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn II. C. Breytenbach, Das Sich-erinnern in der urchristlichen Überlieferung, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, Leuven 1992, ; A. Schüle, Gottes Handeln als Gedächtnis, in: H.-J. Eckstein/M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, ; H. Weder, Evangelische Erinnerung, in: ders., Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, Klaus Neumann Geduld (G.) ( Dachartikel: Kultur und Mentalität) Vorbemerkung: G. ist als Langmut G. mit anderen oder als Standhaftigkeit bzw. Ausdauer G. im Ertragen von Widrigkeiten. I. AT: 1. Begrifflich decken das Wortfeld der G./ Langmut primär Metaphern der Länge bzw. Dauer ab, nämlich Verbindungen der Wurzel {rk
216 204 (Hifil: lang machen, ausharren ) mit {appajim ( Zorn ) und ru a g ( Geist, Sinn ): {orœk {appajim ( Langmut ), {œrœk {appajim ( geduldig, langmütig ), {œrœk ru a g ( bedächtig, vorsichtig ). Die LXX gibt den Ausdruck wortgetreu durch makrouzm2a/makr3uzmow wieder. Ungeduld und Jähzorn sind dagegen kurzer Geist (Wurzel qrr kurz sein + ru a g, Ijob 21,4; Spr 14,29; Mi 2,7). Für G. im Sinne von duldendem Ertragen und glaubendem Ausharren stehen die Wurzeln dmm ( still sein, Ps 37,7; Klgl 3,26), šqt ( Ruhe halten, Jes 30,15) und gkh ( warten, ausharren, aushalten, Dan 12,12). Implizit kann der Aspekt der G. auch mit den Verben des Harrens und Hoffens (jgl, qwh, sbr) verbunden sein. I. 2. Das Thema der G. ist vor allem in zwei lit. Formen bzw. Topoi verwurzelt. Zum einen wird Gott durch seine G./Langmut gegenüber den Menschen charakterisiert, oft steht diese dabei in einer Reihe mit seiner Nachsicht, Güte, Gnade und Treue (Ex 34,6; Num 14,18; Ps 103,8; Jona 4,2; Weish 15,1; Sir 18,11). Zum anderen wird die menschliche G. in der weisheitlichen Lehre gelobt (Spr 14,29; Koh 7,8; Sir 5,11); Bedachtsamkeit, Großmut und Nachsicht gelten im Gegensatz zu übersteigertem Ehrgeiz und übertriebener Reizbarkeit als sozial konstruktives Verhalten. Antithetisch wird die G. dem (Jäh-)Zorn (Spr 15,18) und überbietend der Stärke (Spr 16,32) gegenübergestellt. Als Herrschertugend ist sie Ausdruck der überlegenen Nachsicht des Mächtigen mit dem Unterlegenen und Abhängigen (analog in Verhältnissen ökonomischer Abhängigkeit, Sir 29,1 8). In diesem Sinne wird auch an die G. Gottes appelliert. Kein eigenes Wort hat das AT für G. in alltäglichen Lebensvollzügen (vgl. z. B. Jak 5,7: G. bis zum Reifen der Ernte). In der bäuerlichen Gesellschaft des Alten Israel ist die Bindung von Arbeit und Tun an die dafür gegebene Zeit so unzweifelhaft, dass das Thema der (Un-)G. hier nicht auftaucht. Als Tugend der Ausdauer und Standhaftigkeit in Situationen der Bedrängnis und des Martyriums wird die G. erst in hell. Zeit unter dem Einfluss griech. Ethik entfaltet (Jdt 7,30; Weish 2,19; Sir 1,23; 2,4; 4Makk 1,11; 15,30; 17,12). II. NT: 1. An die atl. Rede von der Langmut und G. Gottes mit den Sündern knüpft das NT mit Geduld der aus der LXX übernommenen Wortfamilie makrouzm2a/makr3uzmow/makrouzm0v an (Mt 18, 26f; Röm 2,4; 9,22; 1 Tim 1,16; 1 Petr 3,20; 2 Petr 3,9.15). II. 2. Gottes G. zielt als päd. Strategie (vgl. schon Sir 18,13) auf Umkehr und Besserung. Wird die dazu gewährte Frist nicht genutzt, folgt allerdings eine umso schlimmere Strafe (Röm 2,4 11; vgl. schon Sir 5,4 7). Als menschliche Tugend ist die G./Langmut eine Konkretion der Liebe (vgl. 1 Kor 13,4; 2 Kor 6,6; Gal 5,22; Eph 4,2; 2 Tim 3,10). Die im Griech. geläufigere Bedeutung von makrouzm2a Ausdauer / Beharrlichkeit tritt demgegenüber etwas zurück (Kol 1,11; Hebr 6,12.15; Jak 5,7f.10). Bn0xomai ( standhalten, ertragen ) kann ebenfalls entweder Nachsicht mit anderen (Mk 9,19par.; Eph 4,2; Kol 3,13; vgl. auch das Subst. Bnox1 für die göttliche G., Röm 2,4; 3,26) oder Standhaftigkeit (1 Kor 4,12; 2 Thess 1,4) meinen. Nur eine Nebenrolle spielt der Stamm karter-, der für den philos. Tugenddiskurs über die innere Stärke, d. h. die Ausdauer/Standhaftigkeit (kart0rhsiw bzw. karter2a; abgeleitet von kr/tow Stärke ) des Weisen gegenüber allen Schicksalsschlägen zentral ist (exemplarisch in der Mythologie Herakles und Odysseus; bei den Stoikern ist die G. eine wichtige Nebentugend der Tapferkeit). Im NT hat der Stamm karter- überwiegend die unspezifische Bedeutung (aus-)dauernd/unentwegt (Apg 1,14; 2,42.46; Röm 12,12; Eph 6,18; Kol 4,2; vgl. dagegen die intensive Rezeption der Seelenstärkevorstellung in Bezug auf das Martyrium in 4Makk 6,13; 9,26; 15,28.30; 16,14). Im NT ist der eigentliche terminus technicus für die ausdauernde und standhafte G. vielmehr Opomon1 bzw. das Verb Opom0nv ( aushalten, ertragen, geduldig sein ; Mk 13,13par.; Röm 5,3f; 1 Kor 13,7; 2 Kor 6,4; Hebr 10,36; 12,1; Jak 1,3f; 5,11; Offb 13,10; 14,12). Im Profangriech. hat das Wort einen negativen Beiklang von Passivität, d. h. der Hinnahme von Erniedrigung und Schande aus Schwäche, während kart0rhsiw das aktive Standhalten ist. Im NT ist die G. aber nicht Zeichen autonomer Seelenstärke, sondern der Zuversicht und Hoffnung auf Gott (vgl. den Sprachgebrauch der LXX, wo Opomon1 Erwartung und sogar Hoffnung bedeutet). Während in den Evv. und der Verkündigung Jesu Aus-
217 Geist Geist 205 harren und Standhaftigkeit begrifflich nur im Zusammenhang mit den eschatologischen Bedrängnissen eine Rolle spielen und viel stärker die Nähe des kommenden Gottesreiches im Vordergrund steht (Mk 1,15), wird in den Spätschriften des NT umso öfter zum Durchhalten bis zur Parusie Christi gemahnt; die G. findet ihren festen Platz in den Tugendkatalogen und der Paränese (vgl. Hebr 10,32 39; 2 Petr 3,3 18; Jak 5,7 11; Ermahnung). Vorbilder der G. sind Abraham, Ijob, die Propheten und Christus selbst (Hebr 6,15; 12,3; 1 Petr 2,20f; Jak 5,10f). Keine Rolle spielt die G. im Corpus Johanneum. Zwar ist das Bleiben (m0nv) wichtig (Joh 15,4 10), doch damit verbindet sich nicht die Erwartung des kommenden, sondern die Erfahrung des gegenwärtigen Christus. I. S. R. Garret, The Patience of Job and the Patience of Jesus: Interp. 53 (1999) ; H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München II. R. A. Kaster, The Taxonomy of Patience, or When is patientia Not a Virtue?: CP 97 (2002) ; C. R. Seitz, The Patience of Job in the Epistle of James, in: R. Bartelmus u. a. (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte, Fribourg 1993, ; T. Söding, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus: ZNW 82 (1991) Klaus Neumann Geist (G.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) I. AT: 1. Das hebr. Wort ru a g, das im Deutschen mit G. wiedergegeben wird, hat die Grundbedeutung Wind, Atem, G., wobei die Abgrenzung der Bedeutungen Wind und Atem, G. im Einzelfall schwierig ist. In der Bedeutung Wind meint ru a g eine Naturerscheinung wie den leichten Lufthauch (Jes 57,13), den stürmischen Wind (Jona 1,4 u. a.) oder den Ostwind (Ex 10,13 u. a.), der aus der Wüste kommt (Jer 13,24) und die Pflanzen ausdörrt (Ez 17,10 u. a.). Wind -Aussagen veranschaulichen nicht nur die Vergänglichkeit des Lebens und das Strafgericht Gottes (Ps 103,15; Hos 13,15 u. a.), sondern auch die Nichtigkeit von Götzenbildern (Jes 41,29; Jer 14,22). Zwischen dem Wehen des Windes und dem Wirken Gottes besteht ein enger Zusammenhang: Winde sind seine Boten (Ps 104,4; vgl. 148,8) und er führt sie aus seinen Kammern (Jer 10,13 u. a.). Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung von ru a g in Gen 1,2 ( und die ru a g { œ lohim war in Bewegung begriffen/ schwebte über der Oberfläche des Wassers ) als G. Gottes oder (wahrscheinlicher?) als starker Sturm/Wind ; auf jeden Fall ist mit diesem Syntagma eine Art Initialzündung für das ab V. 3 geschilderte Schöpfungsgeschehen gemeint. In der Bedeutung Atem, G. meint ru a g (parallel zu n e šama Jes 42,5; Ijob 33,4, vgl. Gen 2,7 u. a.) die von Gott geschenkte Kraft, die das Leben konstituiert und erhält. Sie macht die Vitalität aller Lebewesen und insbes. des Menschen aus (Gen 6,3.17; 7,22; Ps 104,29f u. a., skeptisch Koh 3,19 21) und führt sogar die Wiederbelebung der Totengebeine herbei (Ez 37,5.9f; 2 Makk 7,23). Der dynamische Charakter des Atems bzw. G. kommt auch in der Verwendung von ru a g zur Bezeichnung der seelischen Kräfte wie Zorn (Ri 8,3), Mut (Num 14,24), Erregung (Ez 3,14), Angst (Ijob 7,11), Kummer (Jes 61,3) und Demut (Ps 51,19) zum Ausdruck. Der wichtigste anthropologische Parallelbegriff zu dieser Verwendung von ru a g ist leb/lebab Herz als das emotionale, kognitive und voluntative Zentrum des Menschen (Jos 2,11; Jes 57,15; Ez 20,32; Ps 32,2; Koh 7,9 u. a.; Anthropologie; Fleisch). I. 2. Die Geschichten vom Wirken des G. Gottes in der Geschichte Israels setzen gemäß der kanonischen Abfolge der bibl. Bücher mit Mose (Num 11,16 19) und Josua (Dtn 34,9) ein und verlaufen über die Rettererzählungen des Ri- Buchs (Otniël Ri 3,10; Gideon Ri 6,34; Jiftach Ri 11,29 u. a.), die Saul/David-Überlieferungen (1 Sam 16,13; 2 Sam 23,2) und die frühe Prophetie (1 Sam 10,10; 19,20 24) bis hin zu Ezechiel, der in bes. Weise als geistbegabt gilt (Ez 2,2; 3,12.14; 8,3 u. a.), und zum Gottesknecht, den der G. Gottes dazu befähigen wird, das Recht unter den Völkern zu verbreiten und ihnen die Tora zu vermitteln (Jes 42,1 4). In der Spätzeit wird der G. ganz nah an Gott herangerückt, ohne dabei analog zu Frau Weisheit (Spr 8,22 31) zu einem göttlichen Wesen hypostasiert zu werden (so erst in Qumran 1QS 3,13 4,26 u. a.). Die Endzeithoffnungen ( Eschatologie) knüpfen an die Geschichtsüberlieferungen Israels und deren
218 206 Geist exil.-nachexil. Rezeptionsgesch. an, transformieren diese aber erheblich, wie aus der Verbindung von Gottesgeist und messianischem Wirken in Jes 11,1ff (vgl. Jes 61,1 3) und aus den Erwartungen hervorgeht, die dem Wirken des G. im Volk Israel (Ez 36,26f; 37, ; 39,29 u. a.) gelten. Späte Psalmen schließlich bezeugen, dass die Frommen den Weg der Gebote und des Gehorsams unter der Leitung des G. zu gehen hoffen und darum bitten (Ps 51,12 24; 143,10). II. NT: 1. Das NT teilt die atl.-jüd. Überzeugung von der wirkmächtigen Nähe Gottes in bzw. durch seinen von ihm ausgehenden G. (pneqma [Agion] Wind, Atem ). Dem menschlichen G. (ebenfalls pneqma) eignet eine kreatürliche Affinität zum Wirken des Gottesgeistes (vgl. Mt 5,3; Röm 1,9; 8,16; 1 Petr 3,4). II. 2. Grundlegend erzählt das NT von seinen frühesten Überlieferungsstufen an das Wirken des G. in und durch Jesus Christus sowie durch ihn vermittelt in und durch die Glaubenden. Bei Paulus, Joh und in Mt 28,19 finden sich prototrinitarische Zeugnisse. Eine enge Verbindung des G. mit der atl.-jüd. Metaphorik des Feuers (pqr) für die rettend-bergende, heilige bzw. richtende Nähe und Gegenwart Gottes findet sich in der Gegenüberstellung der Wassertaufe des Johannes mit der G.- und Feuer- Taufe Jesu ( Taufe). Der Täufer droht mit dem unmittelbar bevorstehenden Feuer-Gericht Gottes ( End-Gericht) als Vernichtung derer, die sich Gottes heiligem Willen widersetzen (Mt 3,10 12). Auch in der Verkündigung Jesu begegnet das Feuer als Gerichtsmotiv (Lk 9,54; 12,49; Mt 7,19; 13, ; Mk 9,43.48; Lk 16,24; vgl. Joh 15,6; 1 Kor 3,13 15). II. 3. Die gesamte Theol. des Paulus lässt sich von seiner Theol. des heiligen G. entfalten: Paulus, der sich selbst in jeder Hinsicht als pneumatisch begabt weiß, deutet die Auferweckung und Erhöhung Jesu als geistgewirkt (Röm 1,4; 6,4; 8,11; 2 Kor 13,4; vgl. 1 Tim 3,16; 1 Petr 3,18) und den Auferstandenen selbst als Pneuma (2 Kor 3,17). Durch seine Auferweckung durch Gott wird er zum lebenspendenden Pneuma (pneqma ynopoioqn; 1 Kor 15,45), zum Erstling (1 Kor 15,20.23) der neuen Schöpfung. Diese Gleichsetzung von Kyrios und Pneuma ist dynamisch als Gegenwart Christi im Wirken des G. zu verstehen. Grundlegend gilt für Paulus: Gott selbst ist und bleibt der Ursprung des G., der durch ihn zum Heil der Menschen handelt (1 Thess 4,8; 1 Kor 2,11; 3,16; 6,11; 12,3; Röm 8, u. a.). Der den Christen in ihrem Glauben (vgl. Gal 3,1 5) und ihrer Taufe (vgl. Röm 6; 8) zuteil gewordene G. bewirkt ihre Offenheit für Gott und richtet sie auf ihn hin aus: Gottes G. ist das Kommunikationsmedium zwischen Gott und Christus ebenso wie zwischen Gott bzw. Christus und den Glaubenden (Gal 4,6; Röm 8,10f; vgl. Eph 2,18 22). So ist der G. Gottes auch der Grund für die geschenkte Gerechtigkeit vor Gott (vgl. Gal 3,14; 5,5; Röm 8,1 11; Rechtfertigung). Ohne den G. kann niemand Jesus als Kyrios bekennen (1 Kor 12,3). Paulus bestimmt in dieser Perspektive das gesamte ekklesiale Leben wie die individuelle christl. Existenz als geistbewegt und -geführt (1 Kor 12 14; Gal 5; Röm 8). Der G. ermöglicht die Zugehörigkeit zu Christus (Röm 8,9), die Gliedschaft in seinem Leib (1 Kor 12,13) und die Teilhabe an der Sohnschaft Christi, die für die ewige Herrlichkeit bei Gott disponiert (Gal 4, 4 7; Röm 8,14 19). Gottes G., der Jesus von den Toten auferweckt hat, wird auch die Glaubenden zu unvergänglichem Leben erwecken (Röm 8,11). II. 4. Die Evv. schildern das Wirken und Leben Jesu als geistbegabt und -geführt: Ausgerüstet mit Gottes G. (vgl. die Überlieferungen der Taufe Jesu Mk 1,9 11par.) ist er selbst einer, der mit G. und Feuer tauft (Mt 3,11par.; vgl. Jes 30,27f) und die Versuchung in der Wüste besteht (Mk 1,12f.par.). Aufgrund seiner Geistbegabung wirkt er pneumatische Machttaten (vgl. Mt 12,28; Wunder; Exorzismen). Im heilenden Wirken Jesu erfüllt sich nach Mt 12,9 21 die Verheißung in Jes 41,1 4 über den geliebten Gottesknecht, auf den Gott seinen G. legt. Die Kindheitsgeschichten führen die jungfräuliche Empfängnis Jesu auf das Wirken des G. zurück (Mt 1,18 20; Lk 1,35). Insbes. Lk stellt Jesus als messianischen Freudenboten, als wohltätigen Gesalbten Gottes vor (Lk 1,35; 3,21f; 4,14 21; 6,20; 7,22; Apg 4,27; 10,38). Ausweislich der Ausgießung des G. (Apg 2,1 13; 8,14 17; 10,44 48) sieht die Apg (und Lk) das gesamte urchristl. Leben in der missionarischen Wegführung durch Gottes G. begründet (Apg 8,29.39; 10,19; 15,28 u. a.), der alle Glaubenden
219 Gemeinschaft / Individuum 207 prophetisch begabt (Apg 2,16 21; vgl. Joël 3,1 5) und zum missionarischen Zeugnis befähigt. Gottes G. führt die Gemeinschaft der Glaubenden, insbes. die Apostel und Zeugen des Ev., bis an das Ende der Erde (Apg 1,8). Der mt. Taufauftrag Jesu kennt bereits die triadische Formel: auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes (Mt 28,19). Joh konzentriert das Wirken des G. vorösterlich auf das Wirken Jesu (Joh 1,32f), um nachösterlich die Gabe des G. durch den Auferstandenen zu betonen (Joh 7,38f; 19,30; 20,22; vgl. die Tauftheol. Joh 3,3 8). Der G. des Vaters bzw. der G. Jesu, der in der joh. Abschiedsrede als Paraklet (par/klhtow = Beistand, Helfer, Fürsprecher ) bezeichnet wird, ist die Ostergabe Jesu schlechthin für die Glaubenden, die sich dem Zeugnis und der unterscheidenden Hodegie (Unterweisung) des G. (vgl. Joh 16,13) anvertrauen (vgl. Joh 14,16f.26; 15,26; 16, ). Christl. Gottesdienst muss sich in dem G. und der Wahrheit vollziehen, die Jesus Christus offenbart und selbst in dynamischer Entsprechung ist (Joh 4,23; 6,63). Tiefe Sachgrundlage der joh. Pneumatologie ist die Überzeugung, dass Gott selbst in seiner beziehungsreichen Identität G. ist (Joh 4,24). Der Autor der Offb führt seine Visionen auf den G. zurück, versteht sich und seine Schrift als inspiriertes, prophetisches Zeugnis (Offb 1,10; 2,7; 4,2; 19,10; 22,6 21). Durchgehend findet sich im NT die Mahnung, die Geister zu unterscheiden, ob sie auf den einen und Einheit stiftenden G. Gottes (1 Kor 12,4) zurückgehen oder nicht (1 Thess 5,19 21; 1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1 6). I. M. Bauks, Die Welt am Anfang, Neukirchen-Vluyn 1997; H. Schüngel-Straumann, Rûah bewegt die Welt, Stuttgart II. J. D. G. Dunn, Jesus and the Spirit, London 1975; G. D. Fee, God s Empowering Presence, Peabody 1994; F. W. Horn, Das Angeld des Geistes, Göttingen 1992; B. von Kienle, Feuermale, Bodenheim 1993; W. Thüsing, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, Münster ; M. Welker, Gottes Geist, Neukirchen-Vluyn Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Gemeinschaft / Individuum (G./I.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Gemeinschaft / Individuum I. AT: 1. Der Begriff G. ist allgemein und kann von der Ehe-, Haus-, Dorf-, Stadt-, Staats- bis zur weltumspannenden Völker-G. alle menschlichen Gruppierungen umfassen und, im Sinn des Verhältnisses zwischen Menschen und Gott gebraucht, auch eine rel. Komponente enthalten. Eine G. ist für das AT das Volk und Gottesvolk Israel, die Familie (Sippe/Clan, Stamm, Verwandtschaft), der Staat, die Gemeinde und Kultgemeinschaft ( Kirche), wobei Überschneidungen gegeben sind. G. als (Rats-)Versammlung oder Gremium bringt }era (Ijob 10,3; 21,16; 22,18; Jes 19,11; 1QS 5,7; 6,3 u. a.) zum Ausdruck, während sich mit sod die Bedeutung Zusammenkunft, Kreis verbindet. Bei Letzterem handelt es sich um ein Treffen von Menschen, die näher zusammengehören (Gen 49,6; Ps 55,15; Ijob 19,19; Jer 6,11; 15,17; Ez 13,9). So kann das einsam sitzen (Jer 15,17) als Gegensatz benannt werden. Moralisch qualifiziert ist der Kreis (sod) der Bösen (Ps 64,3ff) als aggressiver Feind der Frommen, sodass es gute und schlechte G. gibt. Gemeinschaftstreue und -loyalität wird hebr. mit der Wurzel *rdq bezeichnet, während für gemeinschaftsschädigendes Verhalten die Wurzel *rš} gebraucht wird. Dabei geht es nicht nur um das rechte bzw. gestörte Sozialverhalten, sondern auch um die intakte bzw. gestörte Gottesbeziehung. Zur Bezeichnung des I. greift das Hebr. auf das allgemeine næfæš Vitalität, Person, Mensch ( Anthropologie) zurück. I. 2. Eine Gemeinschaft ist eine Gruppe von mindestens zwei Menschen, die eine Wir-Gruppe im Gegensatz zu Fremden oder Feinden bilden. Die Kriterien, nach denen eine G. konstituiert wird, werden von den G.-Mitgliedern festgelegt sowie akzeptiert; sie wirken auch umgekehrt auf die Mitglieder zurück. G. brauchen für die Herstellung einer G.-Identität Abgrenzungen nach außen. Die Grenzen, die gezogen werden, sind nicht von Anfang an gegeben, sondern werden im Laufe der Geschichte einer G. von derselben konstruiert, als Kategorien mobilisiert und aufrechterhalten. Es ist die soziale Praxis des Unterschiede-Machens (in Selbst- und Fremdzu-
220 208 schreibung), aus der heraus Gruppen und Identitäten konstituiert werden ( Kultur und Mentalität). Grenzen zwischen Gruppen sind weniger eine Frage objektiver Kulturunterschiede oder primordialer (uranfänglicher) Gegebenheiten als eine Funktion der Identitätsbildung. G. und ihre Identitäten sind soziale Konstrukte (F. Barth). Eine G. ist folglich eine Menschengruppe, die sich eine bestimmte Identität konstruiert und den Prozess der Identitätsbildung vorantreibt. Sie ist das Ergebnis der konstruktiven Kraft sozialen Handelns, das konstituierend wirkt. Als Produkt der Gesellschaft ist die kollektive Identität einer G. Gegenstand einer gewissen Theoriebildung, wobei die Theorien zur Identität in eine allgemeine Interpretation der Wirklichkeit, in die symbolische Sinnwelten, Plausibilitätsstrukturen und Legitimationsstrukturen eingebettet sind (und institutionell gepflegt werden). Dabei spielt die Konstruktion einer eigenen gemeinsamen Geschichte und eines gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses einer früheren Verbundenheit (primordiale Einheit oder gemeinsame Abstammung; Ursprungsmythos ) eine bes. Rolle. Primordiale und zeit-, geschichts- sowie ereignisgebundene Züge, selbstzugeschriebene und fremdzugewiesene Elemente werden integriert, um den Prozess der Identitätsbildung voranzutreiben. Dies gilt in bes. Maße für ethnische Gruppen und deren Identitäten. Das AT ist Teil der Konstruktion einer partikularen Identität der G., die in den Texten bestimmend ist: des Gottesvolks Israel. So schlagen sich hier unterschiedliche innergesellschaftliche Grenzziehungsprozesse nieder, die mit der kulturell konstruierten Gruppenidentität verbunden wurden. Die meisten dieser sich in den atl. Schriften spiegelnden Prozesse weisen in die exil.-nachexil. Zeit. Während vorexil. wohl vor allem die familiäre Zugehörigkeit bei der Orientierung der Menschen und ihrer Zuordnung zu einer G. am bestimmendsten wirkte, spielte die lokal-regionale G. (Weiler, Dorf, Stadt, G. in der Ebene, im Bergland, Jordantal) eine sekundäre, der polit. Raum (z. B. Palästina als Teil der äg., später ass., bab. etc. Provinz) tertiär und nur dann eine Rolle, wenn man an den herrschenden Strukturen (z. B. als Beamter, Händler) Anteil hatte. In der staatlichen Zeit änderte sich dies nur auf der tertiären Gemeinschaft / Individuum Ebene mit der Entstehung der polit. Entität Staat, die sich über die vorhandenen Kleinstrukturen legte. Inwieweit dies in Gebieten, die wechselnden polit. Ansprüchen unterlagen (z. B. Dan, Jokneam, Negeb) überhaupt im Sinn der Integration in eine Staats-G. Nord- oder Südreich wahrgenommen wurde, ist umstritten. In exil. Zeit begann in Babylonien das theoretische, in nachexil. Zeit in Juda/Jehud das praktische Ringen um die Identität der G., die sich um Davididen und Jerusalemer Priesterschaft und Tempel zentrierte. In diesem Zusammenhang war es wichtig, Kriterien aufzustellen, die über die Zugehörigkeit zur Wir- Gruppe entscheiden konnten. Allem Anschein nach hatten die zurückgekehrten Exulanten in Jerusalem bald die polit., wirtschaftliche und rel. Führung beansprucht. Zur Konsolidierung Jehuds als eigene Entität in Nachfolge Judas und des Nordreichs Israel und in Abgrenzung gegen die benachbarte Vielvölkerwelt wurden nach atl. Darstellung nach Jehud die in den exil. Gemeinschaften entwickelten Abgrenzungsmechanismen gegen die fremde Umwelt (Organisation in Vaterhäusern/Familienbünden, Beschneidung, Speisegebote, Sabbatruhe, Mischehenverbot [Esra 10; Neh 13,23 28]) importiert und dort mit pers. Hilfe als restaurative Maßnahme (obwohl realiter eine Modernisierung) durchgesetzt. In diesen rituell-rel. Geboten, die das Leben des Einzelnen stark beeinflussten und ihn zur persönlichen Stellungnahme (Annahme mit Durchführung, Ablehnung) nötigten, wurde das Problem der G.-Zugehörigkeit jedem einzelnen Judäer/Jehudäer vorgelegt und ins Bewusstsein gerückt. Die theologisierte Weisheit der Spätzeit entwickelte das Konzept der inneren Reinheit (Ps 51,4.9.12; Reinheit = Gerechtigkeit, Ijob 17,9). Die Verinnerlichung der Tora-Gesetze und eine individualisierte Ethik standen hier ebenso im Vordergrund wie die G. des Einzelnen mit Jhwh. I. 3. In Bezug auf das Individuum zeigt sich das AT (mit Ausnahme der theologisierten Weisheit, in der allerdings Jhwh für den Einzelnen in die Rolle der Orientierungsperson einrückte) von der Lebenseinstellung des Dyadismus ( Kultur und Mentalität) geprägt. Eine dyadische Person nahm sich selber wahr und orientierte ihr Selbstbild wie Verhalten an dem, was andere in ihr sahen und
221 Gemeinschaft / Individuum 209 von ihr erwarteten. Dem wollte sie entsprechen. Da sie ihre Informationen nicht aus sich selbst, sondern durch andere erhielt, blieb alles (individuell psychologisch) Einzigartige, was in einem Menschen vorging, außer acht. Motivationen, Eigenschaften und Einstellungen leiteten sich von Stereotypen ab, von Verallgemeinerungen, die man innerhalb der Kultur bestimmten Gruppen (z. B. der Geschlechts-, Familien-, Dorf-, Berufsgruppe) zuschrieb. Der Einzelne blieb allein schon durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe innerhalb vorgegebener, als typisch angesehener Parameter (z. B. fremde Frauen ), von denen sich nur die Person des Königs (gesellschaftlich ungestraft) absetzen konnte. Folgerichtig fragte man sich nicht lange, was im Herz (= Sitz des emotional durchdrungenen Denkens; Anthropologie) einer Person vorging, denn man ging davon aus, dass dies nur Gott bekannt war (1 Sam 16,7). Moralische Normen bestimmten zwar das individuelle Verhalten, jedoch wurden sie vom Standpunkt des überindividuellen Horizonts des sozialen Körpers formuliert. Haustafeln, Tugend- oder Lasterkataloge hatten zum Ziel, die Familie, das Dorf oder das Volk sozial gesund und handlungsfähig zu halten, während das Individuum als solches entbehrlich war (z. B. neue Kinder ersetzen die Toten, s. Ijob 42,13). In diesem Kontext kam der sozialen Konformität und Gemeinschaftstreue höchste Bedeutung zu. Gemeinschaftswidriges Verhalten in Wort und Tat bedrohte den einzelnen Mitmenschen wie die G. insgesamt (Gewalttaten, verbale Entgleisungen, Aufruhr, Eigentumsdelikte, Betrug, Götzendienst, kultische Vergehen, vgl. Ez 18,5ff; Spr 10,6.11; Mi 6,10ff; Lev 20,2ff u. a.). Wo Streit ausbrach, war die G. gestört und musste wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Das Gericht diente auf allen seinen Ebenen (Familien-, Ortsgerichtsbarkeit) dazu, dasselbe wieder herzustellen und jedem zu verschaffen, was ihm zustand (Wiederherstellung der Ehre oder des Besitzes) und den Störer des gesellschaftlichen Friedens unschädlich zu machen oder gar (zum Wohl aller) zu beseitigen. II. NT: 1. G. wird im NT v. a. durch den Begriff koinvn2a ( G., Teilhabe ) ausgesagt, der in der griech. Kultur in der Anteilhabe sozial Gleichgestellter am Leben in der Polis und in der sprichwörtlichen G. der Freunde wurzelt: Richtig ist das Sprichwort Freunden ist alles gemeinsam, denn in G. besteht Freundschaft (Aristot. NE 8, b 31 33). Als Stammverwandten begegnen (szn-)koinvn3w ( Teilhaber, Genosse ), (szn-)koinvn0v ( Anteil haben, nehmen, geben ), die Adjektive koinvnik3w ( bereit zu teilen, 1 Tim 6,18) und koin3w ( gemeinsam : Apg 2,44; 4,32; Tit 1,3; Jud 3, sonst: unrein ). Ferner sind als Worte der Teilhabe belegt: met0xein ( Anteil haben, erhalten, 1 Kor 10,17.21), metox1 ( G., 2 Kor 6,14), m0toxow ( Genosse, Lk 5,7; Hebr 1,9; teilhabend an, Hebr 3,1.14; 6,4). II. 2. Alte Tradition über das Gemeinschaftsleben der Jerusalemer Urgemeinde enthalten die Summarien Apg 2,42 46; 4, Als Konkretion des Festhaltens an der G. (koinvn2a, Apg 2,42) werden genannt das beieinander Sein (Apg 2,44), sich täglich einmütig (Zmouzmad3n) im Tempel aufhalten (Apg 2,46, Einmütigkeit charakterisiert die Gemeinden auch nach 1,14; 4,24; 5,12; 15,25; Röm 15,6 u. a.), ein Herz und eine Seele sein (Apg 4,32), die Feier des Abendmahls und das Gebet. Zweimal begegnet der aus dem antiken Freundschaftsideal und der utopischen Lit. bekannte Topos des Cpanta koin8 (Apg 2,44; 4,32: sie hatten alles gemeinsam ). Vermutlich liegt hier keine bloße Rückprojektion idealer Verhältnisse in die Frühzeit vor, sondern Verallgemeinerung von Erinnerungen an die in der Nachfolge der besitzkritischen Verkündigung Jesu tatsächlich geübte Praxis, Privatbesitz zu verkaufen und der Gemeinde zur Verfügung zu stellen (vgl. den Verkauf eines Ackers durch Barnabas in Apg 4,36f). Möglicherweise waren die Hellenisten Träger dieses Ideals in der Urgemeinde, was die hell. Sprachform und das baldige Ende des Experiments (wegen ihrer Vertreibung aus Jerusalem, Apg 8,1 4) erklären könnte. II. 3. Als einheitliche Grundstruktur des Wortfeldes koinvn2a bei Paulus hat J. Hainz die Bedeutung Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas) erwiesen. Es wird also immer eine komplexe Beziehung zwischen mehr als zwei Größen beschrieben. Selbst die so einfache Aufforderung, dem Lehrer Anteil zu geben an allen (materiellen) Gütern (Gal 6,6), gründet in der durch das Unterrichten des Wortes
222 210 gestifteten geistlichen Partnerschaft. Die vielfältigen Aspekte des pln. Gemeindekonzepts zeigt der Gebrauch des Wortfeldes im Phil. In Phil 1,5 gedenkt Paulus dankbar Ep; t3 koinvn2b OmMn exw t< epagg0lion, was das Anteilgewinnen der Adressaten am Ev., ihr Mitwirken an der Evangeliumsverkündigung und die dadurch zwischen Paulus und ihnen entstandene enge, herzliche Verbindung umschreibt. Phil 1,7 nennt die Philipper Teilhaber meiner Gnade (szgkoinvno4w moz tvw x/ritow) bei meiner Gefangenschaft, bei der Verteidigung und Bekräftigung des Ev. Dabei ist wahrscheinlich das in Phil 4,14 erwähnte Anteilnehmen der Philipper an der Bedrängnis des Apostels (szgkoinvn1sant0w moz t3 ul2cei) gemeint, das wie schon zu früheren Zeiten (Phil 4,16) in einer großzügigen Spende zur Unterstützung seiner Evangeliumsverkündigung bestand (Phil 4,10.18). Phil 4,15 nennt dies G. halten auf Rechnung von Geben und Nehmen. Letztlich gründen alle diese Gemeinschaftsverhältnisse in der Christusgemeinschaft (1 Kor 1,9: Treu ist Gott, durch den ihr gemeinsam berufen seid zur G. mit seinem Sohn Jesus Christus ). Diese gewinnt man nach Phil 3,10 insbes. durch die Teilhabe am seinem Leiden (koinvn2an pauhm/tvn aptoq; Leid), zu der auch die Philipper aufgefordert sind (Phil 1,29f; vgl. 1 Petr 4,13). Sie trägt auch die Verheißung der Anteilhabe an der Auferweckung mit sich (Phil 3,11; vgl. 2 Kor 1,5 7: Leiden und Trost durch gemeinsame Anteilhabe an den Leiden Christi). Am Phlm lässt sich der die sozialen Grenzen überschreitende Aspekt des pln. koinvn2a-begriffs exemplarisch zeigen. Eingebettet in verschiedene andere Topoi des Freundschaftsbriefes formuliert Paulus im Proömium den Wunsch, die durch Philemons Teilhabe am Glauben entstandene G. (T koinvn2atvw pistemw) zwischen Paulus und Philemon möge wirksam werden in der Erkenntnis des Guten (Phlm 6). Dass damit die Bitte des Paulus um brüderliche Aufnahme des zum Glauben an Christus bekehrten Sklaven Onesimus im Haus seines Herrn vorbereitet werden soll, die V. 16 formuliert, zeigt die Wiederaufnahme der koinvn2a-terminologie in V. 17: Wenn du nun mich als Partner (koinvn3n) hast, nimm ihn auf wie mich. Onesimus soll also Gemeinschaft / Individuum als gleichberechtigter Teilhaber in die Glaubensgemeinschaft aufgenommen werden. Dies bedeutete im Rahmen antiker Mentalität eine schwere Zumutung, denn echte koinvn2a war wie Freundschaft nur zwischen sozial Gleichgestellten denkbar. Ausdrücklich hielt Aristoteles fest: Da aber die gleiche Beziehung besteht zwischen Seele und Leib, zwischen Handwerker und Werkzeug sowie zwischen Herr und Sklave, gibt es zwischen diesen keine G. (koinvn2a) (NE 1241b). Es war die alle Gläubigen in gleicher Weise erneuernde und zueinander in Beziehungen bringende Erfahrung der Teilhabe am Geist (koinvn2a pne4matow: Phil 2,1; 2 Kor 13,13), die im Urchristentum die Überwindung der sozialen Schranken möglich machte ( Kirche). Die neue G. wurde v. a. durch die Abendmahlsgemeinschaft konstituiert und erfahrbar: Ist nicht der Kelch des Segens, den wir segnen, gemeinsame Teilhabe am Blut Christi (koinvn2a toq afmatow toq XristoQ)? Ist nicht das Brot, das wir brechen, gemeinsame Teilhabe am Leib Christi (koinvn2a toq s5matow toq XristoQ)? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir haben alle Teil (met0xomen) an dem einen Brot (1 Kor 10,16f; Abendmahl, Körper). Ein weiterer Schwerpunkt der pln. G.-Terminologie findet sich beim Thema der Kollekte für Jerusalem, die Paulus als Zeichen der Verbundenheit (vgl. Gal 2,9: Handschlag zum Zeichen der G.) und Ausdruck der bleibenden Verpflichtung der heidenchristl. gegenüber der Jerusalemer Gemeinde interpretiert (Röm 15,26f; 2 Kor 8,4; 9,13). I. F. Barth, Ethnic Groups and Boundaries, Boston 1969; A. C. Hagedorn, Between Moses and Plato, Göttingen 2003; N. Lohfink, Wie stellt sich das Problem Individuum Gemeinschaft in Deuteronomium 1,6 3,29?, in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 1, Stuttgart 1990, 45 51; U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde, Frankfurt/M II. J. Hainz, Koinonia, Regensburg 1982; G. Theißen, Urchristlicher Liebeskommunismus, in: T. Fornberg/D. Hellholm (Hg.), Texts and Contexts, Oslo u. a. 1995, ; M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, Gütersloh u. a Angelika Berlejung (AT) / Annette Merz (NT)
223 Gerechtigkeit Gerechtigkeit 211 Gerechtigkeit (G.) ( Dachartikel: Soteriologie) Vorbemerkung: G. ist in der ao. und antiken Welt ein kultureller Zentralbegriff mit großer Relevanz für die Soteriologie. G. lässt sich nicht auf den juridischen Bereich einschränken, sondern umgreift auch Ethos, Politik, Rel. und Natur. Die entsprechenden Begriffe (äg.: Maat; akkad.: kittu/ mišaru; hebr.: rœdœq/r e daqa/mišpat; griech.: dikaios4nh) beziehen sich dementsprechend auf den gesamten kulturellen Kosmos. Es geht nur am Rande um fixierte Gesetze, primär um die rechte Ordnung, die der Welt insgesamt zugrunde liegt. Das Handeln der Menschen (und auch das von Gottheiten) ist dann gerecht, wenn es in Übereinstimmung steht mit der Weltordnung bzw. mit dem der Welt innewohnenden Sinn. G. hat soteriologische Relevanz als Basis für das Gelingen des Lebens ( Ethik). I. AT: 1. Als Sinnkategorie ist G. zugleich eine Verknüpfungskategorie ( konnektive G. /Beziehungs-G.). Sie bindet die Folge an die Tat (Tun- Ergehen-Zusammenhang), sie bindet die Menschen in ihrem Handeln aneinander und sie verbindet Gott und Mensch. Dieser sinnhafte Zusammenhang umfasst Mensch und Natur. Erst die konnektive, d. h. soziale und ökologische Qualität der G. verknüpft die disparaten Erscheinungen der Welt zu einem sinnvollen Kosmos. Deshalb werden Störungen der menschlichen Ordnung oft mit Störungen des Kosmos verbunden. So spricht Ps 82,5 davon, dass ohne G. die Fundamente der Erde wanken. Wenn die konnektive G. nicht mehr funktioniert, gerät die Welt aus den Fugen ( Weltbild). Die G. als Weltordnung ist mit der Weisheit verbunden, die von göttlicher Seite her Schöpfungsplan und Schöpfungsordnung bedeutet, von menschlicher Seite her das Erkennen und Beachten dieser Ordnung. G. besteht nicht aus sich heraus, sondern muss aufgerichtet und erhalten werden. Ihr primärer Garant ist Gott ( theologisierte G. ); aktive G. ist das bedeutsamste Attribut Gottes und seines Handelns: Jhwh ist der Gerechte (Ex 9,27; Gottesvorstellungen). G. ist die Basis seiner Weltherrschaft (Ps 89,15; 97,2). Entgegen modernem Verständnis sind Richten und Retten kein Gegensatz, sondern verbinden sich in der G. Gottes. G. kann zum Inbegriff für Gottes Heilshandeln (an Israel wie an Einzelnen) werden (Ri 5,11; 1 Sam 12,7; Ps 11,7; 103,6; Jes 45,24; Mi 6,5). Sein Richten behebt Störungen der G.-Ordnung, rettet die, die von dieser Störung bedroht sind, und ist also soziales Handeln. Deshalb sind die Armen ( Armut) in bes. Weise die Adressaten des richtendrettenden G.-Handelns. Dem Richter-Retter Jhwh geht es zunächst und vor allem um die Geringen, die Waisen, die Elenden und Bedürftigen (vgl. Ps 68,6; 82,3f; 140,13; 146,7 9 u. a.). Sie müssen gerettet werden aus der Hand der asozial Handelnden ( Frevler ), deren Erfolg die Weltordnung ebenso in Frage stellt (Jer 12,1; Mal 3,15) wie das Leiden der Gerechten (Ijob). I. 2. Der König agiert als Stellvertreter Gottes und Mittler der göttlichen G. Gott hat ihn als König eingesetzt zum Tun von Recht und G. (1 Kön 10,9). So hat auch der König die Aufgabe, sich primär um die Armen und Benachteiligten zu kümmern (Spr 31,8f; Ps 72,4.12f). Wo er (oder seine Administration) die Armen benachteiligt, anstatt ihnen Recht zu verschaffen, zieht er sich den Zorn Gottes zu, wie die prophetische Kritik immer wieder betont (Jes 1,17ff; Jer 22,15ff). In vielen Texten wird das Versagen des Königs bearbeitet. In der dtr. Geschichtstheol. ist das königliche Versagen einer der Hauptgründe für das Unheil, das Israel widerfährt. In der nachexil. Weisheitslit. übernimmt die personifizierte Weisheit als Garantin der G. z. T. die Rolle des Königs. Andererseits gehört die G. in den nachexil. Königstexten umso dringlicher zu den Attributen des verheißenen Messias. Das Reich des Heilskönigs beruht auf Recht und G. (Jes 9,6), er richtet gerecht (Jes 16,5; 32,1), ja die G. ist der Gürtel um seine Hüfte (Jes 11,3f). Solches Wirken des Königs mündet in Heil, das gesellschaftliche Ordnung, Harmonie, Sicherheit und Frieden (Jes 32,17) bedeutet, aber auch segensreich auf die Natur ausstrahlt, Fruchtbarkeit fördert und Nahrung sichert (Ps 72, ). Auf der nichtköniglichen Ebene ist jedes Individuum verpflichtet, durch ein gemeinschaftsbewusstes Handeln den Bestand der G. zu stabilisieren und nicht durch asoziales Verhalten zu stören. Das, was als gerechtes Tun gilt, unterscheidet sich freilich von modernen Konzepten. Tamar prostituiert sich, um ihren Schwiegervater zur Leviratsehe zu
224 212 bringen ( Ehe). So erweist sie ihre G. (Gen 38,26). David achtet die Unantastbarkeit des Gesalbten Gottes und wird als gerecht anerkannt (1 Sam 26,18). Pinhas wird es als G. angerechnet, dass er einen Baalsanhänger tötet (Ps 106,31). Wirkungsgesch. bedeutsam ist Abrahams Glaube an Gottes Verheißung, der ihm als G. anerkannt wird (Gen 15,6). Immer geht es um ein angemessenes Verhalten, das die Verfugung der Welt nicht verletzt, das Ordnung und Beziehung stiftet, anstatt sie aufzulösen. So kann auch der Glaube Abrahams als G. anerkannt werden, weil er damit die Beziehung zum Gott der Verheißung aufrechterhält. In späteren Texten wird G. mit dem Gesetz verbunden. G. kann dann als Tun des göttlichen Gebots definiert werden (Dtn 6,25; vgl. auch Ps 119). II. NT: 1. Die Auflösung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs wird in der frühjüd. Apokalyptik bedrängend. Dass der Fromme gerade wegen seiner G. dauerhaft Leid und Unheil erfährt, scheint die Regel zu sein, nicht mehr die Ausnahme. Die Problemlösung besteht in der Erwartung, dass das End-Gericht Gottes am Ende der Zeiten wieder G. herstellt. Diese Konzeption findet ntl. ihre nächste Entsprechung in der Offb. Wenn die Märtyrer Gott um Rache bitten (Offb 6,10), dann fordern sie nichts anderes von ihm als das Aufrichten der G. Auch Jesus steht unter dem Einfluss apokalyptischer Daseinsanalyse. Die G. ist gestört und muss wieder hergestellt werden. Dies vollzieht sich in der Ankunft der Königsherrschaft Gottes ( Herrschaft), die den Armen, Trauernden und Hungernden zu ihrem Recht verhilft. Die Annahme dieser Botschaft ist insofern Vollzug des Gerichts, als sie Anerkennung der menschlichen Heilsbedürftigkeit und Annahme der göttlichen Barmherzigkeit bedeutet. Ablehnung der Königsherrschaft Gottes zieht das göttliche Strafgericht nach sich. Bei Mt wird die Gottesherrschaft als Weg der G. konzipiert. G. heißt, sich wie Jesus ganz dem Willen Gottes zu unterstellen. In der Komposition der Bergpredigt (Mt 5 7) entwirft er die Lehre der wahren G., die das rechte Verhältnis des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen definiert. G. ist Geschenk Gottes, das die Menschen nicht von sich aus leisten, sondern nur suchen und ersehnen (Mt 5,6; 6,33) können. Gerechtigkeit Charakteristikum der Jesusjünger ist die praktische Umsetzung der G. Die Seligpreisungen und Antithesen (Mt 5) definieren die größere G. (Mt 5,20), die sich nicht mehr an Vorschriften, sondern an der Vollkommenheit Gottes orientiert (Mt 5,48), als Zugang zum ewigen Leben der Gottesherrschaft (vgl. auch Mt 25,31 46). II. 2. Wirkungsgesch. am bedeutsamsten ist die pln. Konzeption der G. im Rahmen der Lehre von der Rechtfertigung, deren theol. Basis die G. Gottes ist. G. meint dabei vor allem die Treue Gottes zu seinen Verheißungen. Wie in der atl. Tradition ist diese G. richtendes und rettendes Handeln in einem. Im Tod Jesu am Kreuz richtet Gott alle Sünde hin, schafft Versöhnung und richtet so seine G. auf (Röm 3,25f; 2 Kor 5,21; Gal 3,13 u. a.). Für den Menschen bedeutet dies, dass er G. nur im Glauben, d. h. in der Teilnahme am Gerichts- und Heilsgeschehen des Todes Jesu, findet. Der Glaube wird verstanden als identifizierende Übernahme des Geschicks Jesu und Anerkennung der todeswürdigen Verkehrtheit der eigenen Existenz (Gal 2,19). Damit wird ein positiver Identitätswechsel möglich: Die Glaubenden nehmen die Identität des Christus (Gal 2,20) an und finden in ihm die G. Gottes. Daraus entsteht dann die Möglichkeit, G. lebenspraktisch umzusetzen (Röm 6). I. J. Assmann u. a. (Hg.), Gerechtigkeit, München 1998; U. Bechmann, Mensch-Werden in Weisheit, in: B. Henze (Hg.), Studium der Katholischen Theologie, Paderborn 1995, 11 37; B. Janowski, Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994; M. Weinfeld, Social Justice in Ancient Israel and in the Ancient Near East, Jerusalem II. J. A. Grassi, Informing the Future, New York u. a. 2003; H. Merklein, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus 1, Tübingen 1987, 1 106; U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 1 5), Zürich u. a ; M. Zehetbauer, Die Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Regensburg Joachim Kügler
225 Gericht 213 Gericht (G.) ( Dachartikel: Sozialstatus/Gesellschaft und Institution) Gericht Vorbemerkung: Unter dem Stichwort G. wird im Folgenden ausschließlich die Institution Gericht behandelt. Die theol. motivierte Frage nach der Durchsetzung der göttlichen Gerechtigkeit wird in diesem Handbuch unter dem Begriff End-Gericht erörtert. I. AT: 1. Zum G. gehören ein Kläger, Richter (dajjan, šofet) und Zeugen (}ed), die dazu dienen, den Streitfall (rib) aufzuklären und bei der Rechtsfindung zu helfen. Die Wurzeln *špt herrschen; entscheiden; richten; zu dem verhelfen, was einem zusteht und *din richten, urteilen, Recht sprechen decken mit ihren Derivaten den juristischen Bereich weitgehend ab. I. 2. Das G. diente auf allen seinen Ebenen dazu, im Störungsfall den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, und jedem zu verschaffen, was ihm zustand (Wiederherstellung der Ehre oder des Besitzes; Kultur und Mentalität). Die familiäre Gerichtsbarkeit lag ao. wie atl. zu allen Zeiten beim pater familias (Gen 31,25 54; 38,24 26). In diesen Bereich gehörte auch das Recht zur Blutrache als gesellschaftlich tolerierte Privatjustiz (Dtn 19,11f). In der vorstaatlichen Zeit wurden Rechtsfälle des Zivil- und Strafrechts lokal aufgrund des Gewohnheitsrechts entschieden (Ortsgericht). Die Versammlung der Ortsvorsteher im Tor oder am Torvorplatz wird atl. mehrfach erwähnt (Gen 23,10; 34,20; Dtn 21,18 21; Rut 4,1; Am 5,10 15), vor der man seinen Fall vortragen konnte. Auch notarielle Aufgaben wurden hier erledigt (Rut 4,7ff). Diese Ortsgerichtsbarkeit blieb in der Königszeit erhalten, während der König nur als Berufungsinstanz oder Richter in bes. Fällen diente (1 Kön 3,16 28; 21,7ff). Ob es in der Königszeit bereits vom König eingesetzte Justizbeamte gab, ist umstritten, doch ist 2 Chr 19 kaum hist. zuverlässig. Ausweislich eines hebr. Ostrakons aus Mcrad Gašavyahu (Ende 7. Jh. v. Chr.) waren Rechtshilfegesuche an den Festungskommandanten (nicht etwa einen Richter oder König) zu adressieren, der für die Einhaltung des Rechts (hier des Pfandrechts wohl im Sinn von Ex 22,25f; Dtn 24,10 13) sorgen sollte. Beamtensiegel bezeugen bislang keine Richter. Gerichtsfähig war nach ao. und atl. Vorstellung nur ein Mann. Frauen, die keinen männlichen Vertreter ihrer Interessen hatten ( Witwen und Prostituierte ohne erwachsenen Sohn), mussten selbst vor G. auftreten. Ihre Position war schwach und wurde atl. von Jhwh persönlich gestützt. Im G. ging es darum, die Wahrheit herauszufinden, und daher kamen wiederholt Zeugnis, Geständnis, Eid und Gelübde zum Einsatz, wobei Eid und Gelübde dazu dienten, Unüberprüfbares der göttlichen Oberaufsicht zu unterstellen, sodass sie im AO gemeinhin im Namen der Gottheit ausgesprochen wurden, die für Gerechtigkeit zuständig war. Dies war ao. der Sonnengott, im AT Jhwh, der Züge desselben übernommen hatte ( Solarisierung ; Gestirne). Der Eid aktivierte eine Art impliziten Fluch ( Segen) über den Schwörenden für den Fall, dass dieser log, es Menschen aber nicht möglich war, dies herauszufinden. Das Gelübde implizierte für den Fall der Lüge, dass Gott, der zum Zeuge für eine Lüge angerufen worden war, den Gelobenden bestrafte, wenn er gelogen hatte. Nach dem Gelöbnis konnte der Gelobende nur entehrt werden ( Ehre), wenn er der Lüge überführt wurde, ansonsten galt sein Wort. Dasselbe traf für denjenigen zu, der ein Ehrenwort leistete. Ein Ehrenwort übernahm die Funktion des Eids, ohne dass man eine Gottheit als Zeugen miteinbezog, um zweifelnde Außenstehende von der Wahrheit des Gesagten zu überzeugen. Eine Sonderform des Eids ist der sog. Reinigungseid, bei dem man seine Unschuld beteuerte (Ijob 31). Richterlich verfügt werden konnte atl. ein Gottesurteil ( Ordal ), das durch Los (Jos 7,14ff; 1 Sam 14,36ff; Jona 1,7) oder das Trinken einer Flüssigkeit erreicht werden sollte, die im Schuldfall (bei Ehebruch) der Verdächtigten schadete (Num 5,12ff, Ehe). Im AO sind drakonischere Maßnahmen belegt (Fluss- und Feuerordal). Die Beweislast trug die den Rechtsstreit eröffnende Partei, während dem Beklagten ein Fürsprecher/Entlastungszeuge half. Falsche Eide bzw. Gelübde und Zeugnisse sowie Bestechung von Zeugen und Richtern waren die üblichen Tricks, mit denen die Parteien versuchten, die richterliche Entscheidung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie wurden ao. (Kodex Hammurapi) wie atl. unter Strafe gestellt (Ex 20,16; Dtn 5,20; 19,18f; Lev 19,11f.15), von den atl. Pro-
226 214 pheten angeprangert (Jes 1,21ff; Mi 7,3), weisheitlich getadelt (Spr 6,19; 12,17; 14,5; 19,5.28) und in Qumran unter Todesstrafe gestellt (11Q19 51,16f). Nach dem Prozess erging mündlich das Urteil ( du bist schuldig ; du bist unschuldig ) mit der Rechtsfolgebestimmung, die je nach Vergehen aus Rückgabe, Entschädigung, körperlicher Züchtigung oder Hinrichtung bestehen konnte. Die Todesstrafe (für Mord [Ex 21,12; Lev 24,17.21], Elternmissachtung [Ex 21,15.17; Lev 20,9], religionsrechtliche [Ex 22,17.19; Lev 7,20f; 20,2f; 24,16; Dtn 13,6 19; 17,2 7; 18,20], sexuelle [Ex 22,18; Lev 20,11 16] oder zivilrechtliche [Dtn 17,12; 24,7] Vergehen) bedurfte mindestens zweier Zeugen (Dtn 17,6; 19,15; Num 35,30) und wurde zumeist durch die Steinigung vollzogen. Kultische Vergehen wurden vom Priester festgestellt. Nachexil. funktionierte weiter die Ortsgerichtsbarkeit, doch gab es nach Esra 7,25f (vgl. auch Esra 10,14) Richter im pers. Auftrag, die die Todesstrafe, Verbannung, Geldstrafe oder Gefängnis verhängen konnten (Rückprojizierung: 1 Chr 23,4; 26,29; Ex 18,21ff). Esra 9f; Neh 5,1f; 13,4ff bezeugen in Juda/Jehud die Geltung des lokalen Zivil- und Strafrechts, das für die Provinz von den Persern, später den Griechen anerkannt wurde. I. 3. Wie auch sonst im AO galten die Gesetze, die das Zusammenleben zwischen Menschen und das Verhältnis zwischen Menschen und Gott regeln sollten, als im göttlichen Willen verankert. Atl. wurden sie mit der Offenbarung Jhwhs am Sinai/Horeb verbunden. Jhwh war der oberste und allzeit gerechte Richter, an den sich der Einzelne wenden konnte (Ps 7; 17; 26; Gen 16,5; 1 Sam 24,12f; Ri 11,27), damit ihm zu seinem Recht (= das, was ihm zusteht) verholfen wurde. War dies im irdischen Leben nicht immer gegeben, so reflektieren die späten Texte darauf, dass es in eschatologischer Hoffnung ein G. ( End-Gericht) geben würde, in dem Jhwh den Frommen Recht schafft und die Frevler bestraft (Ps 37). Sogar die Toten müssen sich dem G. unterwerfen (Dan 12,2), sodass deren Auferstehung unter Gerichtsaspekten steht. Der Wunsch nach individueller Gerechtigkeit wurde so in die Zeit über den Tod des Einzelnen hinaus verlängert bzw. war der Tod keine Möglichkeit mehr, sich der göttlichen Strafe zu entziehen. Gericht I. 4. Ein Gerichtsszenario ist im AT häufig der Interpretationsrahmen der Begegnung zwischen Jhwh und seinem Volk, den Völkern oder dem Einzelnen: Jhwh ist selbst häufig Richter (der Völker: Gen 15,14; 18,25; 1 Sam 2,10; Ps 7,9; Israels: Jes 3,13f; 33,22; eines Einzelnen: Ri 11,27; Ps 9,5) und reagiert richtend auf menschliches Handeln, sodass das individuelle wie kollektive Schicksal der Menschen als Ergebnis der Beurteilung ihres Tuns vor Jhwh interpretiert wird (Tun-Ergehen Zusammenhang; Ethik): Wohlergehen/polit. Erfolg = Gotteslohn; Unglück/polit. Debakel = Gottesstrafe. Als Belastungszeuge und Richter zugleich tritt Jhwh in Jer 29,21 23; Mi 1,2 7 gegen sein Volk auf. In Dtn 32,1; Jes 1,2; Jer 2,12; Mi 6,1f fordert Jhwh selbst sein Volk, in Jes 41, ; 43,9 13; 44,6 8 die Götter der Heiden zum Rechtsstreit vor einem kosmischen Gerichtshof heraus und ruft zu diesem Zweck seine Zeugen und Beweise auf. II. NT: 1. Im NT ist deutlich weniger von der Gerichtsinstitution und von Richtern die Rede als im AT. Weder sind entsprechende Bestimmungen zur Einrichtung von Gerichten, Richtern, Instanzen oder Zeugen überliefert noch wird ausführlicher oder allgemein auf das Rechtswesen und die Rechtspflege eingegangen. Dennoch ist die Terminologie insgesamt recht differenziert, insbes. dort, wo sie von der Organisation des röm. Rechtswesens bestimmt ist. Sie umfasst zunächst allgemein das Verbum kr2nv ( richten ), kr2ma ( Urteil, G. ) und krit1w ( Richter ). Spezieller werden bvma und bvma pod3w für den Richterstuhl oder den Ort des G. (Mt 27,19; Joh 19,13; Apg 18,16f; 25,10.17), Bnt2dikow für den (als ungerecht empfundenen) Prozessgegner (Mt 5,25par.; Lk 18,3), kat1gorow für den Ankläger (Apg 25,16), Xgklhma für die Anklage (Apg 23,29; 25,16), prcgma für die Prozessangelegenheit (1 Kor 6,1), Bpolog2a für die Verteidigung (Apg 25,16; 1 Kor 9,3); Epikal0v für die Berufung (Apg 25,11.21; 28,19) und m/rtzw für den Zeugen (Mt 18,16; Apg 7,58; 2 Kor 13,1) bzw. cezd3- martzw (Mt 26,60; 1 Kor 15,15) für den Falschzeugen genannt. Szn0drion ( Hoher Rat, hebraisiert Sanhedrin) ist mehrdeutig und kann das G. als Institution, die Gerichtsversammlung wie auch das Verfahren bezeichnen (z. B. Mk 13,9par.; Mt 5,22), steht im NT jedoch in aller Regel für das
227 Gericht 215 am Jerusalemer Tempel lokalisierte jüd. Zentralgericht (Joh 11,47; Apg 23 u. a.). Für das G. in Athen bezeichnet #Areiow p/gow den Areopag (Apg 17,19.22). Auffallend ist die terminologische Besonderheit, dass kr2siw ( G. ) nicht für die profane Gerichtsbarkeit gebraucht wird, sondern das End-Gericht bezeichnet. Dass beide Aussagen bis in die Bildwelt hinein eng beieinander liegen, macht beispielhaft der Schlusssatz der zweiten Antithese (Mt 5,25f) deutlich, der in der Forschung vielfach als sekundärer Zusatz erklärt wird. Der dort weisheitlich für den Alltag gegebene Ratschlag wandelt sich in der Tiefendimension zu einer metaphorischen Aussage über das End- Gericht. Im Vordergrund stehen heidnische Schuldenprozesse, die anders als im jüd. Recht mit harter Schuldhaft enden konnten. Dem sollte der Schuldner durch frühzeitiges Handeln und die Versöhnung mit dem Prozessgegner entgegenwirken. Im paränetischen Kontext steht bei Mt das auf das Jüngste G. bezogene Umkehrmotiv. Im Folgenden geht es ausschließlich um Aspekte des Rechtswesens. Vorstellungen zum End-Gericht oder zu Gott (z. B. 2 Tim 4,8; Hebr 12,23) bzw. Christus (z. B. Röm 14,10; 2 Kor 5,10) als Richter, sind an anderer Stelle verhandelt ( Gottesbilder, Gottesvorstellungen, Soteriologie, Eschatologie, Jesus Christus). II. 2. Die wichtigste und zugleich oberste Instanz der jüd. Gerichtsbarkeit in ntl. Zeit ist das szn0- drion, was meist mit Hoher Rat wiedergegeben wird. Als Vorläufer gilt das in 1 Makk 12,6; 2 Makk 1,10 und 2 Makk 11,27 erwähnte Führungsgremium der gerozs2a. Als Aulus Gabinius 57 v. Chr. Prokonsul von Syrien wurde, richtete er in einer Verwaltungsreform für die fünf Bezirke Judäas szn0dria ein, die 47 v. Chr. durch Caesar wieder aufgehoben wurden. Seitdem bestand lediglich noch ein Synedrium in Jerusalem, das in den Folgejahren von Herodes d. Gr. bestimmt wurde. Dieser ließ nach dem Prozess gegen ihn nahezu alle Mitglieder hinrichten und ersetzen. Über die Zusammensetzung der obersten Verwaltungs- und Gerichtsbehörde bis zum Untergang des zweiten Tempels gibt es keine genauen Informationen. Meist wird aufgrund der späteren rabb. Quellen angenommen, dass es aus Mitgliedern bestand, doch könnte diese Zahl am idealen Gremium der mosaischen Ältesten ( Amt) als Vertretung ganz Israels (Ex 24,1.9; Num 11,16.24f; Ez 8,11) orientiert sein. Ob es vor 70 n. Chr. überhaupt ein permanentes Synedrium gab oder dieses nur mehr oder weniger oft für Einzelentscheidungen zusammengerufen wurde, ist nicht sicher. Mitglieder waren Angehörige lokaler Eliten und der retainers ( Sozialstatus) aus den Gruppen der Sadduzäer, der Pharisäer und der hohepriesterlichen Familien. Den Vorsitz führte (bis in rabb. Zeit nach dem Zeugnis des Josephus und des NT) der jeweils amtierende Hohepriester. Die Zuständigkeit umfasste neben rel. Fragen der Halacha (Gesetzesauslegung) auch Angelegenheiten des Zivil- und Strafrechtes. Die Kompetenz war insbes. in der Kapitalgerichtsbarkeit begrenzt. Die Vollstreckung der Todesstrafe fiel in den Bereich der röm. Behörden, sodass das Fällen eines Todesurteils der Bestätigung der röm. Gerichtsbarkeit bedurfte. Die mit Steinigung abgeschlossenen und autonom geführten Verfahren gegen Stephanus (Apg 6,8 7,60) und Jakobus (Ios. ant.iud. 20,200) waren von den Römern offenbar geduldete regelwidrige Kompetenzüberschreitungen. II. 3. Die zweite Säule der Gerichtsbarkeit in Judäa stellte das röm. Recht dar. Oberste und letztentscheidende Instanz war der Kaiser, der seine Kompetenz an die Statthalter der Provinzen delegierte. Der Statthalter, der der sog. Ritterklasse angehörte und dessen Amtszeit in der Regel zwei Jahre betrug (vgl. aber Pilatus n. Chr.), hatte als wichtigster Vertreter der röm. Herrschaft und Befehlshaber die Befugnis, in alle strittigen Fragen seines Zuständigkeitsbereiches entscheidend einzugreifen. De facto beschränkte sich seine Gerichtsbarkeit vor allem auf Prozesse mit höherem Streitwert und auf die Kapitalgerichtsbarkeit. In seinen Verfahren bediente er sich der beratenden Stimme von Notablen und Günstlingen wie auch der lokalen Gerichtsbarkeit. Im NT werden vor allem der Prozess Jesu vor Pilatus und der Prozess des Paulus in Cäsarea behandelt. II. 4. Für eine rechtsgesch. Beurteilung des Prozesses Jesu ist die grundsätzliche Schwierigkeit zu beachten, dass in den ntl. Berichten nachösterliches theol. Interesse und hist. Aspekte ineinander verwoben sind ( Passion). Dabei ist nicht zu verkennen, dass etwa in der Entlastung des
228 216 Gericht Pilatus (Joh 18,38; 19,6f) und der expliziten Schuldübernahme der Juden in der formelhaften Wendung sein Blut komme über uns (Mt 27,25) antijudaistische Tendenzen zu erkennen sind, die die tatsächliche Verantwortung der röm. Behörde verschleiern. Die Fixierung auf die Schuldfrage ( Wer war schuld am Tod Jesu? ) hat in einem Extrem zum Vorwurf an die Juden geführt, Gottesmörder gewesen zu sein, vor allem unter dem Eindruck der Shoah des 20. Jh., aber auch zu dem anderen Extrem, die jüd. Beteiligung am Prozess Jesu aufgrund des Antijudaismus- Verdachts gänzlich als unhistorisch zu leugnen. Festzuhalten ist die Tatsache, dass der Prozess nach den damals gültigen Verfahrensregeln abgelaufen zu sein scheint und daher auch mit einem rechtmäßigen Todesurteil durch die röm. Gerichtsbarkeit endete ( König). Oberstes Ziel scheint nicht das sachlich oder theol. begründete Vorgehen gegen die Lehre Jesu, sondern die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gewesen zu sein. Der Prozess ist in zwei voneinander abhängige Phasen aufzuteilen. Aufgrund des dem Statthalter vorbehaltenen Rechts, ein Todesurteil zu fällen und zu vollstrecken (ius gladii) fand lediglich ein Teil des Ermittlungsverfahrens vor dem Synedrium statt. Dieses endete mit einer Anklage, jedoch nicht mit einem förmlichen Todesurteil (das eine Steinigung zur Folge gehabt haben müsste). Die Hauptverhandlung fand vor Pilatus an seinem Amtssitz in Jerusalem statt. Joh 19,13 benennt den Ort, an dem das bvma als Ort des G. aufgestellt war, als Liu3strvton ( Steinpflaster ). Die im Zusammenhang damit erwähnten Misshandlungen (Geißelung) waren nicht unüblich. Ob die eingeflochtene Pascha-Fest- Amnestie, die aufgrund der acclamatio populi zur Freilassung des Unruhestifters und Mörders Barrabas führte (Mk 15,7 15par.), hist. ist, bleibt trotz vereinzelter hist. Belege (z. B. Ios. ant.iud. 20,215) weiter umstritten. Unhistorisch dürfte hingegen die nur in Lk 23,6 12 belegte Episode von der Vorführung bei dem Tetrachen von Galiläa, Herodes Antipas, sein. II. 5. Neben dem Prozess Jesu gibt vor allem der Prozess des Paulus Auskünfte über die Organisation des Rechtswesens in ntl. Zeit. Die Grundzüge des in Apg 21,27ff geschilderten Verfahrens sind rechtshist. plausibel (inwiefern sie auch hist. zutreffen, ist in der Forschung umstritten). Auch hier ist das Nebeneinander von jüd. Gerichtsbarkeit im Synedrium und der röm. Rechtsprechung durch den Statthalter erkennbar. Zunächst kam es in Jerusalem zur Verhaftung des Paulus durch die Römer zum Schutz der bedrohten öffentlichen Ordnung (Apg 21,12 35; 23,10.27). Paulus habe so der Vorwurf Nicht-Juden in das Innere des Tempelhofes geführt, wodurch ein Tumult entstanden sei (Apg 21,28). Paulus konnte vor der lokalen Behörde der Geißelung mit Hinweis auf sein röm. Bürgerrecht (polite2a, Sozialstatus, Heimat) entgehen (Apg 22, Das Eg> d9 ka; geg0nnhmai Ich bin sogar [im röm. Bürgerrecht] geboren gibt der Forschung Rätsel auf, weil Paulus diesen Umstand in seinen Briefen verschweigt). Paulus wurde anschließend zum Sitz des Statthalters Antonius Felix nach Cäsarea Maritima überstellt, wo ein förmliches Verfahren stattfand. Aufgrund mangelnder Beweise wurde das Urteil vertagt, der Prozess verschleppt und Paulus blieb in Haft. Gegenüber dem Nachfolger Porzius Festus, der ihn erneut nach Jerusalem überstellen wollte, berief sich Paulus auf sein Appellationsrecht gegenüber dem Kaiser, das ihm als röm. Bürger zustand (Apg 25). In Rom wurde Paulus zwei Jahre in leichter Haft gehalten (custodia militaris). Über den Ausgang des Verfahrens oder ein formelles Urteil im Revisionsprozess vor dem Kaiser berichtet die Apg nichts (möglich sind: Exekution in Rom 62 n. Chr. oder vom Prozessausgang unabhängiger Tod im Zusammenhang der ersten Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. oder der Tod in Haft vor Ende des Verfahrens). II. 6. Unter der Voraussetzung eines Gegensatzes zwischen profaner und eschatologischer Gerichtsbarkeit kritisiert Paulus in 1 Kor 6,1 11, dass die Korinther strittige Vermögensangelegenheiten zwischen Gemeindemitgliedern in Zivilprozessen zu klären suchen. Vielmehr empfiehlt er den Heiligen interne Schlichtungsverfahren zur Beilegung der Konflikte. Damit soll weder die Qualität der lokalen Richter herabgesetzt noch das röm. Rechtswesen in Frage gestellt werden ( Staat). I. F. Crüsemann, Das Gericht im Tor eine staatliche Rechtsinstanz, in: J. Hausmann-Zobel (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und biblische Theologie, Stuttgart u. a. 1992, 69 79; J. C.
229 Gestirne Gestirne 217 Gertz, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz, Göttingen 1994; H. Niehr, Herrschen und Richten, Würzburg 1986; ders., Rechtsprechung in Israel, Stuttgart 1987; ders., Grundzüge der Forschung zur Gerichtsorganisation Israels: BZ 31 (1987) ; ders., Die Rechtsprechung im Tor: BiKi 54 (1999) ; E. Otto, Tendenzen der Geschichte des Rechts in der Hebräischen Bibel: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 9 (2003) 1 55; ders., Zivile Funktionen des Stadttores in Palästina und Mesopotamien, in: M. Weippert/S. Timm (Hg.), Meilenstein, Wiesbaden 1995, II. P. Egger, Crucificus sub Pontio Pilato, Münster 1997; K. Erlemann/J. Zangenberg u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 1, Neukirchen-Vluyn 2004; F. W. Horn, Das Ende des Paulus, Berlin u. a. 2001; K. Kertelge (Hg.), Der Prozess gegen Jesus, Freiburg ; H. Omerzu, Der Prozess des Paulus, Berlin u. a Angelika Berlejung (AT) / Christian Frevel (NT) Gestirne (G.) ( Dachartikel: Weltbild/Kosmologie) I. AT: 1. Zu den G. zählen (bewegliche) Planeten und Fixsterne (hebr. kokab, griech. Wotron, Bst1r). Nach antikem Weltbild gehörten zu den sieben Planeten Sonne (hebr. šœmœš, griech. Eliow), Mond (hebr. jare a g, griech. sel1nh), Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn (hebr. kewan, LXX Raifan; Am 5,26). Die G. bestimmten die Zeiteinteilung, den Kalender, der sich am Mond (Mondjahr 354 Tage) oder der Sonne (Sonnenjahr 365 Tage) orientieren konnte, sowie den Kultkalender und damit die Feste. In Alexandria wurde im 1. Jh. n. Chr. die Planeten-Woche ausgearbeitet, die Judentum, Christentum und Römerreich übernommen haben. Die Siebenzahl der Planeten und des Siebengestirns der Plejaden (hebr. kima; Am 5,8; Ijob 9,9; 38,31), die auch atl. mehrfach rezipiert wurde (Ex 25,37; Sach 4,2.6), spielte gesamtorientalisch früh eine bes. Rolle. An Sternbildern sind atl. noch Orion (hebr. k e sil; Am 5,8; Ijob 9,9; 38,31), Aldebaran und Hyaden (hebr. }ajiš/}aš mit seinen Söhnen; Ijob 9,9; 38,32), Sirius (hebr. mazzarot; Ijob 38,32) sowie der Tierkreis (hebr. mazzalot; 2 Kön 23,5) belegt. Der Morgenstern (hebr. helel, griech. Dvsf3row), Kind der Morgendämmerung (hebr. šagar, griech. [rurow), der in Mesopotamien mit der Göttin Ištar bzw. in Rom mit Venus verbunden wurde, ist der Bringer des Frühlichts und steht damit (wie der Abendstern) zwischen dem Mond und der Sonne. I. 2. Im antiken Mittelmeerraum galten die G., bes. Sonne und Mond sowie der Morgen- und Abendstern, als (je nach Kultur unterschiedlich benannte) personale Gottheiten, die verehrt wurden. Sie wurden als Lenker des Weltgeschehens betrachtet, das sich an ihnen vorab abzeichnen konnte. Zugleich ging man davon aus, dass auch das Schicksal des Einzelnen (durch die Konstellation zur Geburtszeit) an sie gebunden war. Daher beobachtete man sie genau und versuchte, ihre Bahnen zu berechnen (Ursprung der Astronomie). Zudem gab es Spezialisten, die die Himmelsphänomene in Richtung auf Zukunftsdeutung auslegten (Ursprung der Orakelkunst der Astrologie). Die Sternbeobachtung und -deutung wurde vor allem in Mesopotamien (ab dem 3. Jt. v. Chr.) entwickelt, von wo aus sie Palästina und den gesamten Mittelmeerraum erreichte. Im AT begegnen bab. Sternengelehrte (Jes 47,13; LXX Bstrol3goi) und die für diese Kunst berühmten Chaldäer (Dan 2,2). Sterndeutung und Himmelsbetrachtung sind atl. verpönt (Jes 47,13; Ijob 38,33), da Gott allein seine Pläne kennt. Doch wird hier gegen geltende Praxis argumentiert, da sich auch atl. Belege dafür finden, dass G. große Ereignisse ankündigen können und folglich zu beobachten sind. Zu den Zeichen des endzeitlichen Gerichts ( End-Gericht) gehört, Abb. 23: Kult vor der Mondsichelstandarte, dem Symbol des Mondgottes. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 300.
230 218 Abb. 24: Tierkreismosaik aus der Synagoge von Bet Alfa mit dem Sonnenwagen in der Mitte. Quelle: H.-P. Kuhnen, Palästina in griechisch-römischer Zeit, München 1990, 332. dass die G. ihren Glanz verlieren (Jes 13,10; Ez 32,7; Joël 2,10; Lk 21,25; 2 Petr 3,10) oder gar ganz vom Himmel fallen (Mt 24,29par.). Aus der (frühestens exil.) monotheistischen Perspektive des AT heraus wird wiederholt betont, dass die G. Geschöpfe Jhwhs und ihm untergeordnet sind (Gen 1,16; Ijob 9,9; Ps 8,4; 147,4; Jes 40,26; Ri 5,20), da er sie am Himmel befestigt hat, sie zählt, benennt und als sein Heer führt. Gestirndienst ist verboten und Gegenstand atl. Polemik (Dtn 4,19; 17,3; Am 5,26; 2 Kön 17,16). Doch argumentiert das AT auch hier gegen geltende Praktiken: Nach Jer 7,18; 44,17 25 wurde im familiären Kult in Juda Anfang des 6. Jh. v. Chr. die Himmelskönigin verehrt, deren Identität ( Göttin Aschera, Astarte, Ištar?) nach wie vor umstritten ist. Nach 2 Kön 23,5 wurde der Tierkreis, nach Zef 1,5; 2 Kön 21,3 5 das Himmelsheer verehrt. Paläst. Siegel der E-Zeit IIB (926/ /700 v. Chr.) zeigen Menschen in anbetender Haltung vor dem kultischen Symbol des Mondgottes, der Mondsichelstandarte (Abb. 23). Trotz der atl. Vorbehalte gegen Himmelsbeobachtung und Sterndeutung nahmen astrologische Berechnungen im Rahmen der Apokalyptik und persönliche Horoskope in Qumran großen Raum ein Gestirne (4Q186; 4Q318). Auch der Tierkreis gewann weiter an Bedeutung und wurde um n. Chr. in Mosaiken und Inschriften von Synagogen und Kirchen ikonographisch umgesetzt (Abb. 24), wobei sich der Zodiak um den Sonnengott Helios im Sonnenwagen gruppiert. I. 3. Die Sonne (S.) ist im Hebr. teils mask., teils fem., während das Akkadische die S. mask., das Ugaritische hingegen fem. konstruiert. Folgerichtig galt die S. in Mesopotamien als Šamaš (und in Ägypten als Re/Aton) als männliche, in Ugarit als weibliche Gottheit (Šapšu). In Palästina war die S. ausweislich der Ikonographie und des Ortsnamens Bet-Schemesch ebenfalls eine Gottheit. Demgegenüber stellen die atl. Texte deutlich heraus, dass sie wie alle G. ein Geschöpf Jhwhs ist. Sie galt als Garant der Gerechtigkeit, des Lebens, Lichts, der Rettung, Heilung und Reinheit und war folglich sehr positiv besetzt, auch wenn man sich der Gefahren (z. B. Sonnenstich; Jona 4,8) bewusst war. Sonnensymbolik (vor allem äg. Prägung), die ab dem 9./8. Jh. v. Chr. auf Jhwh übertragen wurde ( Solarisierung Jhwhs ), nimmt diese Aspekte mit auf. Ikonographisch wurde die S. als Sonnenscheibe dargestellt, die auch (den Schutzaspekt betonend) geflügelt sein konnte (Abb. 25). Ägyptische S.- Symbolik bestimmt ab der 2. Hälfte des 8. Jh. die Siegel judäischer Beamter und die lmlk Königsstempel des Hiskija, die die geflügelte Sonnenscheibe oder den vierflügeligen Skarabäus zeigen. Sie verbindet sich mit der judäischen Herrschaftssymbolik. Jhwh als Sonnengott übergibt dem König die Aufsicht über Recht und Gerechtigkeit. Weitere loci classici der solaren Elemente im Jhwh-Glauben (und ihrer Bindung an Jerusalem) sind Dtn 33,2; Hab 3,3ff; Zef 3,5; Ps 46; 84,12; Jes 1,26; 18,4; 59,9; 60,1 3 und Mal 3,20. Der S.-Kult wird atl. wie aller G.-Kult verpönt (Ez 8,16), seine Beseitigung befürwortet (2 Kön 23,11). Die S. gehorcht atl. ihrem Schöpfer Jhwh, der sie auch im Krieg Abb. 25: Die Flügelsonne, hier mit anthropomorphem Element, repräsentiert den Sonnengott. Quelle: O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Abb. 294.
231 Gestirne 219 einsetzen (Jos 10,12) oder verfinstern kann (Jes 13,10; Jer 15,9; Mi 3,6; Am 8,9). Letzteres spielt in der atl., jüd. wie ntl. Eschatologie eine Rolle (Joël 2,10; 3,1ff; Mt 24,29; Apg 2,20; Offb 6,12), da Sonnenfinsternisse dem Gedanken der Aufhebung der alten Schöpfungsordnung am Ende der Zeiten Ausdruck verleihen. I. 4. Der Mond, dem man Einfluss auf Geburt, Leben, Wachstum, Tod und menschliche Vitalität (Ps 121,6; Mt 17,15 selhni/yomai) zuschrieb, besaß in Ur, Haran und Jericho ein kultisches Zentrum. Wenn auch sein Kult atl. verboten wird (Dtn 4,19; 17,3; Jer 8,2), so gewann er spätestens seit der aram. Dominanz in Palästina (ab ca. 900 v. Chr.) als Kult des Mondgotts von Haran großen Einfluss. Sein Erscheinungsbild am Himmel konnte wie das aller G. zeichengebend sein (Jes 24,23; 30,26; Joël 3,4; Apg 2,20; Offb 6,12). Die Mondzyklen spielten im kultischen Kalender Altisraels in Bezug auf monatlich zu feiernde Feste eine bes. Rolle. Der Neumondtag zu Monatsanfang wurde in privaten Feiern (1 Sam 20,5ff) und am Tempel (Ps 81,4; Num 28,11 15) gefeiert. Er bestand bis in die nachexil. Zeit hinein (1 Chr 23,31; 2 Chr 2,3; Neh 10,34). Der Sabbat ist wahrscheinlich ursprünglich der monatlich wiederkehrende Vollmondtag zur Monatsmitte, der gemeinsam mit dem Neumondtag den Monat gliedert. Die Zusammenstellung von Neumond und Sabbat ist vor- (Hos 2,13; Jes 1,13) wie nachexil. (Ez 45,17; Neh 10,34) belegt und reflektiert den Brauch, Neu- und Vollmond als Festtage zu begehen. II. NT: Auch im NT (zu den griech. Begriffen s. o.) wird Sternbeobachtung und -anbetung als Götzendienst geächtet (Gal 4,9f; Kol 2,8.16; Apg 7,42f) sowie an die ao. Tradition angeknüpft, dass G. bes. Ereignisse ankündigen können (Mt 2,2.7.9f; 24,29f; Offb 8,10; 12,1). Der Morgenstern als Lichtbringer ist (wie schon atl.) Zeichen des Heils (2 Petr 1,19; Offb 2,28) und kündet von der Ankunft Christi (Offb 22,16). Sonnenlicht und -glanz begleiteten atl. die Erscheinung Jhwhs (Dtn 33,2) und übertrugen sich auf Menschen, die ihm begegneten (Mose; Ex 34,30, aufgenommen im Midrasch 2 Kor 3). Der Glanz der G. und ihre Reinheit sind seit der Makkabäerzeit Metaphern für das Strahlen der Gerechten in der kommenden Welt (Dan 12,3; Mt 13,43). Entsprechend werden auch Schilderungen im NT gestaltet, wenn Lichtglanz den Einbruch der überirdischen Wirklichkeit signalisiert (Mt 17,2; Apg 26,13; Offb 1,16). Um den verklärten Jesus (Mt 17,1ff.par.) und bes. den erhöhten Christus rankt sich Sonnenlichtsymbolik. Er kann selbst als Sonne interpretiert werden, wohingegen Irrlehrer wie bahnlose Irrsterne (Jud 13) der Finsternis anheim fallen. Sie teilen damit das Schicksal der gefallenen Engel, die nach frühjüd. Auffassung auf den sieben Planeten festgehalten werden, die ihre Bahn verlassen haben, sodass sie mit ihnen bis zum Eschaton durch das Weltall irren (1Hen 18 21; 90,21 24). Ebenso wie in der jüd. (1Hen 72 82; 2Hen 11), so spielen auch in der ntl. Apokalyptik G. eine große Rolle, da auch sie durch Zeichen das kommende Geschehen andeuten; zudem wird die Siebenzahl der Planeten und Plejaden in der apokalyptischen Zahlenspekulation wiederholt eingesetzt (Offb 1,12f.20; 2,1; 3,1) und auch die Zwölfzahl des Tierkreises findet sich (Offb 12,1). Das Licht der S. kann ntl. überboten werden, indem man dereinst auf die himmlisch-selige Herrlichkeit hofft (1 Kor 15,41) und im messianischen Jerusalem Gottes Herrlichkeit die Stadt erleuchtet, die folglich weder S. noch Mond braucht (Offb 21,23f). I. M. Albani, Astronomie und Schöpfungsglaube, Neukirchen- Vluyn 1994; ders., Kannst du die Sternbilder hervortreten lassen zur rechten Zeit? (Hi 38,32), in: B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001, ; M. Arneth, Sonne der Gerechtigkeit, Wiesbaden 2000; M. Bernett/O. Keel, Mond, Stier und Kult am Stadttor, Fribourg u. a. 1998; B. Ego, Wasser, Fels und preisende Sterne: BZ 46 (2002) ; H. D. Galter (Hg.), Die Rolle der Astronomie in den Kulturen des Zweistromlandes, Graz 1993; J. Maier, Die Sonne im religiösen Denken des antiken Judentums, in: W. Haase (Hg.), Religion (Judentum: Allgemeines; palästinisches Judentum), Berlin u. a. 1979, ; R. Mayer-Opificius, Die geflügelte Sonne: Himmels- und Regendarstellungen im Alten Vorderasien: UF 16 (1984) ; H.-P. Müller, Der Mond und die Plejaden: VT 51 (2001) II. D. B. Herrmann, Der Stern von Bethlehem, Berlin ; B. J. Malina, Die Offenbarung des Johannes, Stuttgart 1996; J. Schreiber, Die Sonne im Markusevangelium, in: H. Merklein/ M. Wolter u. a. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, Berlin 1997, ; D. Zeller (Hg.), Religion im Wandel der Kosmologien, Frankfurt/M Angelika Berlejung
232 Gewalt Gewissen 220 Gewalt (G.) ( Dachartikel: Ethik) Vorbemerkung: Es gibt kaum eine andere rel. Textsammlung, in der G. so präsent ist wie in der Bibel. Von Kain und Abel bis zu den Gewaltphantasien der Offb zieht sich das Thema durch die gesamte Schrift. Dabei ist die Darstellung keineswegs einheitlich. Ansätze einer G.-Verherrlichung (Jos 6,21; 1 Kön 18,40; 2 Kön 2,24; Est 9,1 16) finden sich ebenso wie eine Ächtung der G. und das Programm einer Gewaltlosigkeit (Jes 7,4 9; 42,1 4; 50,4 9; 52,13 53,12; Jer 6,1 30; Ez 22; Hab 2,4), die Jesus gelebt hat und die ihn zum Opfer staatlicher G. werden ließ. Die Bibel legt beeindruckend die Strukturen der menschenverachtenden G. offen, auch und gerade im rel. Bereich (Jes 1 11), ohne sich je mit ihnen abzufinden. Hermeneutisch ist der Umgang mit der Thematik der G. in der Bibel ernst zu nehmen; die Herangehensweise kann einmal hist. sein, d. h. u. a. die hist. Bedingtheit und ihr kritisches Potential als Schrei der Unterdrückten nach Recht (etwa bei den Fluchpsalmen ) aufzeigen, andererseits ist daran festzuhalten, dass beide Teile der Bibel von ihrem Zentrum her, der Gottesvorstellung, selbst Elemente einer radikalen Kritik enthalten, an denen sich andere Texte messen lassen müssen. Die antijüd. Stereotype, zwischen angeblich gewalttätigem AT und gewaltfreiem NT zu unterscheiden, ist von den Texten her verfehlt und theol. gesehen Häresie, weil sie den Offenbarungscharakter der gesamten Schrift bestreitet ( Hermeneutik) und außerhalb rel. Kontexte Bestandteil eines Antisemitismus ist. AT und NT werden im Folgenden gemeinsam behandelt. I. Die Bibel kennt die de jure rechtmäßige G. des Staates (z. B. 2 Sam 8,15; 1 Kön 3,16 28; Röm 13; 1 Petr 2,13 14), weiß aber auch um die stetige Gefahr des Missbrauchs. In den königskritischen Passagen 1 Sam 8 wird die staatliche G. als Ausbeutungssystem entlarvt, im Königsgesetz Dtn 17,14 20 eingeschränkt. Der Offb ist diese G., die ihrem eigenen Untergang entgegenläuft, widergöttlich und satanisch. Die Passionsberichte der Evv. sind von einer tiefen Ablehnung der G. geprägt, in der die Sünde der Welt kumuliert; von dieser Darstellung ist auch Pontius Pilatus trotz einer entgegengesetzten Rezeptionsgesch. nicht ausgenommen: Er repräsentiert die verlogene Gerechtigkeit der staatlichen G., die den Unschuldigen mordet ( Gericht). II. Die Sympathien gelten in der Bibel den kollektiven oder individuellen Opfern von G., sie sind es, denen in einem kontrafaktischen Hoffnungsakt die bes. Liebe Gottes, die Rettung, Zukunft und eschatologische Herrlichkeit zugesprochen wird (Ex 22,22; Ps 73; 94; Jes 10,1 4; Sach 10,6f; Zef 3,8 15; Mt 5,3 8par.; Lk 1,51 53; 16,20 31; Offb 20,4). Die Kritik der G. gründet theol. in der Überzeugung, dass die G. gegen Mitmenschen die Ordnung der Schöpfung zerstört, also gegen Gott gerichtet ist. Daher erwartet man von ihm eine Umkehrung der Verhältnisse: Er, der einzige Mächtige, wird die Gewalttäter entmachten und das Recht der Opfer aufrichten (Am 5,18 20; Ps 10,10 18; 22; 54; 75; 82,1 4; 146,5 7; Lk 1,51f; Offb 2,27; 12,5; 19,15). Dieser Gedanke ist für apokalyptische Vorstellungen konstitutiv; dabei wird die Endwende zum Guten, dem Tag/Gericht Gottes, als eine Manifestation der Macht und G. erwartet und herbeigesehnt ( Apokalyptik). Wenn auch dieser Zug des bibl. Gottesbildes in gegenwärtiger Rezeption Schwierigkeiten bereitet, so ist mit einer Negation nicht geklärt, an wen sich denn die wenden sollen, die der G. in der Welt ausgeliefert sind. Die Sachkritik hat nicht an den Texten anzusetzen, sondern an der Wirklichkeit der Texte. Theol. besteht der rechte Umgang mit diesen Texten darin, die Verhältnisse so zu ändern, dass G. nicht mehr ist und keine Opfer nach Gottes G. schreien müssen. G. Collet/J. Estermann (Hg.), Religionen und Gewalt, Münster 2002; W. Dietrich/C. Link, Die dunklen Seiten Gottes, Neukirchen-Vluyn / Rainer Kampling Gewissen (G.) ( Dachartikel: Ethik) Gewalt I. AT: 1. Das AT kennt keinen eigentlichen Begriff für das G. I. 2. Die Beurteilung des Tuns vollzieht sich im Herzen, dem Sitz menschlicher Gefühle und Gedanken (Gen 20,5f; 1 Sam 24,6). Das Herz
233 Glaube Glaube 221 nimmt kritisch wahr, ob der Mensch Gottes Wege verlässt (1 Sam 25,31; 2 Sam 24,10; 1 Kön 2,44), die in der Tora offen gelegt sind (Dtn 30,14). Hier gewinnt der Mensch sowohl die Gewissheit, nicht gefehlt zu haben (Ps 7,11; 11,2; 24,4; 73,1) als auch die reuige Einsicht in sein Fehlverhalten (Ps 34,19; 51,19). Neben oder besser zusammen mit dem Herzen sind die Nieren als Beziehungsorgan ( Körper) Sitz einer Instanz, die Störungen im Verhältnis von Gott und Mensch sensibel wahrnimmt (Ijob 16,13; Klgl 3,13). Wenn Gott, der auf Herz und Nieren prüft (Ps 7,10; 26,2; 73,21; Jer 11,20; 17,10; 20,12; Offb 2,23), den Nieren fern ist (Jer 12,2), ist böses Verhalten die Folge. II. NT: 1. Das mit G. verbundene Verständnis einer inneren Stimme des Menschen, die seine Handlungen als gut oder böse bestimmt und ihn gegebenenfalls verurteilt, geht auf die pln. Theol. zurück, in die Elemente der hell. Umwelt eingeflossen sind. Beachtenswert ist dabei, dass das griech. Wort szne2dhsiw im NT häufiger vorkommt als in vergleichbaren zeitgleichen Texten. Dieser Befund ist ein Indiz dafür, dass Paulus hier innovierend und traditionsbildend wirkte. II. 2. Paulus versteht unter G. ein dem Menschen eigenes Vermögen, über gute und böse Taten zu entscheiden; aufgrund der juridischen Sprache (Röm 2,15) kann das G. als Richter beschrieben werden, der das stattgehabte Tun be- und verurteilt. Das G. ist auch Nichtjuden und Nichtchristen gegeben; es bezeugt ihnen, dass sie das Gesetz tun, ohne es zu kennen. Allerdings bleibt das End-Gericht Gottes die letzte, die Wahrhaftigkeit aufdeckende Instanz des G. (Röm 2,14 16). Diese Einschränkung gilt auch für die G.-Entscheidungen von Getauften (1 Kor 4,4). Das G. kann einen Erkenntnisprozess zur Klärung einer kritischen Frage unterstützen, indem der für gut erachtete Entschluss und die daraus erfolgende Praxis unangefochten gelebt werden. Gleichwohl gibt es aber hinsichtlich des Tuns eine Begrenzung, nämlich das G. anderer. Hier gebietet die Rücksichtnahme aufeinander eine Einschränkung der eigenen Praxis (1 Kor 8,7 13; 10,23 33; Röm 14,15 23). Die Rückbindung des G. an das Gericht Gottes und an die Praxis der Gemeinde macht es wahrscheinlich, dass Paulus in Analogie zur atl. Vorstellung der Herzensbildung durch die Tora den rechtfertigenden Glauben als Richtschnur des G. versteht (wohl auch Röm 13,4). II. 3. Der nachpln. G.-Begriff ist im Sinne einer Orientierungsinstanz zu verstehen: Durch das G. vermag man sich situativ für Gut oder Böse zu entscheiden. In 1 Petr 3,21 und Hebr 10,22 ist das richtige G. eine Gabe Gottes, das dem Menschen in der Taufe übertragen wird, ihn mithin für die neue christl. Praxis befähigt. Aufgrund des guten und reinen G. (Apg 23,1; 1 Tim 1,5.19; 3,9; 2 Tim 1,3) kann der Mensch die vom Glauben gesetzten Normen erfüllen, das schlechte bzw. unreine G. (Tit 1,15f) dagegen macht ihn dazu unfähig. Anders als heutiger gängiger Sprachgebrauch bedeutet ein gutes G. demnach nicht die individuelle Gewissheit, mit sich im Reinen zu sein, sondern den Ermöglichungsgrund, Gutes zu tun. In den nachpln. Texten ist das G. eines Menschen vor der Taufe bzw. ohne Taufe defizitär; diese Ansicht ist aber nicht Anlass, über die Sündenfähigkeit dieser Gruppe nachzudenken. I. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994; J. Assmann u. a. (Hg.), Schuld, Gewissen und Person, Gütersloh II. P. Bosman, Conscience in Philo and Paul, Tübingen 2003; J. Eckert, Gewissen und Glaube bei Paulus, in: H.-G. Angel/ H. Weber (Hg.), Aus reichen Quellen leben, Trier 1995, 15 35; H.-J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, Tübingen 1983; H.-J. Klauck, Der Gott in dir (Ep 41,1f), in: ders., Alte Welt und neuer Glaube, Göttingen 1994, Rainer Kampling Glaube (G.) ( Dachartikel: Kult) I. AT: 1. G. (hebr. { æ muna, Standfestigkeit ) ist kein Begriff der kultischen Praxis, sondern der theol. Reflexion und bezeichnet das (innere) Verhältnis des Menschen zu Gott. Im AT spielt er keine herausgehobene Rolle und begegnet nur an wenigen Stellen, an denen das entgegengebrachte oder versagte unbedingte Vertrauen zu Gott (Gen 15,6; Ex 14,31; 19,9; Num 14,11; Dtn 1,32; 9,23; 2 Kön 17,14; Jes 43,10; Jona 3,5; Ps 78,22; 2 Chr 20,20; aram. Dan 6,24), seinen Taten (Hab 1,5; Ps 27,13; 78,32), Verheißungen (Ps 106,12.24) und Geboten (Ps 119,66) mit der
234 Gnade 222 Wurzel {mn Hifil zuversichtlich sein, festhalten an ausgedrückt wird. Die Haltung kann auch als solche benannt und absolut ausgedrückt werden (Ex 4,31; Jes 7,9; 28,16; Ps 116,10) und entspricht auf der menschlichen Seite der mit {mn Nifal formulierten Zuverlässigkeit und Treue Gottes (Dtn 7,9; Jes 49,7; von seinem Namen 1 Chr 17,24; seinem Wort Jes 55,3; 2 Chr 1,9; 6,17; seinem Bund Ps 89,29; seinem Gesetz Ps 19,8; 93,5; 111,7). Ein indirekter Bezug zum Kult ergibt sich durch die hier gebrauchte Formel Amen, die von derselben Wortwurzel abgeleitet ist und mit der zuvor Gesagtes bestätigt und angeeignet wird (Num 5,22; 1 Chr 16,36; Neh 8,6; Ps 41,14; 72,19; 89,53; 106,48; 1QS 1,18f). I. 2. Die Wirkungsgesch. hat die Stellen Gen 15,6 (vgl. Hab 2,4; 1QpHab 8,1 3; Rechtfertigung) sowie Jes 7,9 (2 Chr 20,20) und 28,16 zu Grundworten des atl. Glaubensverständnisses werden lassen. In der hell.-röm. Zeit wurden das jüd. Bekenntnis und mit ihm der G. in bes. Weise auf die Probe gestellt. Dies trug zur Verfestigung des jüd. Bekenntnisses bei, wie es im Höre, Israel (Dtn 6,4) zusammengefasst ist (vgl. Mk 12,28 34par.). Für den Glaubensbegriff werden im Griech., entsprechend der Wiedergabe des hebr. {mn Hifil in der LXX, Derivate des Stammes pist- gebraucht (pist3w, piste4ein, p2stiw). Das rechte Gottesverhältnis kann so als Glauben an Gott (Sir 1,14; 2,6.8.10; 11,21; Weish 12,2; 16,26; Jdt 14,10) und sein Gesetz (Sir 33,3; 1QpHab 2,4.14f; 8,1 3; 4Esra 7,24.83) bezeichnet werden (in einem Satz: Sir 32,23; 2Bar 54,5). Glaubende wird wie Heilige, Fromme und Gerechte zur Selbstbezeichnung der gesetzestreuen Juden (Weish 3,9; 1Hen 46,8; 2Bar 54,21). Vorbild des G. ist Abraham, der Gerechte und in Versuchungen Erprobte (Sir 44,19 21; 1 Makk 2,52; Jub 14,6.21; 19,8f), auch für den Gesetzesgehorsam und den G. an die Endzeit (2Bar 57,2; vgl. 4Esra 7,34.83; 14,16.21). II. NT: Die größte Wirkung entfaltete der Begriff jedoch im NT und in der christl. Tradition. Die Weichen wurden bei Paulus gestellt. Paulus kennt und übernimmt den umfassenden Glaubensbegriff als Selbstbezeichnung, hier natürlich der Christen (1 Thess 1,7; 2,10.13). Der G. wird in der Missionspredigt durch die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus geweckt (1 Thess 1,5ff; Röm 10,14 17; 1 Kor 15,2.11) und äußert sich im unbedingten Vertrauen auf Gottes Wort und im Bekenntnis, das gerecht macht und rettet (Röm 10,8 13; 1 Kor 15,2). Vorbild ist auch hier der gerechte Abraham (Röm 4; Gal 3; Rechtfertigung). Über die Frage der Geltung der Tora im Rahmen des Christusglaubens kommt es freilich zum Bruch mit der jüd. Tradition. Rechtfertigung und Rettung werden ausschließlich an Tod und Auferstehung Jesu und dem dadurch geweckten G. festgemacht, sodass der G. an Gott und Gottes Heilswerk in Jesus Christus ohne das Zutun des Gesetzes gleichermaßen für Juden und Heiden verbindlich ist (Röm 3,21 31 u. a.). Erst aus der Entgegensetzung zur Tora gewinnt der G. seine überragende, fast schon absolute theol. Bedeutung als Gabe Gottes zur Erlangung des Heils, der Gerechtigkeit vor Gott und der Rettung aus dem Tod zu ewigem Leben. Über G. und Unglaube entscheidet allein der Bezug auf die Person Jesu Christi. Diese neue Bedeutung des Glaubensbegriffs tragen die Evv. in das Leben Jesu ein. In den übrigen Schriften des NT wird sie weiter bedacht und, vor allem im Hebr auch paränetisch ausgeführt: Jesus, der Anfänger und Vollender des G. (Hebr 12,2). I. H.-J. Hermisson/E. Lohse, Glauben, Stuttgart u. a. 1978; R. Smend, Zur Geschichte von, in: ders., Die Mitte des Alten Testaments, Tübingen 2002, II. A. von Dobbeler, Glaube als Teilhabe, Tübingen 1987; D. R. Lindsay, Josephus and Faith, Leiden u. a. 1993; T. Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus, Stuttgart Reinhard G. Kratz Gnade (G.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) Gnade I. AT: 1. Zu den Eigenschaften Gottes, die seine Welt- und Menschenzugewandtheit auf prägnante Weise ausdrücken und das atl. Gottesbild entscheidend prägen, gehört neben seiner Barmherzigkeit und Reue auch seine G. Die G. ist nicht diejenige Kraft in Gott, die an die Stelle des Rechts und der Gerechtigkeit tritt (vgl. die sprichwörtliche Redewendung G. vor Recht ergehen lassen ), sondern diejenige Kraft in ihm,
235 Gnade 223 die seine Gerechtigkeit in seinen Gnadenwillen hineinzieht und so Welt und Mensch zurechtbringt. Zum Wortfeld G. (mit Gott als Subjekt) zählen im AT v. a. das Verb gnn ( gnädig sein ), das Adjektiv gannun ( gnädig ) und das Nomen gœsœd ( Güte, G. ). I. 2. Während das Verb gnn ( gnädig sein ) v. a. in der Gebetssprache der Individualpsalmen begegnet (Ps 4,2; 6,3; 9,14; 26,11; 30,11 u. a.) und hier in die Bitte um das rettende Eingreifen Gottes gekleidet ist, beschreibt die 7-mal belegte Gnadenformel Barmherzig und gnädig ist Jhwh, langmütig und von großer Güte (Ex 34,6; Joël 2,13; Jona 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17, vgl. sachlich Ex 33,19; Num 14,18; Neh 9,31f u. a.) das Wesen des Israelgottes auf möglichst umfassende Weise: Da ist keine Rede vom Gott der Rache ([Ps] 94,1), auch nicht vom eifernden Gott (Ex 20,5 u. a.), sondern vom nachgerade unbeirrbar gnädigen: ragum gannun rob gœsœd. Selbst die Formulierung {œrœk {appajim fügt der Charakterisierung keinen abweichenden Akzent hinzu. Langsam zum Zorn : Noch friedfertiger lässt sich vom Zorn kaum reden. Selbst der Zorn ist in Jahwes Gnadenwillen aufgehoben (H. Spieckermann). Ein bes. Gewicht kommt dabei Ex 34,6f, dem wahrscheinlich ältesten Beleg, zu, weil hier die Schuldgeschichte Israels im Licht der G. Gottes gesehen wird, der die Schuld zwar nicht ungestraft lässt, sie durch die Asymmetrie von Gericht (befristeter Zorn) und Erbarmen (unendliche G.) aber vergibt und so seine Güte/ G. bewahrt (V. 7). Der zentrale Begriff für die atl. Gnadenvorstellung ist gœsœd, der v. a. im Psalter belegt ist und der sein semantisches Zentrum in Gottes hingebender Güte und Treue hat (Ps 6,5; 13,6; 23,6; 36,6.8; 51,3 u. a.). Wegen der auffälligen und häufigen Kombination mit { œ mœt Treue (Ps 25,10; 26,3; 57,11 u. a.) wurde im Anschluss an die Übersetzung der (New) Revised Standard Version ( steadfast love ) für gœsœd (mit Subjekt Gott) die Übersetzung Liebe (Gottes) vorgeschlagen. Diese hingebungsvolle Liebe bestimmt auch das Verhalten von Menschen, die von Gottes Güte, G. umfangen dieser Gnadenerfahrung als gasidim Fromme anderen gegenüber zu entsprechen suchen (1 Sam 2,9; Ps 30,3; 149,1.5.9 u. a.). Diese barmherzigkeitstheol. Deutung von gœsœd ist von der LXX übernommen worden. II. NT: 1. Der ntl. Gebrauch von x/riw und Stammverwandten knüpft an Vorgaben der LXX (Gen 39,21; Ex 3,21; 11,3; 12,36; 34,6; Bar 2,14; Dan 1,9; Sach 12,10; Weish 8,21 u. a.), der frühjüd. Überlieferung (TestBen 4,5; JosAs 4,7; Test- Jud 2,1; Sib 4,45f; vgl. Philo, der G. sehr stark schöpfungstheol. denkt) und der griech. Antike (x/riw das Erfreuliche, Gunst/Gunsterweis, Dank ) an und führt diese zu einem der bedeutendsten theol. Interpretamente des NT weiter. G. ist im NT und bes. bei Paulus der soteriologische Leitbegriff, der das ungeschuldet frei schenkende Heilshandeln Gottes in Jesus Christus in allen seinen Dimensionen charakterisiert. Die im Glauben angenommene, christologisch bestimmte G. Gottes eröffnet eine neue, versöhnte Beziehung zu Gott und Jesus Christus, zu den Mitmenschen, zu sich selbst und gelangt in der Parusie des Kyrios zur Vollendung. Neben der soteriologisch-dichten Verwendung von G. findet sich im NT auch der offenere Sprachgebrauch der jüd.- hell. Umwelt. II. 2. Wenngleich Jesus nicht expressis verbis von G. wohl aber von Barmherzigkeit gesprochen hat, so ist die zuvorkommende, ungeschuldet-freie Heilszuwendung Gottes zu seinem Volk und darin zu allen Geschöpfen ein unverkennbares Proprium seiner Reich-Gottes-Verkündigung. Die durch Gottes Heilsratschluss ermöglichte und in der Verkündigung Jesu in Wort und Tat geoffenbarte Nähe der Herrschaft Gottes wird in den Gleichnissen Jesu, die von zuvorkommender Vergebung und überfließendem Lohn handeln (Lk 6,32 38; 14,16 24; 15; Mt 20,1 16 u. a.), und in den Heilsindikativen der Seligpreisungen (Lk 6,20 23) reflektiert und in der expliziten (Mk 2,5; Lk 7,48) wie praktischen (Mk 2,15 17; Lk 7,36 50; 19,1 10; Joh 8,1 11) Sündenvergebung Jesu zugewendet. Die zuvorkommende und rettend nahe Gottesherrschaft wird für Jesus durch seinen Tod nicht infrage gestellt, sondern irreversibel begründet (Mk 14,22 25). II. 3. Gottes G. ist in der Korrespondenz des Paulus ein herausragender Leitbegriff seiner Theol. Die pln. Rechtfertigungslehre nicht aus Werken des Gesetzes sondern aus Glauben (Gal 2,16)
236 224 Gnade entfaltet die pln. Deutung der G. Gottes im Hinblick auf den glaubenden Menschen ( Rechtfertigung): Gottes Gnadenhandeln in der Bundesgeschichte mit Israel, das in der Todeshingabe seines Sohnes Christus Jesus gipfelt, ist der Grund der Rechtfertigung des Sünders und zugleich die Möglichkeitsbedingung, die rechtfertigende G. im Glauben zu ergreifen und ihr in einem neuen Lebenswandel im Geist zu entsprechen. In Röm 9 11 kommt Paulus betont auf das Zusammenspiel zwischen der souveränen Freiheit (Röm 9, ) und Barmherzigkeit (Röm 9,15f ) bzw. G. (Röm 11,5f.29) Gottes und seiner unbedingten Bundestreue, d. h. seiner aktiven Gerechtigkeit (Röm 11,1f.29) zu sprechen. Er rekurriert auf Ex 33,19 (Röm 9,15.18) und Jes 29,16; 45,9; Weish 12,12 (Röm 9,20) bzw. Jer 18,6 (Röm 9,21), um die freie Gnadenwahl Gottes herauszustellen. Der Universalität der menschlichen Schuld begegnet Gott aus freier Wahl mit seiner geschenkweise zugewendeten, ungeschuldeten und sich allein seiner Gerechtigkeit verdankenden G. (Röm 3,24f; 4,4; 6,23; 11,5f). Heilsgesch. konkret wird die Gnadentat Gottes im Sühnetod Jesu Christi (Röm 3,24f; 5,21; 1 Kor 15,3b-5; Gal 3,13; 2 Kor 5,21; Röm 8,3; Sühne). Die Übermacht der Sünde stellt die Fülle der G. ans Licht; sie zerstört nicht Gottes G., sondern richtet sie paradoxerweise in ihrer ganzen Fülle auf. Paulus besteht auf der kompromisslosen Geltung des sola fide, weil jede Relativierung des sola fide auch eine Infragestellung des sola gratia des Heilswirkens Gottes in Jesus Christus bedeutete, mithin der Sühnetod Jesu Christi ungenügend verstanden und der Mensch erneut auf seine eigene Gerechtigkeit verwiesen wäre. Nach Röm 6,1 14 (vgl. 1 Kor 1,13; 6,11; 10,2; 12,13; 15,29; Gal 3,27f) werden die gnadenhafte Befreiung der Glaubenden aus der Macht der Sünde und ihre Hineinnahme in den Herrschaftsbereich der G. in der Taufe manifest. In ihr wird der alte Mensch mitgekreuzigt (Röm 6,6) und geschenkweise zur Neuheit des Lebens (Röm 6,4) für Gott erweckt (vgl. Eph 2,10; 4,24; Kol 3,10). In ihr vollzieht sich ein Herrschaftswechsel aus dem Machtbereich der Sünde in den Machtbereich der G. (Röm 5,21; 6, ; Gal 5,4; 2 Kor 6,1f, vgl. Jes 49,8) bzw. der Liebe Gottes (Röm 5,5). Paulus entfaltet die in der Taufe zugesprochene Gabe Gottes (futurisch-eschatologisch: das ewige Leben in Christus Jesus; Röm 6,23) präsentisch-eschatologisch vornehmlich als Begabung mit dem Pneuma ( Geist), dem Inbegriff der G., die Gott dem Glaubenden in der Taufe erweist (Röm 5, ; 7,6; 8, ; Gal 5,13 26; 6,8f; 1 Kor 2,10 15; 3,16; 6,19; 2 Kor 1,22; 5,5). Eine genuin pln. Entfaltung der G. Gottes liegt in der Zuordnung von G. und Gnadengabe (x/risma; Röm 5,15f; 6,23; 11,29) (vgl. auch das analoge Begriffspaar: Geist/Geistesgabe). Der übergroßen G. Gottes, die Gott den Heiden erwiesen hat (2 Kor 4,15; 9,8), entspricht der Dank Gott gegenüber für sein unfassbares Geschenk (2 Kor 9,14f). Der überfließenden (Röm 8,20) G. korreliert auf Seiten des Menschen ein Überfließen in der Freude (2 Kor 8,2; vgl. 8,9; Phil 1,9.26), im Glauben, im Wort, in der Erkenntnis, in jedem Eifer, in der Liebe (2 Kor 8,7) und in der Hoffnung (Röm 15,13). In Übereinstimmung mit seiner Deutung der Rechtfertigung des Sünders führt Paulus seine eigene Erwählung zum Heidenapostel wie sein gesamtes apostolisches Wirken allein auf die göttliche G. zurück (Gal 1,15; 1 Kor 3,10; 15,10; 2 Kor 1,12; Röm 1,5; 15,15 19). Er bestimmt seine apostolische Sendung als die ihm bei seiner Berufung zuteil gewordene G. (1 Kor 15,10; 2 Kor 1,11 [x/- risma]; 12,9; Phil 1,7; Gal 2,9; vgl. Eph 3,2.7f). Die deuteropln. Briefe knüpfen an den pln. Sprachgebrauch an: Gott offenbart die Herrlichkeit seiner G. und schenkt sie uns gnädig in seinem geliebten Sohn (Eph 1,6). Dem überwältigenden Reichtum seiner G. (Eph 2,7) verdanken die Christen als Geschenk Gottes (Eph 2,8) den Loskauf durch sein Blut und die Vergebung der Verfehlungen (Eph 1,7). Diese Rettung durch Gnade (Eph 2,5) wird allein im Glauben, der sich selbst wiederum dem Wirken der G. verdankt, ergriffen (Eph 2,8f). Zur Darstellung und hymnischen Entfaltung dieses Gnadenerweises Gottes greift Eph die plerophorische (= glaubensgewisse) Redeweise des Paulus auf und führt sie im Sinne seiner kosmischen Christologie weiter aus. Eph 3,2 8 bezeichnet die Sendung des Paulus zu den Heiden als wirkmächtige Gnadengabe Gottes. II. 4. Lk bezieht x/riw auf Jesus (Lk 2,40.52), Ma-
237 Göttin Göttin 225 ria (Lk 1,28.30), die Urgemeinde in Jerusalem (Apg 4,33), Stephanus (Apg 6,8), Josua (Apg 7,46), Josef (Apg 7,10), die Heidenchristen (Apg 11,23; 13,43; 15,11) und auf das Wirken des Apollos (Apg 18,27). Die formelhaften Wendungen G. finden (Lk 1,30; Apg 7,46; vgl. Gen 6,8; 19,19; Ex 33,11 22; 2 Sam 15,25f) und die G. Gottes ruhte auf ihm (Lk 2,40; vgl. Jes 61,1) übernimmt er aus der LXX. Im lk. Zusammenhang charakterisieren sie Gottes erwählende Liebeszuwendung, seine dynamische Heilsgegenwart sowie die Berufung und Sendung der Begnadeten (Lk 2,40; Apg 4,33; 6,8; 14,3). Apg 14,3 und 20,32 steht Wort der G. synonym für das Ev. im Blick auf dessen Machtbereich (vgl. Apg 20,24; Lk 4,22). In seiner Rede vor dem Apostelkonvent in Jerusalem verteidigt Petrus das sola gratia der Rettung durch die G. des Herrn Jesus (Apg 15,11; vgl. 13,38f) mit dem Hinweis auf die Geistbegabung und den Glauben der Heiden (Apg 15,8f). II. 5. Bei Joh begegnet der terminus technicus G. ausschließlich im Prolog (Joh 1,14.16f); gleichwohl ist die joh. Soteriologie durchgehend von der die messianische Heilszeit heraufführenden Sendung Jesu, die auf die Fülle des Lebens zielt (Joh 10,10), bestimmt. Joh 1,14 bestimmt die Herrlichkeit des inkarnierten Logos durch die Apposition voll G. und Wahrheit (Joh 1,14; vgl. Ex 34,6). Nach Joh 1,16f schließt die Herrlichkeitsoffenbarung des Sohnes die Zuwendung und Anteilgabe an seiner Doxa und damit an seiner G. und Wahrheit ein. Zugespitzend kann Joh die Einheit von Christologie und Soteriologie so formulieren, dass es die eschatologische Heilsund Gnadengabe mit dem erhöhten und verherrlichten Jesus Christus selbst identifiziert (Joh 1,14.16f; 6,48; 11,25; 14,6; vgl. 1 Joh 1,2; 5,11). II. 6. In der Themenangabe des zweiten Hauptteils des Hebr (Hebr 4,14 10,31) fasst Hebr 4,16 die parakletische Intention der Hohepriesterchristologie des Hebr zusammen: Die Glaubenden sollen mit Freimut hinzutreten zum Thron der G.. Durch die G. Gottes (Hebr 2,9) ist der Sühnetod seines Sohnes zum Ursprung und bleibenden Fundament des neuen Bundes geworden. Die Adressaten werden ermahnt, das ewige Heil (Hebr 1,14; 5,9; 6,9) im Glauben zu ergreifen (Hebr 4,2f; 6,1; 10,39; 11), damit niemand abkomme von der G. Gottes (Hebr 12,15). II. 7. Der Verfasser des 1Petrstellt den in der Diaspora als Fremde (1 Petr 1,1.17) lebenden Christen Kleinasiens den Gott aller G. (1 Petr 5,10; vgl. 1,3.10; 2,10) und die in der Taufe bereits empfangenen Gnadengaben (1 Petr 4,10; vgl. 1,3.23; 2,2) als wahre G. Gottes (1 Petr 5,12), als zuverlässigen Grund und tragende Mitte des Ev. Gottes (1 Petr 4,17) vor Augen. Christen dürfen und sollen sich als gute Verwalter der vielfältigen G. Gottes (1 Petr 4,10) verstehen und bewähren. 1 2 Tim und Tit bestimmen das Ev. als Geschenk der G., die uns schon vor ewigen Zeiten zuteil wurde, jetzt aber durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus offenbar geworden ist (2 Tim 1,9f; vgl. 1 Tim 1,15; 3,16; Tit 1,3; 3,5; vgl. 1 Petr 1,20). Jesu sühnende Lebensdahingabe wird konsequent als Erscheinen der G. Gottes Rettung bringend allen Menschen (Tit 2,11; vgl. 3,4) interpretiert. Diese Offenbarung der G. Gottes in Christus Jesus führt zur Rechtfertigung vor Gott sola gratia (Tit 3,5.7), zur Geistbegabung (2 Tim 1,14; Tit 3,5f) und begründet die Erwartung der seligen Hoffnung und des Erscheinens der Herrlichkeit des gewaltigen Gottes und unseres Retters Christus Jesus (Tit 1,13). G. wird insbes. in 1 Tim 1,14 als endzeitliche Heilsmacht verstanden, die sich im Geschenk des Glaubens und der Liebe, die in Christus Jesus erschienen ist, konkretisiert. I. B. Janowski, Der barmherzige Richter, in: R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart 2000, 33 91; R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn, Freiburg u. a. 2002; H. Spieckermann, Barmherzig und gnädig ist der Herr, in: ders., Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2001, 3 19; G. Vanoni, Du bist doch unser Vater (Jes 63,16), Stuttgart II. N. Baumert, Zur Begriffsgeschichte von x/riw im griechischen Sprachraum: ThPh 65 (1990) ; M. Theobald, Die überströmende Gnade, Würzburg 1982; D. Zeller, Charis bei Philon und Paulus, Stuttgart Bernd Janowski (AT) / Klaus Scholtissek (NT) Göttin (G.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) I. AT: Seit der MB-Zeit IIB ( v. Chr) und in der SB-Zeit ( v. Chr.) sind in Palästina/Israel Darstellungen von G. archäolo-
238 226 gisch belegt, die die G. in segnender und in kriegerischer Haltung zeigen, wobei sie nackt auf einem Löwen oder Kriegspferd steht bzw. ohne dieses Postamenttier und in langem Gewand oder geflügelt dargestellt wird. Verbreitet war die G. vom Typ der Qudschu (Ägypten), Aschera (Ugarit) bzw. Astarte (Palästina), die zu den Naturgottheiten gehörte und die Fruchtbarkeit in der Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt zu schützen hatte. Daß sie auf einem Tier steht und Pflanzen oder Tiere in den Händen hält, weist sie als Beherrscherin, nicht als bloße Verkörperung der in der Natur wirksamen Mächte aus (H. Weippert). Während Darstellungen weiblicher Gottheiten in der E- Zeit I ( v. Chr.) fast völlig fehlen, wird der Prozess der Distanzierung von den Naturmächten in der E-Zeit IA IIC ( v. Chr.) fortgesetzt, wobei etwa die G. Aschera hinter ihrem Symbol (stilisierter Baum) zurücktritt. In der Siegelkunst fehlen denn auch Darstellungen von G. völlig, während die weiblichen Aspekte der göttlichen Sphäre mittels Ersatzsymbolen ( Segensikonen ) wie dem säugenden Muttertier oder dem Sakralbaum vermittelt werden. Dagegen erleben Terrakotten mit Darstellungen der G. (sog. Pfeilerfigurinen des 8. Jh. v. Chr.) eine neue Blüte, wobei der erotisch-sexuelle Aspekt gegenüber dem Versorgenden zurücktritt. Intensiv diskutiert wurde seit ihrer Erstpublikation die in althebr. Inschriften aus Kuntilet }Akrud (1. Hälfte des 8. Jh. v. Chr.) vorkommende Wendung Jhwh und seine Aschera, die die Integration von Jhwh-Rel. und kanaan. Tradition im königszeitlichen Juda belegt. Da es für die Annahme, dass sich {šrth seine (sc. Jhwhs) Aschera auf eine personal selbständige G. und damit Paredros Jhwhs bezieht, keine allseits überzeugenden Argumente gibt, bleibt als näherliegende Deutung der Bezug auf ein Kultobjekt, nämlich den stilisierten Baum als Symbol der G. Die Diskussion darüber, wie intensiv und vor allem welcher Art der Bezug dieses in der Nähe Jhwhs plazierten Kultsymbols zur G. (!) Aschera war, hat allerdings noch nicht zu einem Konsens geführt. Dass es Spuren von Göttinnenverehrung im vorexilischen Israel/Juda gab, ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn die entsprechenden Belege (bes. in Hos 1 5, Kult der Himmelskönigin Jer 7; 44, Astarte des Kleinviehs Dtn 7,13; Göttin 28, ) unterschiedlich gewichtet werden. Auch hinter der lit. Konturierung der Weisheitsgestalt von Spr 1 9 als Prinzip der göttlichen Schaffenskraft wurde eine Göttinnentraditon vermutet. Eher dürfte die personifizierte Weisheit von Spr 8 als mediatrix Dei zu verstehen sein, durch deren Erkenntnis der Mensch an der göttlichen Offenbarung partizipiert. Die breite Reflexion über sie in Ijob 28; Spr 8; Sir 24 u. a. und in frühjüd. Texten hat in hohem Maß die ntl. Christologie geprägt. II. NT: 1. Auch wenn im NT nur an einer Stelle das griech. Wort für G. ue/ (Apg 19,27 vgl. nach wenigen Handschriften auch Apg 19,37, wo die maskuline Form verwandt, aber Artemis gemeint ist) vorkommt und damit G. im NT keine bedeutende Rolle spielen, steht außer Frage, dass G. zur rel. Realität in der Umwelt Jesu und der frühen Christen gehörten. Sowohl in den hell. Poleis des Kernlandes als auch in den Städten der Küstenregion und im hell.-röm. Syrien und Kleinasien waren G. präsent. Dabei ist nicht nur an die Tychen, also die Schutz- und Stadtgöttinnen der hell. und später der röm. Städte ( Stadt), sondern auch an die großen G. wie Isis, Atargatis, Artemis, Aphrodite, Hera, Nike, Demeter, die bei Lukian so genannte dea syria von Hierapolis, Nemesis, Selene oder Athene zu denken. In außerbibl. Texten, Inschriften, Münzbeischriften oder ikonographischen Zeugnissen ist jedenfalls eine große Anzahl von G. aus der röm. Kaiserzeit belegt. Tempelbauten aus Palästina wie etwa der mehrgliedrige, große kaiserzeitliche Artemis-Tempel in Gerasa oder möglicherweise auch noch der hell. Isis-Tempel in Samaria-Sebaste zeugten von monumentaler Präsenz dieser im offiziellen Reichskult verehrten G. Allerdings sind wir über die tatsächliche Verbreitung und Rolle der hell.-röm. G. im Umfeld des frühen Christentums wenig informiert. Auch der Zusammenhang mit den vielfach identifizierten oder synkretistisch eingebundenen bzw. überführten, lokalen ao. G. wie Anat, Astarte, die kleinasiatische Kybele/Kubaba, die ass. Ištar oder die nabatäische G. Allat bleibt im Einzelnen unklar. Im NT treten die G. jedenfalls nicht in den Vordergrund. II. 2. So taucht etwa Aphrodite, die in Korinth große Verehrung genoss, im NT lediglich nur noch in den beiden (außerbibl. recht häufigen)
239 Göttin 227 theophoren Personennamen der Mitarbeiter des Paulus auf. Epaphras (Phlm 23; Kol 1,7; 4,12) wird als Mitgefangener des Paulus (wahrscheinlich in Ephesus) genannt. Der Name ist eine Kurzform von Epaphroditus (Phil 2,25; 4,18) zu Aphrodite gehörig oder von Aphrodite, einem (wahrscheinlich nicht identischen, sondern weiteren) Mitarbeiter des Paulus und Gesandten der Gemeinde in Philippi. Lediglich Artemis, die G. der Fruchtbarkeit und in der klassischen griech. Mythologie auch G. der Jagd, die noch in dem Personennamen des Artemas (Kurzform von Artemidos Geschenk der Artemis ), einem Boten des Paulus an Titus (Tit 3,12), Spuren im NT hinterlassen hat, ist namentlich erwähnt. Die pln. Mission in Ephesus geriet nach Apg 19,23 40 in Person des Anführers der Gilde der Silberschmiede Demetrius in Konflikt mit den dortigen Devotionalienhändlern. Diese beklagen Umsatzeinbußen aufgrund der bildlosen und hinsichtlich des Bilderkultes polemischen christl. Mission. Konkret angesprochen werden miniaturisierte Heiligtümer, die als Abbild des Artemisions in Silber angefertigt und verkauft wurden. Derartige Objekte sind bisher nur in Terrakotta nachgewiesen, möglicherweise sind silberne Votivschreine des Abbildes der ephesianischen Artemis gemeint. Das mit m monumental dimensionierte Heiligtum der G. galt als siebtes Weltwunder und beherbergte im Zentrum ein bes. Kultbild, das als vom Himmel gefallen verehrt und ebenfalls vielfach für den Handel als Ikone oder Votiv repliziert wurde. Die Artemis war mit einer Krone und einem metallenen Schurz (Ependytes) ausgestattet und am Rumpf mit beutelartigen Objekten behängt, die nicht als Brüste, sondern als Stierhoden identifiziert werden. Diese, wahrscheinlich aus dem Opferkult der G. gewonnenen, gegerbten Hoden, die später als Brüste interpretiert wurden, weisen als Symbole kraftvoller Fruchtbarkeit ebenso wie die zugeordneten Jagdtiere, die Löwen oder die Hirschkuh und Palme, die Symbole der ephesianischen Artemis, auf die Vitalität und das fruchtbare Wirken der G. Zwar ist die in der Apg gespiegelte Kritik dramatisch stilisiert (vgl. das in der steten Wiederholung als tumb charakterisierte Bekenntnis der Verehrer zur Größe der G. Apg 19,28.34 sowie die überbietende Heilkraft des in der Gestalt des Paulus einfach vertretenen Christus gegenüber dem etablierten Equipment der Artemis) und an der atl. Götzenbildpolemik orientiert (Apg 19,26), doch ist der Zwischenfall deswegen nicht unbedingt als unhist. zu bewerten. Deutlich ist ein Lokalkolorit zu erkennen, das in vielen Teilen mit ephesianischen Inschriften übereinstimmt (evtl. ist dort sogar der Protagonist Demetrius erwähnt). Dass in der Apg gerade der Artemiskult wegen seiner internationalen Bedeutung und Anziehungskraft in Opposition zu dem christl. Anspruch gesehen wird, dürfte ebenfalls den tatsächlichen Umständen entsprochen haben. Ob allerdings Paulus schon immer Kontrahent in dem Zwischenfall war, ist in der Exegese ebenso umstritten wie der missionarische und apologetische Anteil der Episode. II. 3. Neben Artemis wird in Apg 28,4 noch die griech. G. Dike (d2kh) als Personifikation der Gerechtigkeit und G. der Vergeltung erwähnt. Die Bewohner von Malta, von Lk als unkultivierte Nichtgriechen (b/rbaroi) bezeichnet, interpretieren einen Schlangenbiss als von der G. verursachtes Zeichen, mit der eine an Paulus haftende Blutschuld gesühnt werden soll. Neben diesen spärlichen direkten und indirekten Zeugnissen für G. und ihre Verehrung im NT wurden insbes. von Seiten der feministischen Theol. Bezüge zwischen ntl. Motiven und den vorderorientalischen Göttinnentraditionen neu in die Diskussion eingebracht. So wird z. B. darauf verwiesen, dass die bei der Taufe Jesu in allen vier Evv. erwähnte Taube (Mk 1,10, Lk 3,22; Mt 3,16; Joh 1,32) motivgesch. in den Zusammenhang des Göttinnenkultes gehört, wo die Taube Symboltier der G. sein kann. Bedeutender ist, dass in den Evv. und den frühen Christushymnen (Phil 2,6 11; Kol 1,15 20; Joh 1,1 14 u. a.) bezeugte Weisheitschristologie, die Jesus als die Sophia Gottes preist (1 Kor 1,24), Verbindungen zu den nachexil. und frühjüd. Weisheitsspekulationen aufweist, in denen die personifizierte Weisheit als Substitut an die Stelle der im Monotheismus verdrängten G. getreten ist. Auch die Schöpfungsmittlerschaft des Erstgeborenen der ganzen Schöpfung (Kol 1,15f) steht in Verbindung mit der Schöpfungsmittlerschaft der Weisheit in Spr 8, Darin sind ntl. Spuren einer Traditions- und Motivgesch. der ao. G. zu
240 Götze 228 erkennen, deren Valenz für eine syst. Christologie weiterer Diskussion bedürfen. I. I. Cornelius, The Many Faces of the Goddess, Fribourg u. a. 2004; C. Frevel, Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs, Weinheim 1995; O. Keel/C. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole, Freiburg u. a ; H. Weippert, Palästina in vorhellenistischer Zeit, München II. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums 1, Stuttgart 1995; P. Lampe, Acta 19 im Spiegel der ephesischen Inschriften: BZ 36 (1992) 59 76; S. Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, Mainz 1996; T. Staubli, Werbung für die Götter, Fribourg Bernd Janowski (AT) / Christian Frevel (NT) Götze (G.) ( Dachartikel: Gottesvorstellungen) I. AT: 1. Die Auseinandersetzung mit fremden Göttern, den sog. G., wird vom AT vornehmlich als Polemik gegen deren Kultbilder geführt (Jes 40,18 20; 41,6f, Jer 10,1 16 u. a., vgl. 1 Sam 5: Dagon von Aschkelon; 2 Sam 12,30: Milkom von Ammon, Jes 46; Jer 50,2; 51,44: Bel/Marduk u. a.). Dabei stehen ihre Materialität (Edelmetall: Gold und Silber; Holz: Bergtanne, Steineiche, Zeder u. a.) und der Herstellungsprozess (Hämmern, Schnitzen u. a.) im Vordergrund der Kritik, während der Aspekt einer göttlichen Beauftragung und Legitimierung, wie sie bes. aus mesopotamischen Kultbildtexten bekannt sind, bewusst ausgeklammert wird, um die Götzenbilder als selbstgemachtes Werk eurer Hände (Dtn 31,29; Jes 2,8; Hos 14,4 u. a.) bzw. als Werk von Menschenhand (2 Kön 19,8 u. a.) zu brandmarken und so theol. zu entwerten. Die Terminologie für Fremdgötterbilder, die von technisch-handwerklichen Bezeichnungen wie pœsœl Kultbild u. a. bis zu ablehnend-pejorativen Ausdrücken wie { œ lilim Nichtse, gillulim Scheißdinger, } a rabbim Gebilde, šiqqurim Scheusale u. a. reicht, spiegelt die intensive Auseinandersetzung mit dem Kultbild im Rahmen des vorexil.-nachexil. Jhwh-Glaubens und speziell des (späten) Bilderverbots wider: Die Anfertigung von selbst gemachten Götzenbildern bedeutet eine Ablehnung Jhwhs (Hos, vgl. Jer 7,30; 8,19; 32,34 u. a.); da sie nicht retten können, sollen sie weggeworfen werden (Jes 2,20; 30,22; 31,7 u. a.). Götze I. 2. In profilierter Weise findet sich die Polemik gegen Kult- und Götterbilder in der sog. Götzenbilderschicht des DtJes-Buchs (Jes 40,18 20; 41,5f; 44,9 20; 46,5 8 u. a.). Als Interpretament des Monotheismusgedankens formuliert die deuterojesajanische Fremdgötterpolemik die scharfe Differenz zwischen dem eigenen Schöpfungsglauben und dem fremden Götzenkult und forciert damit die Ablösung des Jhwh-Glaubens von der Kultbildtheol. seiner altorientalischen Umwelt. Die Ausstrahlungskraft dieses gleichsam aufklärerischen Religionsprogramms wirkte über das Frühjudentum und das Urchristentum bis in die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte, allerdings nicht ohne seinerseits wieder merkwürdige Blüten und schrille Nebentöne z. B. bei A. Kircher ( ) hervorzurufen. II. NT: 1. In der LXX steht ezdvlon (urspr. Gestalt, Bild, bei Plato auch Schatten-/Trugbild ) für eine (heidnische) Gottheit bzw. ein Götterbild. Das NT übernimmt diesen Sprachgebrauch der LXX (vgl. ezdvlon als G.[-bild] in Apg 7,41; 15,20; Röm 2,22; Offb 9,20 u. a.). Analog kann auch exk5n (im Griech. für Abbild, Statue, Gleichnis, Manifestation ; vgl. Hdt. 2,130,4; Plat. leg. 11,931a) in der LXX für von Menschenhand gemachte Götterbilder verwendet werden (vgl. LXX Dtn 4,16; 2 Kön 11,18; 2 Chr 33,7; Dan 2f). Im NT findet exk5n Verwendung als Münzbild des Kaisers (Mk 12,16par.), das im Kontext des verwerflichen Kaiserkultes wahrgenommen wird (vgl. das Bild des Tieres, vor dem die Menschen zur Proskynese gezwungen werden, in Offb 13,14f; 14,9.11; vgl. die Nähe zu Dan 3), und als Gestalt bzw. Götzenbild eines vergänglichen Menschen, mit der die Götzendiener die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschen (Röm 1,23; vgl. LXX Ps 105,20). Nach Paulus gründen alle menschlichen Sünden in der Vertauschung von Gott und zu G. erhobener irdischer Wirklichkeit (Röm 1,18 32). II. 2. Vor dem Hintergrund des atl.-jüd. Bilderund Fremdgötterverbotes ( Bild; Bilderverbot) bzw. dem 1. Gebot des Dekalogs knüpft das NT an die jüd.-hell. Götzenpolemik an: Paulus unterscheidet scharf zwischen christl. Gottesverehrung und heidnischem Götzendienst (exdvlolatr2a; 1 Kor 5,10f u. a., vgl. 1 Thess 1,9). In
241 Gottesbilder Gottesbilder 229 seinen differenzierten Ausführungen in 1 Kor 8 und 10 weist er einerseits die Existenz anderer Götter als des einen Gottes zurück (1 Kor 8,4 6); andererseits weiß er um die Macht der toten G. und Götter bei denen, die ein schwaches Gewissen haben. Die Teilnahme an heidnischen Kultfeiern, in denen Götzenopferfleisch verzehrt wird, schließt Paulus als unvereinbar mit der Gemeinschaft mit dem Kyrios im Herrenmahl kategorisch aus (1 Kor 10,14 22). Der Blasphemievorwurf gegenüber Jesus seitens der jüd. Autoritäten (blasfhm2a; Mk 2,7; 3,28;